Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Februar 2019)

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Vergebung ermöglicht trotz des empirisch unvermeidbaren Scheiterns von Handlungen und eines unhintergehbaren (über)individuellen Schuldzusammenhangs kontinuierlich menschliche Gemeinschaft. Als Beziehungsbegriff (siehe 1.) betrifft Vergebung alle grundlegenden Relationen menschlichen Lebens: das Selbstverhältnis (Selbstannahme, Identität), das interpersonale Verhältnis (Anerkennung) sowie die Ebene des politisch-gesellschaftlichen Zusammenlebens. Vergebung der Sünden (→ Sünde/Schuld) gilt als Mitte des christlichen Heilsgeschehens und zentraler Inhalt glaubenden Selbstverständnisses (siehe 2.). Durch die Aufarbeitung politisch-historischer Schulderfahrungen insbesondere des 20. Jahrhunderts ist die Sensibilität für die Notwendigkeit von Vergebung, wie medial inszenierte, „öffentliche Verzeihungsrituale“ (Kodalle, 2013, 225) zeigen, gewachsen. Ein aktuelles Beispiel aus dem kirchlichen Bereich bietet die zum Reformationsjubiläum von EKD und DBK veröffentliche Erklärung über die gemeinsame Schuld in den Auseinandersetzungen von Reformation und Konfessionalisierung (EKD/DBK, 2016). Die gesellschaftliche Konjunktur von Vergebung zeigt sich auch in einer expandierenden empirisch-psychologischen Forgiveness-Forschung, flankiert durch eine Fülle von Praxisanleitungen und Ratgeberliteratur zur therapeutischen Bedeutung von Vergebung (Boothe, 2014, 1f.).

Kinder und Jugendliche sind mit Vergebung in ihren Lebensbeziehungen vorwiegend im Alltagsmodus des Entschuldigens vertraut. Insofern der konstruktive, identitätsfördernde Umgang mit Schuld(erfahrungen) eine wichtige Entwicklungsaufgabe für Kinder und Jugendliche darstellt, ist die subjektorientierte Vermittlung des lebensdienlichen Potenzials christlich verstandener Vergebung im Horizont von Sündenvergebung eine grundlegende Herausforderung des Religionsunterrichts (siehe 3.).

1. Begriffliche Klärungen

Zwischenmenschliche Vergebung bezieht sich auf Schuld (Scheiber, 2006, 225-229), das heißt auf eine verantwortlich zurechenbare moralische Verletzung im Verhältnis von Personen. Als Prozess der Wiederherstellung symmetrischer moralischer Beziehung schließt Vergebung eine Reihe wechselseitiger Vollzüge von Anerkennung ein (Scheiber, 2006, 219-265): die Anerkennung der moralischen Verletzung (Betroffenheit, Übelnehmen bzw. Reue), die Bereitschaft zur Wiederherstellung der moralischen Beziehung im Sinne wechselseitiger Anerkennung der moralischen Integrität (Vergebungsbereitschaft bzw. Vergebungsbitte) und schließlich die Gewährung bzw. Annahme der Vergebung. Vergebung beruht somit zentral auf der Unterscheidung der Person von ihrem empirisch konkreten So-Sein in der schuldhaften Tat, welche der schuldig gewordenen Person nur durch die vergebende Person als neue Lebensmöglichkeit zugesprochen werden kann. Dieser Moment der Stellvertretung gilt auch für die vergebende Person selbst, die sich durch Vollzug und Annahme der Vergebung in ihrer Integrität als moralische Person anerkannt und von ihrer Opferrolle entbunden sieht.

Als subjektbezogener, personal konstitutiver Vollzug unterscheidet sich Vergebung grundlegend (Scheiber, 2006, 266-272) von der Entschuldigung, welche eine Handlung durch Entschuldigungsgründe gerade als außerhalb der moralischen Beziehung liegend ent-schulden möchte. Auch dem auf Reue verzichtenden duldenden Verzeihen („Schwamm drüber!“) fehlt die (inter)personale Tiefendimension der Vergebung. → Versöhnung hingegen ist wie Vergebung durch gegenseitige moralische Anerkennung bestimmt, wobei eine eindeutige Schuldzuweisung auch offenbleiben kann, das heißt Vergebung führt zur Versöhnung, Versöhnung kann aber auch ohne explizite Vergebung zustande kommen.

Sünde bezeichnet diejenige machtvolle Grundverfassung menschlicher Existenz (Röm 5, 12-21; 7, 7-25) und die damit verbundenen verantwortlichen Handlungen, welche zur Verletzung und Verfehlung der Gottesbeziehung führen. Als Sünder bleibt der Mensch in der Ambivalenz und unhintergehbaren Selbstbezüglichkeit seines Daseins, erfahren als Sinnleere und Verhältnislosigkeit, verstrickt. Sündenvergebung meint folglich die dem Menschen nicht von sich aus erschwingliche, sondern durch Gott selbst zugesprochene Wiederherstellung seiner Gottesbeziehung, in welcher negative (Sündenbewusstsein, Reue, Buße) und positive Selbsterkenntnis (Gnadenbewusstsein, Anerkennung, Rechtfertigung) vermittelt sind. Dieses in sich differenzierte, erfüllte Selbstverhältnis im Gottesverhältnis ist die unableitbare Entstehung des Glaubens (→ Glaube) (Danz, 2013, 214-220) als die in Jesus Christus (Stellvertretung) eröffnete, neue Möglichkeit der eigenen Existenz in der Einheit von Gottes-, Selbst- und Weltgewissheit; Sünde erschließt sich so in ihrem Tiefensinn als Unglaube. Damit sind grundlegende Berührungspunkte, aber auch zentrale Unterschiede zwischen Sündenvergebung und zwischenmenschlicher Vergebung festgehalten, insbesondere die strikte Asymmetrie zwischen Gott und Mensch sowie die kategoriale Unterscheidung zwischen Schuld und Sünde.

2. Theologische Zugänge

2.1. Biblische Grundlagen

2.1.1. Altes Testament

Gegenüber Jahwes alleiniger Vergebungszuständigkeit (Ps 130,3) ist zwischenmenschliche Vergebung kaum belegt (Scheiber, 2006, 16). Jahwes Vergebung ist grundsätzlich unverdient (Hos 11,9; Gen 8,21), aus hermeneutischen Gründen (theologische Exilsdeutung) jedoch auch durch Umkehrforderungen konditionalisiert (Am 4,6-13; Jer 18,18 und öfter). Schwerpunktmäßig exilisch-nachexilisch belegt ist die explizite Vergebungsbegrifflichkeit (salach; Scheiber, 2006, 17f.;20f.) ebenso wie die Vorstellung einer als Heilshandeln Jahwes verstandenen, kultisch vermittelten Sündenvergebung im Sinne inklusiv stellvertretender Sühne (Gese, 1977; Janowski, 2002), exemplarisch im Ritual des großen Versöhnungstages (Lev 16).

2.1.2. Neues Testament: Die Proexistenz Jesu

Außerhalb der expliziten, nicht-paulinischen Vergebungsbegrifflichkeit (aphesis – Erlass, Verzicht, Freilassung) ist Vergebung der Sache nach auch durch andere semantische Felder (z.B. charizomai – gnadenvolles Schenken; Metzner, 2004, 1879) repräsentiert (Frankemölle, 2006, 671). Aus der Parallelisierung mit (→ Erlösung) Erlösung (Kol 1,14) und Versöhnung (Röm 5,11; 2Kor 5,18-21) ist deutlich, dass Sündenvergebung in der Perspektive personaler Beziehung das ganze Heilsgeschehen bezeichnet (Scheiber, 2006, 72f.).

Als Kernthema des Lebens, Handelns und der Verkündigung Jesu in seiner Pro-Existenz wird Jesu direkter Zuspruch von Sündenvergebung (Mk 2,1-12; Lk 7,36-50) ebenso auf Gottes Wirken (Vollmacht/Mt 9,6; Lk 5,17 und Geistbegabung Jesu/Joh 1,32) zurückgeführt wie die Umkehr (metanoia) des Menschen als personal-ganzheitlicher Vollzug der Vergebung (Scheiber, 2006, 58-65). Bedingungslos gewährte Sündenvergebung begegnet in Jesu Gleichnissen (Mt 18,23-35; Lk 7,41-43; 15,11-32; 18,9-14), im Vaterunser (Mt 6,12;14f.) und in Mahnworten (Mk 11,25). Die Vielzahl metaphorischer Antithesen (Scheiber, 2006, 49-51: Krankheit und Heilung/Lk 5,17-26; Ausgestoßensein und Integration,Tischgemeinschaft/Lk 7,36-50; 14, 15-24; Verlorensein und Gefundenwerden/Lk 15; Schulden und Schuldenerlass bzw. Gefangensein und Freiwerden/Mt 18, 21-35) sichert mit der Differenz von Bild und Sache letztlich die Unanschaulichkeit des Heilsgeschehens und bewahrt seinen dynamischen Charakter.

Mit dem Tod Jesu verbinden Paulus (Röm 3,25f.; 2Kor 5,19) und die paulinische Tradition (Kol 1,14; Eph 1,7; Tit 1,4; auch Hebr 9,28) die Sündenvergebung, die in der Taufe zugesprochen (Röm 6,1-14) und im Abendmahl (Mt 26,28) vergegenwärtigt wird. In der Überzeugung, dass Jesus „für unsere Sünden“ (1Kor 15,3; Röm 4,25; 5,8-10; Gal 1,4; 1Petr 1,18f.) bzw. „für uns (alle)“ (1Thess 5,10; Röm 8,32; 2Kor 5,14), zusammengefasst „für uns Sünder“ (Röm 5,8), gestorben ist, kommt das Verständnis des Kreuzestodes Jesu (→ Heilstod Jesu) als ein im Horizont seiner Auferstehung erschlossenes, eschatologisches Heilsereignis zum Ausdruck: Die allein von Gott bewirkte Versöhnung mit dem Menschen in und durch Jesus Christus (2Kor 5,18-21) besteht zentral in der Vergebung als „Nicht-Zurechnung der Sünden“ (V19) und so in der Eröffnung eines neuen, unverstellten Gottesverhältnisses, das in seiner Unverbrüchlichkeit (Röm 8,38f.) in der von Jesus erlittenen Todesangst (Gethsemane) und Gottverlassenheit (Golgatha) im Horizont seiner Auferstehung als bleibende Gottesgemeinschaft aus Gnade und Barmherzigkeit Gottes anschaulich wird. Das „Wort der Versöhnung“ (V19), das heißt die Verkündigung der sündenvergebenden Kraft von Tod und Auferstehung Jesu, zielt auf die im Glauben geschenkte, existenzielle Identifikation des Menschen mit dem Geschick Jesu (inklusive Stellvertretung bzw. Existenzvertretung) als symbolisches Mitsterben (Röm 6,6-11) und schöpferisches Neuwerden der Person (2Kor 5,17;21) im Sinne eines erfüllten Selbstverhältnisses im Gottesverhältnis (siehe 1.). Damit verbindet sich die pneumatologisch (Röm 8,1-18) ermöglichte und durch Liebe in der Nachfolge Jesu realisierte christliche Vergebungspraxis (siehe 2.2.3) ebenso wie die durch Vollmachtsübertragung Jesu (Mt 10,1;7f.; 18,15-18; Joh 20,23) konstitutierte innergemeindliche Sündenvergebung (siehe 2.2.2.).

2.2. Systematisch-theologische Zugänge

Durch die theologiegeschichtliche Fokussierung der Vergebungsthematik auf Passion und Kreuzestod Christi (Askani, 2002, 678f.; Hack, 2018, 14f.;36-39) trat die zwischenmenschliche Vergebung in der ethischen wie pastoraltheologischen Theoriebildung beider Konfessionen in den Hintergrund (Müller-Fahrenholz, 1996, 26f.; Bormann, 2014, 221-223). Die im philosophischen Diskurs (siehe 2.2.1.) entfaltete Phänomenologie zwischenmenschlicher Vergebung ist sowohl für die systematisch-theologische Diskussion (siehe 2.2.2. und 2.2.3.) als auch für die religionspädagogische Erschließung (siehe 3.) von Relevanz.

2.2.1. Zur philosophischen Aktualität von Vergebung

Die philosophiegeschichtliche Marginalisierung und Problematisierung der Vergebungsthematik (Bossmeyer/Trappe, 2001, 1020-1025) änderte sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts mit der notwendigen Aufarbeitung der historisch-politischen Schuld zweier Weltkriege, insbesondere der Verbrechen des Holocaust; damit verlagerte sich die Thematik zugleich vom religiös-theologischen in den öffentlichen Raum. Hannah Arendt profilierte das Verzeihen als politisch-ethischen Grundbegriff (Arendt, 1960, 231-243) mit den wesentlichen, auch die weitere Diskussion bestimmenden Begriffsmerkmalen (siehe 1.). In der Tradition des angelsächsischen, sprachanalytisch und gefühlstheoretisch geprägten Forgiveness-Diskurs (Kodalle, 2013, 20-22) plädiert gegenwärtig Martha Nussbaum unter Kritik religiös ritualisierter Vergebung für eine Haltung bedingungsloser Liebe und Großzügigkeit (Nussbaum, 2017, 23-27;87-114). Der französische Vergebungsdiskurs (Kodalle, 2013, 43-78) hebt hingegen auf die Unbedingtheitsdimension (Vladimir Jankelevitch), das Paradox (Emmanuel Levinas) und den Ausnahmecharakter (Paul Ricoeur) von Vergebungsakten ab, in denen sich die dialektische Gabe-Struktur des Daseins spiegele. Jacques Derridas Überlegungen (Frettlöh, 2004, 199-203) zum eigentlich Unvergebbaren als dem Gegenstand von Vergebung als der unverfügbaren, „unmöglichen Möglichkeit“, als „Einbruch“ einer „Gabe von oben“, als dem „Messianischen“ (Derrida/Wieviorka, 2000, 14;18; Link-Wieczorek, 2016, 332) sind wie der interdisziplinäre Gabe-Diskurs (Hoffmann/Link-Wieczorek/Mandry, 2016) in hohem Maße theologisch erhellend und anschlussfähig. Dies gilt auch für Klaus-Michael Kodalles interdisziplinäre Philosophie der Verzeihung als „Mitte des Ethos“ (Kodalle, 2013, 10).

2.2.2. Dogmatische Aspekte: Sündenvergebung

Sündenvergebung ist als Mitte des reformatorischen Bekenntnisses zentral in der lutherischen Rechtfertigungslehre formuliert, deren Exklusivpartikel (Sola-Formeln) das Rechtfertigungs- als Vergebungsgeschehen (Jüngel, 1999, 126-220) in konfessionsspezifischer Akzentuierung als einen personal, gleichwohl vollständig passiv (mere passive) erfahrenen Vorgang bestimmen. Die alle Vergebungsvollzüge (siehe 1.) auszeichnende Unterscheidung von Person und Tat wird hier als doppelte Unterscheidung des Sünders (peccator) von seiner Sünde und des Gerechtfertigen (iustus) von seinem guten Handeln gewiss, insofern allein das im Glauben unvertretbar realisierte Gottesverhältnis, so Luther, die Person konstituiert. In der damit verbundenen dialektischen Sicht des Menschen als zugleich empirischem Sünder (simul peccator) und glaubend Gerechtfertigtem (simul iustus) artikuliert sich seine bleibend fundamentale Vergebungsbedürftigkeit im Horizont endlicher, sich gegebener Freiheit. Kritische Rückfragen aus katholischer Sicht betreffen die Mitwirkung des Menschen im Rechtfertigungsprozess, den Zusammenhang von göttlicher und menschlicher Vergebung und die Egalisierung von Opfer und Täter (Menke, 2009, 60).

Vor diesem Hintergrund ist die konfessionelle Akzentsetzung der dogmatischen Bezüge der Vergebungsthematik, auch in der religionsunterrichtlichen Behandlung (siehe 3.), zu berücksichtigen; so im Blick auf das Sündenverständnis (totalisierend bzw. partiell), die unterschiedliche Sicht der Kirche (exklusiver oder exemplarischer Raum der Vergebung), der Sakramente wie der Eschatologie (Allversöhnung oder „doppelter Ausgang“ des Gerichts/Mt 25, 31-46).

2.2.3. Ethische Aspekte: Zwischenmenschliche Vergebung

Mit dem Imperativ steter Vergebungsbereitschaft (Mt 18,21f.; Lk 17,3f.) hat das Christentum im antiken Umfeld interpersonale Vergebung als moralische Grundhaltung und Modus friedlicher Konfliktlösung befördert und durch ihre Rückbindung an den Indikativ göttlicher Sündenvergebung als differenzierten Umgang mit Schuld im Horizont des Sündenbewusstseins profiliert. Zwischenmenschliche Vergebung ist grundsätzlich als „ermöglichte Vergebung“ (Hack, 2018) zu verstehen im Sinne eines responsiven Aktes der Nächstenliebe im anbrechenden Reich Gottes (Eph 4,32; Kol 3,13; Mt 18, 23-35: Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner).

Im Blick auf die unterschiedlich interpretierte (Hack, 2018, 206-224;295-305) Verschränkung von göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung (Vaterunser: Mt 6,12;14f.; Lk 11,4) kann unterschieden (Link-Wieczorek, 2016, 338-341) werden: 1. Vergebung als „reine Gabe“ (Protestantismus) mit zwischenmenschlicher Vergebung als der Rechtfertigung folgendes, nicht-verdienstliches Handeln im Sinne eines vergewissernden „Wahrzeichens“ (Luther, 1529, 685) und 2. Vergebung als (Link-Wieczorek, 2016, 339) „anökonomischer Gabe-Tausch“ (Katholizismus) mit zwischenmenschlicher Vergebung als notwendiger Rück-Gabe bis hin zur Bindung der Vergebung Gottes an den unvertretbaren Vergebungsvollzug durch die Opfer selbst (Ansorge, 2009; dazu Springhart, 2016, 114-116).

Die ethische Reflexion interpersonaler Vergebung hat im Blick auf deren zentrale Begriffsmomente (siehe 1.) auch die Schwierigkeiten und Grenzen von Vergebung zu bedenken (Kodalle, 2013, 14-26; Hack 2018, 357-382): die empirische Ungewissheit bezüglich der Aufrichtigkeit von Reue, Vergebungsbitte und gewährter Vergebung; die Unhintergehbarkeit der Opferperspektive; die Intensität der involvierten Gefühle (Zorn, Rache, Ohnmacht, Scham, Selbstüberwindung etc.); die Unterscheidung von Person und Verletzung bzw. Tat; der prozessuale Charakter von Vergebung sowie die Freiheit und Ungeschuldetheit des Vergebungsaktes inklusive der Freiheit zum Nichtvergeben. Dieser außerordentlich prekäre Charakter zwischenmenschlicher Vergebungsvollzüge verweist auf ein „vorlaufendes Verzeihen“ (Kodalle, 2013, 16), auf eine Kraft des Vergebens aus dem Zutrauen in sein Gelingen, theologisch gesprochen: auf die Erfahrung der vergebenden Zuwendung Gottes, welche zwischenmenschliche Vergebung im eschatologischen Vollendungshorizont gleichermaßen motiviert wie entlastet und so grundlegend ermöglicht.

3. Religionspädagogische Perspektiven

3.1. Herausforderungen

Schwierigkeiten der religionspädagogischen Erschließung liegen in dem aufgezeigten, prekären Charakter von interpersonalen Vergebungsvollzügen (siehe 2.2.1 und 2.2.3) und deren vielfältiger, alltagsethischer Verwässerung, verstärkt durch die gegenläufigen Bewegungen einer Entpersonalisierung bzw. Trivialisierung von Schuld einerseits und ihrer Dramatisierung andererseits. Beide Tendenzen lassen sich im Plausibilitätsverlust des christlichen Sündenbegriffs und in einem entsprechenden Relevanzverlust der traditionellen Rede vom gnädigen Gott aufweisen (Lütze, 2015, 67f.). Mit der Vergebungsthematik steht daher die existenzielle Plausibilität und Relevanz eines christlichen Selbstverständnisses unter säkularen Bedingungen zur Diskussion. Kinder- und Jugendtheologie (→ Kindertheologie; → Jugendtheologie) als Theologie von Kindern/Jugendlichen (siehe 3.2. und 3.3) und mit Kindern/Jugendlichen (siehe 3.4.) bedarf daher auch einer differenzierten Theologie für Kinder/Jugendliche (siehe 2. mit 3.).

3.2. Entwicklungspsychologische Aspekte

Ein stabiles, beziehungs- und konfliktfähiges Selbstwertgefühl, wie es aus der frühkindlichen Erfahrung „gesicherter“ Bindung, bedingungsloser Wertschätzung und einer harmonischen, Freiheit und kritische Auseinandersetzung ermöglichenden Sozialisation entsteht (Kohler-Spiegel, 2013, 24-26; Hobmair, 2013, 311-313;323-325) sowie die Schuldempfinden ermöglichende Gewissensbildung (→ Gewissen und Gewissensbildung) (Kohler-Spiegel, 2013, 27f.) sind wichtige entwicklungspsychologische Grundlagen von Vergebung. Die Ergebnisse der Bindungsforschung werden von Gennerich in seiner empirischen Dogmatik des Jugendalters dahingehend bestätigt, dass erfahrene Zuwendung und Angenommen-Sein mit „Selbst-Transzendenzwerten“, das heißt mit Achtung der Person und prosozialem Verhalten (Vergebungsbereitschaft), korrelieren (Gennerich, 2010, 189-193;294-298).

In der Logik der strukturell-kognitiven Theorien religiöser Entwicklung (Entwicklungspsychologie) kann die Phase der mittleren und späten Kindheit (Primarstufe) dem „mythisch-wörtlichen Glauben“ (Fowler, Stufe 2) mit einer heteronom (Deus ex machina) bzw. durch Tauschlogik (do ut des) geprägten religiösen Urteilsbildung (Oser/Gmünder, Stufe 1 und 2) auf der allgemeinen Ebene des anschauungsbestimmten, konkret-operationalen Denkens (Piaget) zugeordnet werden (Schweitzer, 2010, 142f.;125;110). Das Jugendalter hingegen ist dem „synthetisch-konventionellen“ und dem „individuierend-reflektierenden Glauben“ (Fowler, Stufe 3 und 4) mit einer zunehmend an Autonomie orientierten religiösen Urteilsbildung (Oser/Gmünder, Stufe 3 und 4) auf der Ebene des formal-operationalen Denkens (Piaget) und einer damit verbundenen, den → Perspektivenwechsel grundlegend ermöglichenden, „hypothetisch-deduktiven Haltung“ der Welt gegenüber (Schlag/Schweitzer, 2011, 29) zuzuweisen. Vor diesem Hintergrund kann begründet vermutet werden, dass für Kinder aufgrund der stark heteronomen Bestimmtheit ihrer Lebensführung und der alltäglichen Erfahrung der Stellvertretung durch andere die Kontingenz- und Passivitätsmomente von Vergebung und die mythisch-metaphorische Begrifflichkeit biblisch-theologischer Rede darüber (siehe 1. und 2.1.) unproblematischer zugänglich sind als für Jugendliche, deren Autonomiestreben dazu eher in einer kritischen Spannung steht.

3.3. Empirische Befunde

Die vorliegenden Studien zum soteriologischen Verständnis des Todes Jesu bei Kindern und Jugendlichen (Überblicke bei Zimmermann, 2012a, 239-248;323-398; Pemsel-Maier, 2016, 146-148) zeigen, dass bereits Grundschülerinnen und Grundschüler zu tiefergehenden soteriologischen Deutungen, vor allem im Sinne des lebensweltlich verbürgten Stellvertretungsgedankens in der Lage sind (Pirner, 2008); insbesondere für zehn- bis zwölf-Jährige konnte eine signifikante Verknüpfung von Stellvertretung und Sündenvergebung nachgewiesen werden (Zimmermann, 2012a, 373f.). Demgegenüber konvergieren nahezu alle das Jugendalter betreffende Studien darin, dass Jugendliche den soteriologischen Deutungen des Kreuzestodes vielfach gleichgültig bzw. kritisch bis ablehnend gegenüberstehen; die theologische Tradition häufig nur formelhaft wiedergeben, ohne Anzeichen einer begrifflichen Aneignung oder gar persönlich-existenziellen Relevanz (anders Zimmermann, 2012a, 323-330). Gängige Einwände von Jugendlichen betreffen die Klassifizierung des Menschen als Sünder, die Übertragung individuell verstandener Schuld im Stellvertretungsgedanken sowie die heilsgeschichtliche Sonderstellung des Menschen Jesus (Albrecht, 2008, 38-53), allesamt Einwände aus der Perspektive jugendlichen Strebens nach Autonomie (→ Freiheit) und ethischer Selbstverantwortung (→ Verantwortung). Rechtfertigung als Sündenvergebung interpretieren Jugendliche daher häufig im Sinne fortwährender, allgemeiner Amnestie, gegenüber der die – soteriologisch problematische – Ethisierung des Glaubens im Sinne erforderlicher „Mitwirkung“ des Menschen als probates Gegenmittel erscheint (Schlenke, 2005, 145-147).

Die zentrale Bedeutung eines domänenspezifischen Vorwissens in einem religionsaffinen Kontext für das Verständnis von (Sünden)Vergebung zeigt Doris Hillers Gespräch mit einer Christenlehregruppe (Hiller, 2008, 168-171). Die Viertklässlerinnen und Viertklässler bestimmen Vergebung klar als ein kommunikatives Beziehungsgeschehen und stellen von sich aus Bezüge zum Handeln Jesu und zu Gott als Subjekt der Vergebung her (Gnade, „Reingewaschenwerden“, Leben, „wieder aufstehen“, „Gott macht alles wieder gut“). Ausgehend von der These, dass alltägliche Erfahrungen mit interpersonaler Vergebung auch die Vorstellung göttlicher (Sünden)Vergebung entscheidend modellieren, erhebt Frank M. Lütze in Gruppengesprächen mit acht- bis elf-jährigen Kindern einer christlichen Pfadfindergruppe deren Vergebungskonzepte, die in erstaunlicher Konsistenz die begrifflichen Merkmale (siehe 1.), aber auch die Grenzen und Schwierigkeiten von Vergebung (siehe 2.2.1. und 2.2.3.) zutage treten lassen, wobei die elf-Jährigen durch Perspektivenwechsel auch die Persistenz von Schuld(folgen) wie die Ambivalenz der Vergebungsvollzügen zugrundeliegenden Gefühle (Lütze, 2015, 72f.;75) zu erkennen vermögen. Als problematisch markiert Lütze die pädagogisch ritualisierte Reduktion von Vergebung als „Ent-Schuldigung“ auf „absichtslos begangene Schuld“ (Lütze, 2015, 79).

Diesen Befund hatte bereits die ältere Studie von Heyen/Zonne mit Blick auf die Entschuldigungskultur von Jugendlichen in niederländischen Sonderschulen erhoben. Die Entpersonalisierung von Vergebungs- als bloßen Ent-Schuldungsprozessen machen Heyen/Zonne an ritualisierten Sprachformen wie „Sorry“ (statt: I´m sorry.), „Entschuldigung“, „Ich entschuldige mich.“ (statt: Ich bitte um Entschuldigung.) fest und verstehen das „Anbieten“ einer Entschuldigung wie die rituell eingeforderte Antwort der Opfer-Person („Ok“, „macht nichts“) als soziale Normen, die möglichst schnell das gesellschaftliche Funktionieren einer Person wieder sicherstellen sollen (Heyen/Zonne, 2009, 62f.). Beide Autorinnen sehen hier eine kategoriale Differenz zum christlichen Verständnis von Schuld und Vergebung im Horizont göttlicher Sündenvergebung.

3.4. Didaktische Zugänge

Gerade aus den kontingenten Gelingensbedingungen zwischenmenschlicher Vergebung kann Vergebung(sbedürftigkeit) für Kinder und Jugendliche als Existenzial und so Religion als Existenzdeutung grundsätzlich didaktisch erschlossen werden. Die dabei erhellende „implizite“ Religiosität und Theologie von Kindern und Jugendlichen (Schlag/Schweitzer, 2011, 179) ist jedoch keineswegs explizit hochzurechnen, insofern ein religiöses Selbstverständnis (Glaube) dadurch nicht begründet wird, sondern stets vorausgesetzt bleibt. Dies gilt analog auch für den Vorschlag einer kind- und jugendgemäßen Reformulierung der Rechtfertigung bzw. der soteriologischen Themenbestände im Horizont des sozialphilosophischen Begriffs der „Anerkennung“ (Meyer-Blanck, 2005; Pirner, 2016, 157-160). Wie die entwicklungspsychologischen (siehe 3.2.) und empirischen Befunde (siehe 3.3.) zeigen, besteht eine zentrale didaktische Herausforderung in der Vermittlung zwischen dem relativ ungebrochenen Kinderglauben und dem vielfach religionskritischen Autonomiestreben Jugendlicher. Dafür bietet sich ein deutungstheoretisches Religionsverständnis (Lauster, 2005) zusammen mit einer konsequent spiralcurricularen Modellierung der komplexen inhaltlichen Voraussetzungen des Themas (Sünden)Vergebung an.

Didaktische Zugänge im Ausgang von alltagsethischen Erfahrungen mit Schuld und Vergebung können konkrete Schulkonflikte (Gewalt, Diebstahl, Beschimpfung) aufgreifen und durch Rollenspiel und Perspektivenwechsel Vergebungsvollzüge in ihren Tiefenstrukturen reflektieren. Insbesondere die sensible Thematik des Mobbing eignet sich für ein solches Vorgehen, da hier die Verletzung der moralischen Integrität unübersehbar ist und so der eigentliche Gegenstand und die Fragilität von Vergebung exemplarisch deutlich werden. Alteritätsdidaktische Erschließungsleistungen durch fiktionale Brechungen bietet die Behandlung literarischer Texte, neben den Klassikern (Fjodor Dostojewski: Schuld und Sühne, 1866; Franz Kafka: Der Prozess,1925; Albert Camus: Der Fall, 1956; Max Frisch: Andorra, 1961) auch durch neuere Kinder- und Jugendbücher (→ Ganzschriften, Kinder- und Jugendliteratur) (Marlene Röder: Zebraland, 2009; Zimmermann, 2012b). Auch Kurzfilme (www.mediatheken.de) und der Rekurs auf Elemente der populären Kultur (Buschmann, 2013), insbesondere auf das erlösungsaffine Fantasy-Genre (Hammer, 2003), können hier Anknüpfungspunkte darstellen.

Im Blick auf die biblischen Zugänge empfehlen sich als Ergänzung zu einer entwicklungspsychologisch modellierten, historisch-kritischen Grundlage aneignende und erfahrungsorientierte Methoden wie beispielsweise kreatives Schreiben, Bibliodrama, das Arbeiten mit Figuren (Zimmermann/Zimmermann, 2013, 463-468;503-515). Zusätzlich zu den unter 2.1. und 2.2.3. aufgeführten biblischen Texten eignen sich zur Erarbeitung der personal-biographischen Dimension von Vergebung die Josephsgeschichte (Gen 37; 39-50) und die Jakob-Esau-Episode (Gen 25;27f.;32f.); im Neuen Testament veranschaulicht das Schicksal des Judas (Mt 27,3-5) die Ausweglosigkeit eines Lebens ohne Vergebung.

Aus der kirchlichen Tradition können herangezogen werden die Auslegungen zum Dritten Artikel des Credo und der 5. Vaterunser-Bitte in den (Jugend)Katechismen beider Konfessionen, Kindergebetssammlungen (www.kindergebete.de; Lütze, 2015, 66f.) und kirchliches Liedgut (z.B. Evangelisches Kirchengesangbuch 37,2; 85,4; 112,6) oder rituelle Zugänge wie das Bußsakrament (Bederna, 2013).

Fächerübergreifender Unterricht bietet sich an mit dem Fach Ethik, hinsichtlich des schwierigen Themas transpersonaler Vergebung mit Politik und Geschichte und schließlich im Blick auf vielfältige Prozesse des interreligiösen Lernens (→ Interreligiöses Lernen).

Literaturverzeichnis

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