Deutsche Bibelgesellschaft

Ermöglichungsdidaktik, bibeldidaktischer Ansatz

(erstellt: Februar 2018)

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1. Über die Lesbarkeit der Bibel

„Es war einmal ein Mann, der zog von Jerusalem nach Jericho und wurde von bösen Räubern überfallen“ so beginnt ein 18-jähriger Gymnasiast das Gleichnis vom barmherzigen Samariter wiederzugeben. Eigentlich erwartet man in dieser Altersstufe, zudem von einem Oberstufenschüler, dass er weiß, Jesus hat sicher keine Märchen erzählt – das waren die Gebrüder Grimm. Wie kommt es, dass Bibeltexte mit Märchen verwechselt werden, dass Schülerinnen und Schüler so schwer mit diesen Texten in Kontakt kommen? Welche konkreten Prozesse werden angeregt, wenn sie sich mit Bibeltexten beschäftigen – mitsamt dem möglichen Nicht-Verstehen und Missverstehen?

Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Annahme, dass Menschen, möchten sie einen Text verstehen, eine Sinnerwartung haben (Theis, 2009, 326-327). Kann der Text diese nicht direkt befriedigen und möchten wir uns nicht so sehr anstrengen, so geben wir ihm einfach einen Sinn in unseren Köpfen. Dann wird aus einer fremden Gattung (Beispielerzählung) schnell ein Märchen. Insbesondere das Sinn-Verlangen erfordert in der Regel eine Anstrengung, eine komplexe Denktätigkeit, und kommuniziert mit einer gleichsam theologischen und lebensbedeutsamen Nachdenklichkeit.

Deshalb hat die „Entdeckung des Lesers“ (Bucher, 1990, 9), zu einem Paradigmenwechsel in der Bibeldidaktik geführt. Katholische wie evangelische Bibeldidaktikerinnen und Bibeldidaktiker haben unterschiedliche Rezeptionsweisen durch Kinder und Jugendliche untersucht (Theis, 2005; Schambeck, 2009, 17-63; Mette, 2007, 175-195). Dabei gehen sie von der Offenheit des Bedeutungs- und Sinnangebots einer biblischen Aussage aus und stellen sich die Frage, was mit den Rezipienten geschieht, wenn sie ein Werk zum Leben erwecken. Biblischer Text und Leserin bzw. Leser werden hier als zwei Pole eines Kommunikationsprozesses verstanden: Der schöpferische Pol ist das vom Kreativen (Autorin/Autor) geschaffene Werk, während der ästhetische Pol die vom Menschen geleistete Aktualisierung (Konkretisation) bezeichnet. Die Offenheit des Bibeltextes in den jeweils neuen Bedingungen kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung geben den Menschen in jeder Zeit dabei die Chance und die Aufgabe, sich die Bibeltexte aus der Vergangenheit anzueignen und der eigenen Zeit selbst einzuverleiben.

2. Von der Erzeugungs- zur Ermöglichungsdidaktik

Traditionelle biblische Vermittlungsmodelle haben ihre Aufgabe oft darin gesehen, durch Wissensvermittlung die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Interpretation biblischer Texte voranzutreiben. Lehr- und Lernarrangement wurden unter dem Aspekt der Einflussnahme auf die lernende Person oder die Rahmenbedingungen konzipiert. Hier wird Lehren als Übermittlung von Botschaften und Inhalten verstanden. Durch geeignete Inhalte, Methoden und Medien soll der biblische Rezipient verändert oder quasi neu erzeugt werden. Das eigentliche biblische Lernen entfaltet sich in solchen Lernprozessen dann oft subkulturell und findet allenfalls in Lernwiderständen und Bibel- oder Bankkritzeleien seinen Ausdruck. Was der Einzelne versteht, welche Kompetenzen entwickelt werden, welche Vorgänge im Subjekt stattfinden, wird in diesen Entwürfen nicht beleuchtet. Dagegen steht eine zielorientierte Thematik bzw. vorgegebene Bedeutungsebene im Zentrum. Mit dieser Funktionalisierung von Bibeltexten entsteht die Gefahr, dass im Gewand einer kerygmatischen Verkündigungsdidaktik (→ Kerygmatischer Religionsunterricht) die Bibel als moralische und religiöse Größe dargestellt oder gar missbraucht wird. Ganz eng geführt, gilt dann eine vorgegebene Auslegung der Bibel als genormtes Zeugnis vom Wort Gottes, das den Hörer nur zur Antwort ruft. Dadurch, dass institutionelle Instanzen wie das kirchliche Lehramt, die exegetische Wissenschaft oder auch Lehrerinnen und Lehrer dabei die Interpretationshoheit für sich beanspruchen, werden individuelle Zugänge zur Bibel verriegelt. Dies findet dann oft ihren Ausdruck in der Ablehnung dieser Instanzen und konkretisiert sich in der Ablehnung biblischer Texte. Diese beschriebenen Muster prägen im Kontext einer Erzeugungsdidaktik biblische Lernkulturen.

Dagegen stellt Ermöglichungsdidaktik das traditionelle Konzept mit seinen überwiegend „mechanistischen Vorstellungen über die Aneignung der Informationen durch Reiz-Reaktions-Muster in Frage“ (Arnold/Gómez, 2007, 8). Biblisches Lernen wird nun nicht mehr als abgeleitete Funktion von Lehren angesehen.

Es war Ingo Baldermann, der als einer der ersten darauf hinwies, dass Bibeltexten eine eigene Didaktik innewohnt. „Es geht dabei aber nicht um Belehrungen, die der Text aussagt und die ich aufnehmen soll, sondern ich lerne eben dies neu wahrzunehmen, anders zu begreifen, deutlicher zu sehen und zu reden. Der Text ist in diesem Lernprozess nicht Objekt meiner Didaktik, sondern selbst didaktisches Subjekt“ (Baldermann, 2011, 3). Mit Baldermann kann man sagen: In biblischen Texten findet sich eine eigene, auf den Dialog ausgerichtete Didaktik und Energie. Diese entfaltet und gestaltet sich in je verschiedenen Zeiten und gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen und regt Lernprozesse an (Theis, 2002).

2.1. Mit der Bibel im Dialog

Es ist davon auszugehen, dass biblisch sinnorientierte Bildung einen dialogfähigen, resonanten Raum braucht, damit Texte nicht bloß äußerlich und fremd aufgefasst und wahrgenommen werden. Es geht darum, Bedingungen herzustellen, dass Schülerinnen und Schüler entdecken können: Bibeltexte sind es wert, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt. Dabei ist auch zu beachten, dass dieser Prozess davon abhängt, wie ihr Vorwissen aufgegriffen und aktiviert wird. Denn mit diesem Vorwissen werden neue Erkenntnisse verbunden und kognitive Dissonanzen überwunden. Kognitive Dissonanzen zeigen die Grenzen des eigenen Verstehens auf. Sie drängen im Lernprozess Schülerinnen und Schüler dazu, einen neuen Gleichgewichtszustand herzustellen, indem sie lernen und sich Wissen aneignen. In diesem Kontext ist es wichtig, ihnen etwas zuzutrauen, aber ihnen auch etwas zuzumuten (Hattie, 2013, 34)! Zudem empfinden Kinder und Jugendliche die Bewältigung einer Problemstellung als motivierend (Baltensweiler, 2006, 77).

Dementsprechend dürfen bei der Lektüre eines Bibeltextes nicht vorgefertigte Interpretationen die Spannung rauben. „Oft handelt es sich ja bei Bibeltexten um vielschichtige, geheimnisvolle, für verschiedene Deutungen offene Texte. Wenn man sich hier zu schnell auf eine Deutung festlegt, wird eine komplexe und mehrdeutige Auslegung verhindert“ (Theis, 2013, 249). Das Unvollständige, Zufällige und Ungewisse gibt den Texten Tiefe und Gehalt. Grundsätzlich bedeuten biblische Resonanz und Dialog immer zugleich Weltberührung sowie wechselseitiges Fragen und Antworten. „Gelingt Resonanzerfahrung – metaphorisch gesprochen – wie ein Echo, dann kann Sinnhaftigkeit als subjektiv-objektiver Effekt dieser Resonanzerfahrung verstanden werden“ (Birkmeyer/Combe/Gebhard/Knauth/Vollstedt, 2015, 19).

2.2. Lernen im Modus der Deutung

Diese Überlegungen machen darauf aufmerksam, dass sich biblisches Lernen im Modus der Deutung vollzieht. Wie alles menschliche Wahrnehmen und Wissen auf der Grundlage der eigenen Erfahrung einverleibt und gedeutet wird, basiert auch das biblische Verstehen auf der Einsicht, dass biblische Texte schon bei der Zurkenntnisnahme gedeutet werden. Durch eine Sinngebung von Seiten der Leserinnen und Leser werden Bibeltexte erst zu dem, was sie sind. Somit rücken die Leserin und der Leser in eine autorenhafte Rolle. Indem die Leserin/der Leser die Texte versteht, schreibt er sie eigentlich neu und sich selbst in den Prozess der Überlieferung dieser Texte mit ein.

Es gilt also in bibeldidaktischen Prozessen, fachliche Wissensbestände in komplexe Verstehenszusammenhänge einzubetten. Hierbei wird die Version der fachlichen Perspektiven überführt und erweitert in eine Version, die die Welt zu lesen erlaubt und damit Verstehen ermöglicht.

Dies geschieht immer dann, wenn Menschen an Grenzen stoßen und Erfahrungen machen, zu deren Bewältigung ihre bisherigen Mittel und Möglichkeiten nicht ausreichen. Die treibende Kraft dabei sind Spannungen bzw. krisenhafte Momente durch Irritation und Phantasie (Frage-Antwort-Geschehen) sowie ein aus der Krise resultierendes Sinnverlangen. Sinn jedoch kann nur in produktiven Entdeckungszusammenhängen gefunden werden. Erst durch Integration des Gelernten in ein narrativ strukturiertes Handeln erhalten Ereignisse ihre Qualität und können zu (religiösen ästhetischen) Erfahrungen werden.

2.3. Resonanzerwartung

Sich mit Bibeltexten auseinander zu setzen, wird deshalb dort als sinnvoll empfunden, wo Resonanzbezüge, Resonanzerfahrungen und Resonanzhaltungen eine Rolle spielen. Dies ist geradezu ein radikaler Bruch mit der teleologischen Deutung durch Merksätze und autoritative Interpretationsvorgaben. Das Resonanzerleben macht zudem auf ein leiblich-sinnhaftes Verhältnis zur Bibel und auf die Form eines dialogischen Austauschs mit Bibeltexten aufmerksam. In diesem Annäherungsprozess werden zunächst erste Eindrücke gesammelt und Berührungsflächen sowie Herausforderungen eines Bibeltextes abgetastet, die dann die kognitiven Aspekte fundieren können. Denn entscheidender als offizielle und autoritative Beschreibungen über die Bedeutung der Bibel sind die verinnerlichten Vorstellungen und Erwartungen über das Wesen dieses Buches. Da die menschliche Psyche über enorme Ressourcen unbewusster Informationsverarbeitung sowie Verhaltensregeln verfügt, ist schon in der frühkindlichen Erziehung in bibeldidaktischen Prozessen auf eine altersgemäße Vermittlung zu achten. Gerade bei Kindern entwickelt sich sinnorientiertes Verstehen assoziativ, so dass die kindlichen Rezipienten entweder auf Annäherung oder Vermeidung ausgerichtet sind. Intuitive und zumeist unbewusste Urteile in späterem Alter beruhen auf der Aktivierung ehemals gewonnener Gedächtnisinhalte. Durch diese werden Denkverlauf und Erwartungshorizont geprägt und bestimmen mit, wie der konkrete Bibeltext gewertet wird (Groschke/Bolte, 2002, 49).

2.4. Die Mehrdeutigkeit von Texten oder das Erkennen von Zusammenhängen

Mit dem Einzug der historisch-kritischen Methode in die Bibeldidaktik wurden emanzipatorische oder repressive Züge der Bibel und ihrer Gattungen frei gelegt. Zugleich wurden die biblischen Texte einem kritischen Zugriff ausgesetzt. De facto wird dementsprechend – verstärkt in den weiterführenden Schulen – in lehrerzentrierten Techniken und methodischer Vielfalt vor allem exegetisches kognitives Wissen vermittelt. Wenn man die bibeldidaktischen Ansätze der letzten Jahrzehnte überblickt, muss man feststellen, dass dazu eine Fülle von Methoden und unterschiedlichen kreativen Verfahren zum Umgang mit biblischen Texten entwickelt wurden. Es wuchs eine Vielzahl von Medien, die Zugänge zu Bibeltexten eröffnen und Auseinandersetzungen befördern sollten. Dies bezweckte aber primär, Bibeltexte zur Kenntnis zu bringen, um aus ihnen zielgerichtet Informationen zu gewinnen und diese zu prüfen. Dass damit neben einer Verwissenschaftlichung auch eine zunehmende Formalisierung bereits in der Grundschule miteinzieht, wurde in Kauf genommen. Texte werden in Zusammenhängen untersucht, Absichten entdeckt, Informationen überprüft und durch ein leitfragenorientiertes Vorgehen ausgebaut – Bibeldidaktik wird vergleichbar mit einer rein schematischen Lösung einer Mathematikaufgabe.

Offenkundig verhindern oder erschweren diese institutionellen Hürden ein Vorgehen, bei dem eine Bibelstelle hin und her gewendet und der Text als Kunstwerk und Gottes Wort erfahren wird, zu dem man in Dialog treten kann. Nur hier finden nämlich Prozesse statt wie Sinnverlangen, „Sinnerwartung und Sinnsetzung bzw. Sinngebung, die neben den hermeneutischen Dimensionen der Sinndeutung ganz grundsätzlich in Lernprozessen aufzufinden sind“ (Birkmeyer/Combe/Gebhard/Knauth/Vollstedt, 2015, 9).

Wie kommt es nun, dass Leserinnen und Leser, die völlig unterschiedliche Lebensgeschichten haben, dennoch von demselben Text fasziniert sein können? Wie kommt es, dass Bibeltexte in ihrer Wirkungsgeschichte ganz unterschiedliche Bedeutung hatten oder aber in unserer persönlichen Glaubensbiographie ganz unterschiedliche Rollen spielen können?

Eine Antwort auf diese Fragen liegt in der Offenheit der biblischen Texte. Sie zeichnen sich durch Mehrdeutigkeit aus und ermöglichen damit unterschiedliche Sinnfindungsprozesse. Zugespitzt lässt sich sagen: Erst die Leserinnen und Leser stellen die Bedeutung eines Textes im Dialog mit ihm her. Deshalb kann es die allein richtige Auslegung auch nicht geben (wohl aber Auslegungen, die eindeutig falsch sind, weil sie der Struktur des Textes widersprechen). Wenn also ein biblischer Text verstanden werden soll, so lauten die Leitfragen: Wie kann der Text ins Gespräch kommen mit den Erfahrungen (→ Erfahrung), den Erzähl- und Bildwelten der Leserinnen und Leser? Wie kann er verknüpft werden mit ihrer bisherigen Erfahrungsgeschichte und welche neuen Erfahrungen ermöglicht er? Welche Resonanzbezüge gibt es und können ermöglicht werden?

3. Ziele der Ermöglichungsdidaktik

Biblische Ermöglichungsdidaktik hat sowohl konstruktivistische als auch systemtheoretische Wurzeln. Sie geht von der Erkenntnis der informationellen Geschlossenheit jedes Lebewesens aus, welches nach eigenen Kriterien die neuronalen Signale interpretiert und bewertet. Seine kognitiv-emotionalen Systeme bauen dementsprechend biblisches Wissen und Erkenntnisse auf. Beachtet man eine solche Zielsetzung, dann steht das selbsttätige Handeln (bzw. Verstehen) der einzelnen Subjekte im Zentrum didaktischer Überlegungen. Die eigentliche Erfolgsvoraussetzung für den Vermittlungsvorgang liegt hierbei nicht in der Intervention der Vermittlungspersonen, sondern in der Tätigkeit der Lernenden (von Glasersfeld, 1999, 504). Der Wechsel der Perspektive im Kontext biblischer Ermöglichungsdidaktik verändert daher die Ausgestaltung bibeldidaktischer Szenarien dadurch, dass es gilt, Inhalte für die Aneignung bereitzustellen sowie Aktivität und Entscheidungsbefugnisse bei dem lernenden Subjekt anzusiedeln. Unter dieser Prämisse lässt sich biblisches Lernen und Verstehen als selbstorganisierendes, selbsterkennendes, selbstveränderndes und inhaltliches Lernen beschreiben.

1. Selbstorganisierendes Lernen

Weil das Verstehen von Bibeltexten im Modus der Deutung geschieht, findet es zugleich auch in einem selbst-organisierenden Prozess statt. Hier werden die je eigenen Wirklichkeiten des Individuums (→ Individuum/Individualität) im Verstehen des Bibeltextes von diesem selbst jeweils neu konstruiert.

2. Selbsterkennendes Lernen

Hier geht es beim verstehenden Lernen von Bibeltexten um Lernprozesse, die klärend, konsolidierend aber auch irritierend auf die Identitätsbildung (→ Identität, religiöse) wirken. Immer dann, wenn die Einsicht entsteht: „Das hat was mit mir, mit meinem Leben zu tun“. Hier vollzieht sich biblisches Lernen in Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten. Biblisches Verstehen wird hier zur Identitätsarbeit.

3. Selbstveränderndes Lernen

Neben der „Identitätsarbeit“ wird die Frage der sozialen Lebensdienlichkeit gestellt: Die Wechselwirkung zwischen eigener Person und persönlicher Umwelt wird wahrgenommen und als eigene → Wahrheit (praktisch wirksame Wahrheit, bewährte Wahrheit) erkannt.

4. Sozial erkennendes Lernen

Biblisches Verstehen findet im Rahmen des Miteinanderverstehens bzw. Miteinanderlernens statt (Dormeyer, 1983). Dem Erleben von Gemeinschaft, insbesondere dem einer Lese- oder Auslegungsgemeinschaft, kommt hier eine zentrale Rolle zu. Solches Lernen fördert die Sozialkompetenz.

5. Inhaltliches Wissen-Lernen

Zugleich übernimmt der Bibeltext in diesem Geschehen auch die Rolle eines sachlichen informierenden Textes. Informierendes, inhaltliches Lernen hat es mit relevantem Sachwissen, authentischen Einsichten und bedeutungsvoller Vertiefung vorhandener Kenntnissen zu tun, um biblische Dialoge sowohl mit dem Text als auch mit der Mitwelt führen zu können.

Allerdings sind diese Ideale nicht sofort umzusetzen. Zunächst geht es darum, einen Weg zu finden zwischen konzentrierter Anleitung und gänzlicher Selbststeuerung, zwischen Führen und Wachsenlassen.

4. Konsequenzen:

4.1. Biblische Bildung braucht den Dialog

Die vorgestellten Überlegungen haben einen bildungstheoretischen Akzent: Dies bedeutet für das Verstehen von Bibeltexten, dass die subjektiven Strukturen der Bibelleserin/des Bibellesers ebenso wie die objektivierbaren Erkenntnisse, die durch die Wissenschaft beschrieben werden, nicht ignoriert werden können und dürfen.

Wird einerseits die Subjektseite zu sehr betont, droht Weltvergessenheit und Biblizismus oder biblische Bildung wird mit Selbsterfahrung verwechselt. Wird andererseits die Objektseite zu sehr hervorgehoben, kann eine „seelenlose instrumentelle Informiertheit entstehen“ (Birkmeyer/Combe/Gebhard/Knauth/Vollstedt, 2015, 12) oder ein „totes Wissen“. Ermöglichungsdidaktik zielt einen wechselseitigen Dialog zwischen Subjektivierung und Objektivierung, zwischen Text und Verstehendem/Verständigen an. Dazu gehört, dass sich zwischen beiden Polen eine Spannung aufbaut, die sich gegenseitig aushält, bewusst aufnimmt und so zum Gegenstand bewusster Reflexion werden kann. Das bedeutet im Prozess des biblischen Lernens, dass die subjektivierende Sicht nicht (wie häufig in der Schule und Katechese) unter Verschluss gehalten werden darf. Vielmehr müssen beide Aspekte als ein System verstanden werden, welches sich in einem lebenslangen Vorgang immer wieder neu artikuliert. Mit diesem dialogischen Prinzip werden subjektive Vorstellungen und Zugänge im Lernprozess willkommen geheißen und ein ganzheitlicher Bezug zum Text wird geschaffen. Folglich dürfen in einer Ermöglichungsdidaktik biblische Texte ihre je individuelle Bedeutung behalten – sie erhalten Sinn. In diesem Dialog geht es auch um Selbstverstehen. Dialog ist eine Form einer kooperativen, differenzbewussten Auseinandersetzung mit biblischen Texten. Zum einen findet er zwischen Text und Rezipienten statt und zum anderen innerhalb der Gemeinschaft, die in diesen Prozess verwoben ist (z.B. zwischen Schülerinnen und Schülern in der Klassengemeinschaft, aber auch zwischen Lehrerinnen und Lehrern im Austausch mit ihren Schülerinnen und Schülern). Solche Dialoge bauen darauf auf, dass die Personalität und die Freiheit des Anderen anerkannt werden. Sie brauchen Resonanz und Raum, zugleich schaffen sie Resonanz und Raum, indem sie die Möglichkeit eröffnen, sich in der Auseinandersetzung mit dem Du der anderen Person zu entfalten und ein dialogisches Selbst zu werden (Buber, 2008, 4). In der dialogischen Begegnung mit dem Anderen geschieht etwas Neues, das ohne diesen dialogischen Prozess nicht möglich wäre. Von daher kann eine dialogische Bibelarbeit zu ganz anderen Erkenntnissen führen und neue Deutungen befördern, was eine eindimensionale oder individualistische Erzeugungsdidaktik gar nicht realisieren könnte.

Resonanz im Dialog (mit dem Bibeltext) ist der Modus, in dem kognitive Kompetenzen wie Reflexionsfähigkeit, die Erfassung von Sinnzusammenhängen oder die Fähigkeit sich Wissen aneignen zu können, erworben werden, aber auch soziale Fähigkeiten wie Teilhabe, Toleranz, Kommunikationsstärke, Zielstrebigkeit oder Selbstbewusstsein stehen im Blickfeld.

4.2. Biblisches Verstehen ist aktives Handeln

Verstehensprozesse laufen nicht linear ab und die Verstehensergebnisse sind nicht immer vorhersehbar. Das kommt daher, dass biblisches Wissen nicht instruktionistisch gelehrt, sondern angeboten wird. Dieses Wissen kann von den Rezipienten auf individuelle Weise in vorhandene Auffassungsstrukturen eingearbeitet werden. Dies eröffnet eine Vielfalt von Vermittlungsmöglichkeiten, Formen und Methoden im konkreten Unterrichtsgeschehen. Ein solcher offener Unterricht kann Unsicherheiten und Ängste mit sich bringen, sowohl auf Seiten der Lehrenden als auch der Lernenden: Einerseits, weil die Verstehensergebnisse nicht immer eindeutig und wie bei einer einfach strukturierten Rechenaufgabe leicht prüfbar sind, andererseits entsprechen sie nicht immer dem, was die Lehrenden gerne hören möchten, selbst gelernt haben und was ihnen persönlich wichtig ist.

Ob biblisches Lernen gelingt, ist auch davon abhängig, wie Lehr-Lernprozesse gestaltet werden und mit welchen Entfaltungsmöglichkeiten die Bibel das Selbst- und Weltverhältnis von Rezipienten zu berühren vermag. Von daher ist der Blick auf das verstehende Subjekt und seine Konsequenz für die Bibeldidaktik unvermeidbar.

Ermöglichungsdidaktik

4.3. Raum für gelingende und inhaltsoffene Kommunikationsprozesse schaffen

„Lehren beginnt nicht mit dem Vortragen geheiligter Wahrheiten, sondern mit dem Schaffen von Gelegenheiten, die den Schülern Anlass zu denken geben. – Die Vorbedingung dafür ist, dass man Schülern die Fähigkeit zu denken zuschreibt“ (von Glasersfeld, 2002, 220). Biblische Texte verstehen heißt in diesem Zusammenhang, es den Rezipienten zu ermöglichen, mit ihnen einen gelingenden Kommunikationsprozess einzugehen.

4.4. Wahrnehmungskompetenz erwerben

Ermöglichungsdidaktik fordert aber vom Lehrenden ein „Loslassen-Können“. Darin liegt eine höhere Form der Professionalität, nämlich es den Lernenden zu ermöglichen, sich selbsttätig einen Text anzueignen. Ein solches subsidiäres Vorgehen begleitet und fördert das selbstgesteuerte und selbstorganisierte Lernen der Schülerinnen und Schüler und fordert von den Lehrenden eine Wahrnehmungskompetenz, die Rahmenbedingungen zu setzen hilft, in denen Schülerinnen und Schüler sich im Lernprozess bewegen können.

4.5. Persönliche Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler stärken

Dies gelingt vor allem dann, wenn Schülerinnen und Schüler in Bibeltexten Relevanz bzw. Authentizität und Situiertheit erkennen. D.h., dass der Lerngegenstand über Gefühle, Identifikationsmöglichkeiten, Eigenerfahrungen und Neuigkeitswert für den Lernenden bedeutsam und viabel sein soll. Viabel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei der Konstruktion von biblischen Texten anstelle einer zielorientierten Abbildung eine zweckorientierte Anpassung, bei der es um die Suche nach Sinn, nach passenden Schlüsseln und nach unterschiedlichen Verhaltens- und Denkweisen geht. Daher setzt Bibelverstehen eine Umwelt voraus, die offen ist. Sie muss Raum schaffen, eigene Überzeugungen und Wünsche zu artikulieren und zu realisieren. Damit kann eine Ermöglichungsdidaktik auf den gleichzeitig unterstellten und noch herzustellenden lebenspraktischen Sinn des Textes verweisen.

4.6. Biblisches Lernen sukzessive erweitern und unterstützen

Die selbstgesteuerten Konstruktionsprozesse bauen – wie gesehen – ein mentales Modell (ein kognitives System) auf, das sich in weiteren Lernprozessen sukzessive erweitert. Zunächst muss jedoch die Chance, dass ein Musterwissen und mentales Modell entstehen kann, ermöglicht werden. Deshalb fordert eine Ermöglichungsdidaktik die Einschränkung auf die jeweilige Situation der Schülerinnen und Schüler.

4.7. Biblisches Lernen in sozialen Kontexten und in Multiperspektivität initiieren

Die vorhergehenden Überlegungen haben sich auf das Subjekt, den Rezipienten eines Bibeltextes im Lerngeschehen, bezogen. Da aber Lernen im sozialen Kontext stattfindet, ist die Gefahr des Subjektivismus bzw. einer narzisstischen Leseweise vermindert. Biblisches Lernen baut sich, wie das Lernen der Sprache, auf einem zuvor existierenden und gesicherten Symbolsystem auf und steht mit Sinn bzw. Bedeutung, die auch sozial vermittelt sind, in Beziehung (Bruner, 1990, 378). Von daher ist der soziale Kontext entscheidend. Die Resonanzen und Interaktionen zwischen den Subjekten bzw. den einzelnen Individuen sind wichtig für den Umgang mit Bibeltexten. Zudem verlangen die Bibeltexte selbst geradezu nach einer kollektiven Realisierung. In solchen dialogischen Lernprozessen treten Verstehensperspektiven von verschiedenen Standpunkten (Multiperspektivität) aus ins Gespräch. Sie werden für alle Beteiligten im Auseinandersetzungsprozess durchschaubar und veränderbar.

5. Didaktisch-methodische Schritte der Textbegegnung

5.1. Vorbereitungs- und Einstiegsphase: Wahrnehmung

Im ersten Schritt geht es um ein stilles Abtasten und Lesen des Textes, spontane, unzensierte Äußerungen, im Text spazieren gehen, hier und dort verweilen mit ungelenkter Aufmerksamkeit. Die Gemeinschaft der Leserinnen und Leser mit ihren Bedingtheiten, Einstellungen, Erwartungen und Kompetenzen markiert den Ausgangspunkt des Prozesses. Persönliche Fragen, Widersprüche und Herausforderungen sollen als Problemstellung deutlich werden.

5.2. Zentrale Phase I: Informationsbeschaffung und Planung des Lösungsvorhabens (Text als Aufgabe)

Durch die Analyse des Textes soll die Bauform des Textes durchsichtig werden. Es gibt hier vielfältige Möglichkeiten, wie z.B. die Sprache zu analysieren, seine Erzählstruktur zu untersuchen oder seine Intertextualität zu entdecken. Die Textanalyse ist in dem Sinn wichtig, dass sie die „Überprüfung von Deutungen durch die Rückfrage an den Text“ (Niehl, 2007, 139) ermöglicht. Wichtig ist jedoch, dass man darauf achtet keinen Schlüssel zur Deutung mitzuliefern. Durch die erste genaue Kenntnisnahme sind die Einzelheiten und der Zusammenhang des Ganzen im Blick.

5.3. Zentrale Phase II: Analyse des Textgehalts/Deutung

Nun tritt die Thematik des Textes in den Blick: die Glaubenssichten und Lebenserfahrungen, individuelle oder epochale, die sich im Text und seiner Wirkungsgeschichte niedergeschlagen haben.

5.4. Auswertungsphase: Identifizierung mit dem Text

Im vorletzten Schritt geht es darum, sich in den Text neu hineinziehen zu lassen, ihn zu bewohnen, sich in die Geschichte verwickeln zu lassen und sich kreativ mit dem Bibeltext auseinander zu setzen.

5.5. Ergebnispräsentation

Hier sind Einfallsreichtum und Teamfähigkeit wichtig, denn es wird die neue Gestaltwerdung präsentiert. Um schon frühzeitig die Gesamtpräsentation zu planen, ist systematisches Denken und Gewissenhaftigkeit, sowie Kommunikationsfähigkeit notwendig. Es geht darum, die Verstehensprodukte zu präsentieren und miteinander ins Gespräch zu bringen.

Bibeldidaktik als Ermöglichungsdidaktik fordert die ganze Persönlichkeit der Beteiligten. Die dort entstehenden Lerneffekte sind besonders vielschichtig, tiefgehend und resistent gegen das Vergessen.

Literaturverzeichnis

  • Arnold, Rolf/Gómez Tutor, Claudia, Grundlinien einer Ermöglichungsdidaktik. Bildung ermöglichen – Vielfalt gestalten, Augsburg 2007.
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  • Baltensweiler, Thomas, Müssen Jugendliche vor ihren Deutschlehrern geschützt werden? Zur Skepsis von Schülern gegenüber dem Interpretieren, in: Der Deutschunterricht 58 (2006) 3, 77-81.
  • Birkmeyer, Jens/Combe, Arno/Gebhard, Ulrich/Knauth, Thorsten/Vollstedt, Maike, Lernen und Sinn. Zehn Grundsätze, in: Gebhard, Ulrich (Hg.), Sinn im Dialog. Zur Möglichkeit sinnkonstituierender Lernprozesse im Fachunterricht, Wiesbaden 2015, 9-31.
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  • Buber, Martin, Ich und Du, Stuttgart 2008.
  • Bucher, Anton A., Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln, Fribourg 1990.
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  • Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013.

Abbildungsverzeichnis

  • Blick auf das verstehende Subjekt und Konsequenz für die Bibeldidaktik © Joachim Theis

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