Deutsche Bibelgesellschaft

Philosophieren mit Kindern, Grundlagen

Andere Schreibweise: Philosophy for children

(erstellt: März 2024)

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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400010

Neben einer grundsätzlichen Orientierung zum philosophischen Charakter von „Philosophieren mit Kindern“ (PhmK) konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf den pädagogischen Anspruch des PhmK und darauf, wie dies im Kontext religiöser Bildung zu verstehen ist (zu Methoden: → „Philosophieren mit Kindern. Methoden, Medien, Orte“).

1. Was ist Philosophieren mit Kindern?

Eine Klärung, worum es sich beim PhmK handelt, hat zunächst begrifflich wie inhaltlich drei Voraussetzungen zu erläutern: a) warum und wie PhmK sich auf Philosophie bezieht, b) warum Philosophie als (tätiges) Philosophieren zu verstehen ist, c) dass und warum alle Menschen und somit auch Kinder zumindest elementar philosophieren können.

1.1. Zum philosophischen Anspruch von PhmK: Fragen stellen

Dass PhmK sich auf Philosophie bezieht, könnte als Selbstverständlichkeit verstanden werden, ist aber angesichts der Vielfalt dessen, was oft fälschlich, zumindest aber undifferenziert als Philosophie ausgegeben und auch für PhmK beansprucht wird, kritisch zu überprüfen: Was also meint → „Philosophie“? Als eine spezifisch philosophische Auseinandersetzung kann nur gelten, was ausdrücklich mit der prinzipiellen Nachfrage „Was ist hier eigentlich gemeint?“ verbunden wird. So ist beispielsweise die Frage „Wer bin ich?“ so allgemein formuliert noch keine philosophische Frage; sie wird zur philosophischen erst durch ihren reflexiven Hintersinn: „Was ist (dabei) ‚Ich‘?“ oder „Was meine ich, wenn ich ‚ich‘ sage?“. Der Grund für diese Komplikation: Philosophie hat keinen gegenüber anderen Fächern besonderen Gegenstand, sondern untersucht unseren Bezug auf alle möglichen Gegenstände. Von daher könnte man Philosophie auch als Kunst bezeichnen, die richtigen, ein Problem eröffnenden, erläuternden und klärenden Fragen zu artikulieren.

Fragen stellen sich uns freilich auf verschiedenen Ebenen (genauer dazu vgl. Petermann, 2011, 256-259):

1. Vor allem jüngeren Kindern ist der mögliche philosophische Charakter ihrer Fragen in der Regel (noch) nicht bewusst. Sie fragen nicht reflexiv und abstrakt, also losgelöst von konkreten Erfahrungen, sondern unmittelbar angesichts von Erstaunlichem. Anstoß dafür sind meist plötzliche ihnen zustoßende Irritationen im Alltag (vgl. Bloch, 1963, 15f.), etwa warum es gerade jetzt dunkel wird: Dies aus Erwachsenensicht physikalisch zu erklären, würde den philosophischen Sinn einer solchen Kinderfrage nicht treffen; dieser hebt vielmehr ab auf den grundsätzlichen Sinn der Zuschreibungen „dunkel“ bzw. „hell“ und den Prozess von Entstehen und Vergehen; das erfragen Kinder aber nicht explizit, sondern allenfalls ahnend. Diesen sogenannten elementaren, in konkreten Situationen auftretenden, aus Kindermund eher erstaunten, (noch) nicht reflexiv befragenden Charakter haben auch die meisten kindlichen Warum-Fragen.

2. Von ihnen zu unterscheiden sind auf einer zweiten Ebene sogenannte schwierige Fragen, die über eine unmittelbare Betroffenheit hinaus erst etwas ältere Kinder im Modus einer überlegenden Nachdenklichkeit äußern, zum Beispiel, ob mich meine Katze versteht, wenn ich mit ihr spreche.

3. Die sogenannten großen Fragen schließlich, z.B. „Wer bin ich?“ oder „Woher komme ich?“, stellen jedenfalls in dieser Form jüngere Kinder nicht; vielmehr fragen sie auch danach durch ganz konkrete eigene Bemerkungen, also z.B. „Gehören meine Haare zu mir?“ oder „Wo war ich, als du, Mama, Kind warst?“. Explizit als „groß“ ausgewiesene Fragen setzen dagegen einen hohen Grad an Abstraktion und Reflexion von jener konkreten Erfahrungswelt voraus.

Beim PhmK sollten Erwachsene daher ihrerseits in der Lage sein, kindliche elementare Bemerkungen oder nachdenkliche Fragen in ihrer philosophischen Sinntiefe ernst zu nehmen, aber auch besonderen philosophischen Themenbereichen zuzuordnen, um so im Gespräch mit den Kindern eine für sie interessante philosophische Auseinandersetzung und Klärung zu entwickeln. Für pädagogisch Tätige ist dabei eine grundlegende Kenntnis und Bildung notwendig, um was es sich bei Philosophie handelt und was die zentralen philosophischen Themen sind. Kant hat diese mit den Fragen „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“ umrissen (z.B. Kant, 1800, A25f.). Auch diese Fragen suchen aber in philosophischem Verständnis eben nicht nach Antworten auf das Was, sondern nach Möglichkeiten (und Grenzen), unter welcher Perspektive wir uns könnend, tuend, hoffend auf jenes Wissen, Tun, Hoffen, Menschsein beziehen.

1.2. Philosophie als Philosophieren: Tätigkeiten des Denkens

Wenn Philosophie nicht bestimmte Objekte untersucht, sondern unseren Bezug auf alle möglichen Gegenstände, wird deutlich, dass Philosophie erst wirklich und wirksam wird als ein Geschehen, nämlich als aktiv nachdenkliche, ja bewusste und sogar reflexive Tätigkeit des Philosophierens, mit der wir irgendetwas untersuchen. Mit einem schlichten Verständnis von Nachdenklichkeit ist es dabei jedoch nicht getan. Vielmehr ist vor allem in pädagogisch-didaktischer Hinsicht zu differenzieren, was differenzierter wir tun, wenn wir ins Nachdenken geraten, uns Gedanken machen, Fragen stellen, etwas untersuchen, bezweifeln, erforschen, methodisch-reflexiv ernst nehmen, verstehen, beurteilen, klären, erkennen wollen, dabei Einsichten immer wieder infrage stellen usw. Damit steht zur Debatte, wie genauer bzw. in welcher Form und auf welcher Ebene sich solch tätiges Philosophieren vollzieht:

Ebenen sind leicht zu benennen als die Ebenen des uns Menschen eigentümlichen Verhaltens zu uns selbst, zu Anderen, zur Welt: das Ästhetische als Ebene der sinnlichen Wahrnehmungen, das Pathisch-Emotionale als die der Empfindungen und Gefühle, das Dianoetische als die des Verstehens, das Kritische als die des Beurteilens und Entscheidens, das Praktische als die des daraus folgenden Handelns, das Transzendierende als die des über das Fassliche hinaus Grenzen, Relationen und uns vorausliegende Orientierungen Bedenkende.

Philosophieren geschieht auf all diesen Ebenen, aber stets, so ist weiter festzuhalten, durch Formen eines Denkens, welches – die alte pädagogische Trias „sehen – urteilen – handeln“ aufgreifend und ausdifferenzierend – sich zunächst erstaunt zeigt gegenüber Gegenständen unseres Denkens, sich ihnen damit stellt, sie dann wahrnimmt, weiterhin sich betroffen zeigt, zu ihnen Vorstellungen imaginiert, unseren Verstand einsetzt, sie Zug um Zug erkennt, sich mit ihnen in kritischer Beurteilung auseinandersetzt, sie auf andere Gegenstände bezieht, aufgrund unserer Auseinandersetzung begründete Entscheidungen entwickelt, dies alles in unser wirkliches Leben und Handeln integriert, unseren Bezug auf alles reflektiert und zu uns selbst als Akteuren des Denkens in Relation setzt, zudem spezifisch hinsichtlich jedes möglichen Themas, auch in anderen Unterrichtsfächern bzw. Entwicklungsfeldern von Bildung.

Zudem nimmt Philosophieren immer mögliche Dimensionen bzw. Zielsetzungen philosophischen Denkens in den Blick, eines Denkens also, das – um nur die vier grundlegenden Dimensionen zu nennen – a) sich in der konkreten Lebenswelt verortet und dabei mit Kant b) befragend selber denkt, c) problemorientiert dialogisch sich auseinandersetzend denkt, d) begrifflich klärend denkt (Kant, 1798, A122; zur genauen Erläuterung vgl. → Philosophieren mit Kindern. Methoden, 2. Arbeitstechniken).

Das Geschehen des Philosophierens entfaltet sich mithin in und über verschiedene Ebenen, Formen, Dimensionen.

1.3. Sind Kinder „kleine Philosophen“?

Die hier vorgestellten Erläuterungen von Philosophie und zu Differenzierungen für die Tätigkeit des Philosophierens scheinen komplizierter als nötig, um Anspruch und Sinn von PhmK zu erläutern. Sie geben gleichwohl verlässliche und für das Arbeiten mit Kindern wichtige Kriterien an, inwiefern Kindern in besonderer Hinsicht und auch altersabhängig die einzelnen genannten Ebenen, Formen, Dimensionen von Philosophieren zugeschrieben werden können. Auch wenn z.B. Matthews (1991) mit guten Argumenten die Piagetsche These widerlegt hat, jüngere Kinder seien nicht in der Lage zu philosophieren, greift das PhmK hinsichtlich altersbedingter Voraussetzungen doch entsprechend auf einschlägige entwicklungspsychologische Untersuchungen (→ Entwicklungspsychologie) zurück, wonach hinsichtlich der Denk-Möglichkeiten grob zu unterscheiden ist zwischen Kleinstkindern, Kindern im Vorschulalter, Grundschulkindern, Kindern in der Vorpubertät und Jugendlichen. Daraus ergibt sich vor allem die Notwendigkeit, zu bedenken, wie konkret mit Kindern bestimmten Alters philosophisch ahnend, staunend, fragend, dialogisch, begrifflich, kritisch, reflexiv, perspektivisch, Handlungsoptionen erörternd, Alternativen prüfend usw. gearbeitet werden kann.

Der Buchtitel „Kinder sind Philosophen“ (Freese, 1989) sollte von daher nicht als Behauptung, sondern provokativ verstanden werden, nämlich Kinder auf der jeweils ihnen eigenen Entwicklungsstufe und Besonderheit ernst zu nehmen, auch hinsichtlich einer ihnen selbst (noch) nicht bewussten Denktätigkeit, und in dieser Sensibilität mit ihnen in eine Auseinandersetzung zu kommen, dass sie auf dieser Grundlage sich in die Lage versetzt sehen, eine philosophische Haltung zu sich selbst, ihrer Mitwelt und zu sehr grundsätzlichen metaphysischen Fragen zu entwickeln und schließlich möglicherweise selbsttätig reflexiv und wissenschaftlich zu philosophieren (vgl. Petermann, 2007, 30-39). Als Philosophen im wissenschaftlichen Sinn aber sollten Kinder nicht, wie zuweilen unterstellt, angesehen werden, nicht um ihnen philosophische Fähigkeiten abzusprechen, sondern um gerade jenes quasi propädeutische kindliche Denken in seinem philosophischen Charakter zu bestärken sowie andererseits Philosophie in ihrem wissenschaftlichen Theorie-Anspruch abzugrenzen von der banalisierenden Vorstellung, bereits ein schlichtes „ich hab‘ mir mal gedacht“ oder eines unbedachten „ich finde“ als Philosophie zu beanspruchen.

2. Geschichte und Konzepte des PhmK

Seit jeher haben berühmte professionelle philosophische Denkerinnen und Denker allen Menschen unabhängig von Alter oder kulturellen Zusammenhängen grundlegende Möglichkeiten des Philosophierens zugesprochen, so in neuerer Zeit Karl Jaspers (1971), Ernst Bloch (1961) oder in verstreuten Bemerkungen Hans-Georg Gadamer. Wenn umgekehrt Philosophen wie Aristoteles jüngeren Menschen philosophisches Denken abgesprochen haben (z.B. Aristoteles 1100a), ist dies nicht voreilig als Missachtung kindlicher Fähigkeiten abzutun, sondern im Kontext seiner Theorie von Philosophie als Wissenschaft zu verstehen.

Dass und wie bereits für Kinder Philosophieren aber auch ganz konkret möglich, ja wichtig ist, lässt sich schon mit Autoren der griechischen Antike belegen, wenn etwa Epikur das Philosophieren für Alte wie auch für Junge sogar als notwendig erachtet, um ein glückliches Leben zu haben und führen zu können (Epikur, 1973, 39). Und um die Grundlage von Philosophie(ren) im philosophischen Fragen zu belegen, beruft sich auch PhmK gern auf Sokrates und seine Kunst des philosophischen Fragens und der Provokation zum selbstdenkenden Nachfragen. In der Neuzeit gilt neben Michel de Montaigne vor allem John Locke als Befürworter eines kindlichen (philosophischen) Nachdenkens (Locke, 1684). Als differenziertes Programm ist PhmK aber erst mit der Aufklärung Wirklichkeit geworden, vor allem durch Jean-Jacques Rousseau (vor allem 1762), aber auch Kant (z.B. 1786, 330; zum historischen Hintergrund genauer u.a. Freese, 1989, 35-45). Den aufklärerischen Impetus des Muts zum philosophischen Selberdenken hat dann explizit die Reformpädagogik aufgegriffen und erweitert durch Bildung in kommunikativer Auseinandersetzung, so John Dewey und in Deutschland Leonard Nelson und sein Schüler Gustav Heckmann mit seinem Konzept der sokratischen Gesprächsführung (1993). Daraus ist bis ins 21. Jahrhundert hinein eine breite pädagogische Bewegung mit oft auch explizit philosophischem Anspruch entstanden (vor allem Freese, 1989), sehr interessant in sachunterrichtlicher Perspektive mit sokratischer Klärung sogenannter Naturphänomene durch Martin Wagenschein (1975) oder Helmut Schreier (1993).

Als eigentlicher Begründer der Bewegung des PhmK aber gilt Matthew Lipman, nicht aufgrund einer philosophisch engagierten Pädagogik, sondern mit seinem professionell philosophischen Konzept: Sein in den 1970er Jahren gegründetes „Institute for the Advancement of Philosophy for Children“ hat Programme einer logisch-argumentativen Denkschulung entwickelt, für ältere Schülerinnen und Schüler „Harry Stottlemeier“ (Lipman, 1971), für jüngere Kinder „Pixie“. In ähnlicher Form, vielleicht etwas stärker an lebensweltlichen, nicht nur innerphilosophischen Fragen interessiert, hat in Australien Philip Cam (zuerst 1993) gearbeitet. Früh wurde an diesem Konzept jedoch moniert, ob hier nicht zu sehr instruktiv und verschulend philosophische Thesen, Positionen, Begriffe beigebracht würden, statt mit Kindern in ein durch sie selbst angestoßenes philosophisches Gespräch zu kommen. Auch der Titel „Philosophy for Children“ könnte eine auf kindliches Niveau reduzierte und damit dem Anspruch einer Anstrengung des Begriffs sich entledigende Praxis suggerieren, was der Philosophie ihre Provokation zu ständiger und je subjektiv zu realisierender Auseinandersetzung nähme.

Gareth B. Matthews und Ekkehard Martens haben sich darum bereits seit den 1980er Jahren auch in einschlägigen Veröffentlichungen gegen eine missverständliche Philosophie für Kinder programmatisch für ein Philosophieren mit Kindern eingesetzt (Matthews, 1980; Martens, 1982). Diesem Anspruch eines selbsttätigen, dialogischen und dabei auch begrifflich und argumentativ Probleme klärenden Philosophierens fühlen sich inzwischen alle wichtigen Initiativen verpflichtet, die das PhmK institutionalisiert haben, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in unterschiedlicher Ausrichtung, inhaltlich, konzeptionell wie vor allem altersbezogen (vgl. dazu früh Englhart, 1997). Zu nennen sind hier für den deutschsprachigen Raum zunächst die seit den 1980er Jahren arbeitenden Institute in Graz (Daniela Camhy) und für die jüngsten Kinder in Zürich (Eva Zoller-Morf), dann seit den 1990er Jahren diverse von Philosophie-Lehrenden gegründete schulische wie außerschulische Arbeitsgruppen und - Initiativen (vgl. Literaturverzeichnis), später neben vielen weiteren eher pädagogischen Initiativen die 2003 in München gegründete Akademie „Kinder philosophieren“ oder der Verein „denkart“ von Hans-Joachim Müller.

Angesichts vieler eher pädagogisch intendierter, weniger philosophisch konzipierter Initiativen wird seitens professioneller Philosophiedidaktikerinnen und -didaktikern eher gewarnt vor einem pädagogisch durchaus wertvollen, aus philosophischer Sicht aber zu offenen bzw. zu wenig differenzierten Konzept von Nachdenklichkeit, vor allem wenn die oben angeführte Ebene kritischer Auseinandersetzung und begrifflicher Klärung unterbelichtet wird zugunsten einer eher atmosphärischen Entfaltung von interessanten Bemerkungen und Meinungen.

In diesem Zusammenhang ist auch der zuweilen für das PhmK verwendete Ausdruck Kinderphilosophie missverständlich, als ginge es vor allem darum, Kindern und Jugendlichen für sie zurechtgeschnitten bzw. vereinfacht „große“ bzw. akademische Philosophie und in der Geschichte überlieferte philosophische Positionen näher zu bringen. Diesem Anspruch verdankt etwa Jostein Gaarders Buch „Sofies Welt“ seine Verbreitung; in seinen Details mit seinen eher schulmeisterlichen Skizzen tradierter Philosophen fördert es allerdings kaum selbstdenkendes und sich auseinandersetzendes Philosophieren. Die bessere Alternative bietet dafür die darauf beruhende, aber deutlich interaktivere Graphic Novel (Zabus/Nicoby, 2023) oder auch z.B. „Das Café der toten Philosophen“ (Nora K./Hösle, 1996), ein Briefgespräch bzw. eine dialogisch-erörternde Auseinandersetzung mit grundlegenden philosophischen Problemen (mehr Hinweise zum Philosophieren mit literarischen Texten vgl. → Philosophieren mit Kindern. Methoden, 5.1).

3. PhmK in institutionellen Bildungskontexten

Lipman und Matthews in den USA und Martens in Deutschland gründeten ihre Konzepte eines PhmK auf einschlägige in Kursen gewonnene Erfahrungen mit Kindern. Solche außerschulischen Philosophie-Kurse für Kinder werden in Deutschland heute in vielen Städten angeboten, oft im Rahmen sogenannter Kinderakademien, hier und da auch von geschulten Philosophinnen und Philosophen betreut. Für den schulischen Kontext werden seit längerem sogar von Hochschulen und Universitäten professionell und curricular institutionalisiert spezielle Seminare zum PhmK für Lehramts- und auch Frühpädagogik-Studierende ausgebracht, seit 1991 etwa in Heidelberg (Petermann), Ende der 1990er in Karlsruhe (Ralla und Marsall), seit 2014 in Chemnitz sogar mit einer ordentlichen Professur mit der expliziten Denomination PhmK (Kim).

Wichtige Voraussetzungen für die Implementierung von PhmK in pädagogischen Studiengängen in Deutschland sind a) die Etablierung von Philosophie/Ethik als ordentliches Unterrichtsfach im Schulsystem, b) die auf Bildung ausgerichteten Beschlüsse der Kultusministerkonferenz und dementsprechend ausformulierte Bildungspläne:

(a) Dass Philosophie/Ethik inzwischen ein in ganz Deutschland etabliertes ordentliches Schulfach ist, ist der zunehmenden demografisch verursachten Ausdünnung der konfessionellen Religionsunterrichte geschuldet: Der Philosophie-Ethik-Unterricht wurde in den 1970er Jahren zunächst eingerichtet als Ersatz- bzw. Alternativunterricht für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nicht am regulären konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen. Vor allem in größeren Städten besucht ihn bereits heute (2023) mit ansteigender Tendenz die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler, auch wenn er flächendeckend immer noch nicht für alle Jahrgangsstufen eingerichtet ist. In den meisten Bundesländern firmiert er als → Ethikunterricht, in anderen als Philosophieunterricht, z.B. „Praktische Philosophie“ in NRW, in Mecklenburg-Vorpommern (früher auch in Schleswig-Holstein) für die Sek I gar explizit als „Philosophieren mit Kindern“. Dass Philosophie und Philosophieren die Grundlage und Leitdisziplin für diesen Unterricht darstellen und PhmK dabei ein wesentliches konzeptionelles Element ist, ist unter professionellen Philosophiedidaktikern und -didaktikerinnen heute aber common sense und gilt als Voraussetzung für entsprechende Lehrbefähigungen.

In anderen Ländern gelten meist andere verfassungsrechtliche und bildungskonzeptionelle Rahmenbedingungen für ein schulisches Unterrichtsfach Philosophie/Ethik.

(b) Für Deutschland hat die Kultusministerkonferenz in einem grundlegenden Beschluss von 2008 länderübergreifend inhaltliche Anforderungen für Lehrerbildung in den einzelnen Schulfächern bestimmt. Dabei wird für das Fach Philosophie ausdrücklich „Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen“ genannt (KMK, 2008, 47f.). Entsprechende Inhalte und Kompetenzen wurden inzwischen in vielen schulischen und auch frühkindlichen Bildungsplänen ausformuliert (am ausführlichsten etwa in Mecklenburg-Vorpommern MBWK 2011). Das wird auch in einschlägigen Fachdidaktiken erläutert (z.B. Brüning, 2014, 2010, 2017; Petermann, 2020).

4. Durch PhmK anzustrebende Kompetenzen

Ohne auf aktuelle Debatten um Sinn und Unsinn der Kompetenzorientierung in Bildungszusammenhängen einzugehen, sei an dieser Stelle nur kompakt und in kritischer Absicht (dazu Dammer, 2023; für das Fach Philosophie Kirschner/Petermann, 2018) verwiesen auf grundlegende für Kinder und Jugendliche durch Philosophieren anzustrebende Ziele bzw. Kompetenzen. Diese wären für alle im PhmK möglichen Themen und Inhalte im Rahmen der drei in 1.2. skizzierten Perspektiven differenziert zu entfalten und zu erläutern (zu genaueren Erläuterungen vgl. Petermann, 2013):

  1. 1.Philosophieren als Gewahrwerden der verschiedenen anthropologischen Ebenen unseres Zugangs zu Welt,
  2. 2.Philosophieren als Einübung in die diversen aufeinander aufbauenden Formen des Denkens,
  3. 3.Philosophieren als zunehmende Einsicht in grundlegende Dimensionen bzw. Verortungen des Denkens.

Diese Ziele wie auch daraus abgeleitete einzelne Kompetenzen sollten jedoch im Kontext von Bildung (wie in bildungskonzeptionellen Debatten leider nicht selten) weder allgemein, noch speziell für philosophische Bildung verwechselt werden mit durch Unterricht zu erreichenden oder gar überprüfbaren Bildungsstandards oder gar mit sogenannten Operatoren, durch die Bildung bewerkstelligt werden könne. Insbesondere für das Fach Philosophie gelten vielmehr als zentrale Zielsetzungen bzw. Kompetenzen die bereits erläuterten Haltungen des Staunens, des Fragens, der Auseinandersetzung, der erörternden Klärung. Denn im Benennen bestimmter beim Philosophieren sinnvoller Ziele, inhaltlicher Problemstellungen, methodischer Erarbeitungswege impliziert Philosophie stets die kritische Relativierung bzw. Relationierung, im Prozess des Philosophierens als Ziel nicht eineindeutige Antworten zu produzieren, sondern unser Fragen, Zweifeln, Klären, Erkennen, Handeln stets weiter über gerade erreichte Kenntnisse und Erkenntnisse hinauszuführen, also bestimmte Einsichten und Wahrheiten weder als fixe Entitäten, noch relativistisch als reine Konstrukte misszuverstehen (vgl. u.a. Kant, 1788, 288-292; Aristoteles, 1104a), sondern prozessual als Geschehen zu begreifen, ausgerichtet auf Orientierungspunkte, die unser Denken als kritisch-reflexives und unser Leben als zu gestaltendes bestimmen. In diesem Sinne sind die Hinweise großer Philosophen zu Zielsetzungen von Philosophie ernst zu nehmen, auch als Ziel für das Philosophieren mit Kindern, nämlich mit und durch Philosophie gut leben zu lernen (exemplarisch dazu Aristoteles, 1103b, Zl. 26-30; Epikur, 1973, 39; Kant, 1786, 329f.; Henrich, 2007).

5. PhmK und religiöse Bildung

Im Zuge der Bewegung des PhmK ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch die Kindertheologie bzw. → Jugendtheologie entstanden. Im Unterschied zum Philosophieren bzw. zur Philosophie im Kontext anderer Fächer bzw. Fachbereiche spricht man hier allerdings nicht vom Philosophieren im Bereich von Religion bzw. im Religionsunterricht, sondern vom Theologisieren mit Kindern. Das scheint legitim, sofern es um spezifisch theologische und religiöse Themen und Fragen geht, die von Kindern auch aus theologischer und religiöser Perspektive aufgeworfen werden. In der religionsunterrichtlichen Praxis sind es aber oft allgemeine existentielle Fragen nach dem Sinn von Menschsein, Leben, Welt, die seitens der Kinder bzw. Jugendlichen gestellt und dann mit spezifisch religiösen Vorstellungen oder Glaubensaussagen ins Verhältnis gesetzt werden. Daher sollte man hier, auch unter Berücksichtigung des oft ungeklärten Verhältnisses zwischen Theologie und Philosophie (vgl. dazu Petermann, 2022), aus philosophischer Sicht nicht von einem Theologisieren mit Kindern sprechen, sondern vom Philosophieren im Religionsunterricht bzw. in religiösen Bildungs- und Gesprächs-Kontexten (vgl. u.a. Petermann, 2020). Diese Form des Philosophierens im Religionsunterricht unterscheidet sich dann aufgrund der Inhalte von einem Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen, in dessen Rahmen Zimmermann (2010) explizit von der Förderung einer „theologischen Kompetenz“ von Kindern spricht.

Im religionspädagogischen Raum sollte PhmK daher nicht identifiziert werden mit einer innertheologischen Klärung religiöser Fragen, sondern sich, verantwortet von philosophisch geschulten Lehrkräften, konzentrieren auf das quasi metatheoretische und kritische Problem, was es denn grundsätzlich auf sich habe mit der Ebene des Religiösen und des Glaubens und allenfalls in dieser Perspektive auch mit dem Sinn konkreter Glaubensaussagen und -zeugnisse, etwa von „Auferstehung“ oder jenes Jesus von Nazareth als „Christus“ bzw. des Buddha als „Erleuchtetem“.

Literaturverzeichnis

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  • Zimmermann, Mirjam, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2010.

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