Bilderbuch
Andere Schreibweise: engl. picture book; storybook
(erstellt: Februar 2025)
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1. Was sind Bilderbücher?
Als erstes „Bilderbuch“ gilt das von Johannes Amos Comenius 1657 geschaffene „Orbis sensualium pictus“ (Die sichtbare Welt). In ihm beschreibt und illustriert Comenius den gesamten Kosmos: Himmel und Erde, die Elemente, Pflanzen und Tiere, die Menschen und ihre Handwerke, Berufe, Künste, Wissenschaften, Tugenden und Laster, Spiele, Politik, Kriege, Religionen, Strafen etc. Die meist doppelseitigen Artikel sind links mit je einer nummerierten Abbildung und rechts mit sprachlichen Erläuterungen (Lateinisch und die Übersetzung in die Sprache des Erscheinungslandes) versehen. Das Buch war ein in Europa vom 17. bis zum 19. Jahrhundert weitverbreitetes Jugend- und Schulbuch und wurde auch zur häuslichen Erziehung herangezogen.
Die Weiterentwicklung des Bilderbuches weg vom reinen Erziehungs- und Lehrmedium fand erst im 19. Jahrhundert statt und ist deutlich durch die Spätromantik geprägt. Dort stand das empfindsame Wesen des Kindes im Zentrum und der romantischen Geisteshaltung entsprechend wurden in Bilderbüchern vor allem Volkslieder, Kinderreime, Märchen und traditionelle epische Geschichten illustriert.
Im Jahre 1845 erschien mit dem von Heinrich Hoffmann kreierten „Struwwelpeter“ das erste Bilderbuch, das sich gezielt an Kleinkinder wandte und wieder einen deutlichen erzieherischen Impetus verfolgte. Um die Jahrhundertwende zeigte sich dann eine Aufwertung der Bilder, die durch Einflüsse des Jugendstils und der Kunsterziehungsbewegung geprägt waren und sich deutlich mit dem Prinzip der „Kindgemäßheit“ auseinandersetzten und so zumindest versuchten, vom Kind her zu denken.
Jens Thiele (2003) unterteilt das moderne Bilderbuch in Bezug auf den Text in vier Unterkategorien: erzählendes Bilderbuch, Märchenbilderbuch, Sachbilderbuch und Spielbilderbuch. Des Weiteren unterscheidet er folgende Bildstile: grafischer Stil (Zeichnung, Betonung der Linien), malerischer Stil (Farbflächen dominieren), Karikatur (Reduzierung, Zuspitzung, Übertreibung), Fotorealismus (hoher Illusionsgrad), Abstraktion (nicht figurativ), Collage (geschnittene, gerissene Papiere).
Thiele (2003) unterscheidet außerdem drei Weisen, wie Bild und Text miteinander verknüpft sein können: (1) Bild und Text laufen parallel, (2) Bild und Text verhalten sich kontrapunktisch, (3) Bildgeschichte und Textgeschichte erzählen jeweils eigenständig. Bei Michael Steiger (2014, 15; Rekurs auf Maria Nikolajeva/Carole Scott, 2006) findet sich eine noch differenziertere Unterscheidung in (1) Bild und Text decken sich (Symmetrie), (2) ergänzen einander (Komplementarität), (3) unterstützen sich (Anreicherung), (4) setzen unterschiedliche Schwerpunkte (Kontrapunkt), (5) widersprechen sich (Kontradiktion).
Ob man angesichts der Wechselseitigkeit überhaupt noch von einer Dominanz des Bildes über den Text sprechen kann, ist fraglich und sicherlich abhängig von der Art des Bilderbuches. Zumindest ist es problematisch, Bilder „Illustration“ zu nennen (so aber viele Grundlagentexte wie: Hollstein/Sonnenmoser, 2012; Kretschmer, 2011, 34f.; Hollstein/Sonnenmoser, 2010; Thiele, 2000 u.a.); denn das suggeriert eine grundlegende Dominanz des Textes gegenüber den Bildern und unterschlägt die Eigenpotenz der künstlerischen Ausgestaltung. Man findet sogar Bilderbücher, für die die Bedeutung des Textes als eher untergeordnet angesehen werden kann, wobei es hierbei nicht nur um eine quantitative Einschätzung geht: Manchmal haben wenige Worte eine größere Bedeutung als ein im Vergleich dazu langer Text. Grundsätzlich gilt: Erst in Verbindung der textlichen und der bildlichen Narration werden beide „Texte“ auf eine vielschichtige Art und Weise zu einem Gesamttext. Zentral für das Bilderbuch ist deshalb, dass „sowohl der Bildtext als auch der Schrifttext, als [je] selbstständiger Bedeutungsträger“ (Kurwinkel, 2020, 201) zur Verfügung stehen und somit Text und künstlerische Bilder sich wechselseitig ergänzen (im Gegensatz zum → Comic
Von der Einschätzung als „Spezialkunst für Kinder“ (Thiele, 2005, 228) hat sich das Bilderbuch in den letzten Jahrzehnten dazu entwickelt, als komplexes, offenes Bild-Text-Medium gesehen zu werden, das aktuell neben kindlichen auch jugendliche und erwachsene Leserinnen und Leser anspricht und ansprechen soll (Thiele, 2011, 218; Kurwinkel, 2020, 201; Dammers/Krichel/Steiger, 2022). Bilderbücher werden sogar schon von den Verlagen als für Erwachsene und Kinder geeignet beworben und gehören somit zur „Crossover-“ oder „All-Age-Literatur“. Mit diesem Begriff werden seit Ende der 1990er-Jahre Texte bezeichnet, die die Grenzen zwischen Kinder- und Allgemeinliteratur überschreiten und für verschiedene Lesergruppen attraktiv sein wollen (Blümer, 2020, 8f.; Hoffmann, 2018).
Gerade weil das Bilderbuch in ästhetischer, narrativer und buchgestalterischer Hinsicht in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel vollzogen hat (vgl. Kurwinkel, 2020, 201; Dammers/Krichel/Steiger, 2022), wird es heute von Menschen unterschiedlichen Alters gelesen und sogar literatur- und medienwissenschaftlich oft hoch anerkannt.
Da sich Bilderbücher zu sehr vielen, vor allem erfahrungsorientieren, aber auch philosophisch bzw. theologischen Themen finden lassen (Übersicht nach Lehrplanthemen für den Religionsunterricht bei Zimmermann/Butt, 2016), bieten sie sich als optionales Leitmedium für den Religionsunterricht aller Schulformen an.
2. Qualitätskriterien für die Auswahl von Bilderbüchern für den Religionsunterricht
Deutlich kann man wie auch bei Kinderbibeln (→ Kinderbibel/Jugendbibel
- Hat der Text eine ausreichende literarische Qualität?
- Ist der Text an den Kriterien „einfacher Sprache“ (→ Sprache, einfache; Sprache, leichte
) orientiert bzw. setzt sie um? - Ist der Text (dennoch) sprachlich schön und bietet die Möglichkeit, sprachlich daran und damit zu lernen?
- Ist die Handlung in sich logisch konstruiert, und regt sie durch Leerstellen zur Imagination und zum Nachdenken an?
- Sind die gesellschaftlichen Interaktionen und die verwendeten Kommunikationen kindgemäß und trotzdem realitätsnah?
- Ist die Grundstimmung optimistisch und hoffnungsvoll?
- Finden sich Identifikationsangebote (u.a. für Jungen und Mädchen, für Kinder unterschiedlicher Herkunft)?
- Werden Fantasie und Realitätsbewusstsein gleichermaßen angesprochen?
- Werden geschlechtsspezifische und rassistische Rollenklischees und Othering-Prozesse vermieden?
- Kann die Handlung an reale Erfahrungen anknüpfen und zeigt sie (positive) Veränderungsprozesse (der Protagonisten und Protagonistinnen)?
Als Kriterien zur Prüfung theologischer Eignung bieten sich folgende Fragen an (vgl. Zimmermann/Butt, 2017):
- Werden im Sinne einer narrativen Identität elementare, auch religiös bedeutsame Erfahrungen und Fragehorizonte menschlicher Existenz anknüpfend an die Lebenswelt der Kinder eröffnet?
- Werden lebensweltlich-ethische Herausforderungen narrativ verarbeitet und kindgemäß veranschaulicht, so dass Wirklichkeitsspiegelung und Erfahrungserweiterung (siehe unten) ermöglicht werden?
- Kann ausgehend von der Lektüre sinnvoll über den Zusammenhang von Glauben, Werten, Normen und Handeln gesprochen werden?
- Wird im Sinne ethischen Lernens eine Deutungs- und Urteilskompetenz gefördert?
- Hilft die durch die Lektüre angeleitete Diskussion dabei, am (inter-)religiösen Dialog argumentierend teilzunehmen?
- Wird die religiöse Pluralität der modernen Welt authentisch dargestellt und kann damit Pluralitätsfähigkeit gefördert werden?
Als Kriterien der Bildbeurteilung kann folgende Liste dienen (teilweise angelehnt an Hollstein/Sonnenmoser, 2010, 38):
- Stehen Text und Bild in einem sinnvollen funktionalen Verhältnis zueinander?
- Sind Text und Bild im Zusammenhang verständlich, laden sie zum verweilenden Betrachten und Nachdenken ein?
- Werden illustratorische Stereotype des Niedlichen vermieden?
- Werden die Figuren angemessen inklusiv dargestellt?
- Wecken die Bilder Fragen und lösen Neugier aus?
- Sind die Bilder ästhetisch ansprechend?
- Ist die künstlerische Umsetzung in sich stilistisch stringent?
- Ist das Bild einfach und doch um Komplexität bemüht?
- Sind die Bilder der dargestellten Wirklichkeit angemessen?
- Wie stimmig ist der Bildrhythmus bzw. die Bildregie (Wechsel von doppelseitigen, ganzseitigen, halbseitigen Illustrationen)?
- Wird die Farbe als Bedeutungs- und Stimmungsträger genutzt (Farbregie)?
- Werden komplexe Sachverhalte durch Symbolverwendung unterstützt? Werden hier bildnerische Traditionen (Bildanspielungen) verwendet, als Zitate oder Variationen?
3. Didaktische Eignung für den Religionsunterricht
Es gibt unterschiedliche Zielperspektiven, Bilderbücher im Religionsunterricht zu verwenden, wie Wissen zu vermitteln, Sensibilität zu unterstützen, Ästhetik oder Ethik zu fördern, religiöse Fragestellungen zu umkreisen und natürlich auch der Wunsch, die Schülerinnen und Schüler zu unterhalten. Bilderbücher entfalten Themen sehr selten diskursiv, sondern fast immer erzählend, durch anregende Bilder begleitet. Die Zugänglichkeit zum Thema wird somit erhöht, und aufgrund eines gewissen Verfremdungseffektes ermöglicht es den Rezipierenden, über das Thema nachzudenken, verstärkt dadurch, dass die Perspektive der handelnden Figuren oder die Erzählhandlung selbst didaktisch genutzt werden können. „Die Beschäftigung mit Aspekten innerhalb einer Erzählhandlung kann helfen, sich Themen anzunähern, die erst in späteren Schritten als eigene erkannt und bedacht werden können“ (Mandalka/Peter, 2024, 6).
Bilderbücher eignen sich dann besonders gut für die unterrichtliche Nutzung, wenn sie in angemessener Sprache und ansprechenden deutungsoffenen Bildern in die erzählte Welt einladen und dabei möglichst auch Leerstellen zur Interpretation anbieten, die unterrichtlich so gefüllt werden können, dass die erzählte Welt ein Teil der Welt der Schülerinnen und Schüler wird (Wirklichkeitserschließung und Erfahrungserweiterung, siehe unten).
Bilderbücher werden mehrheitlich im Religionsunterricht der Grundschule verwendet, was sich auch daran zeigt, dass es z.B. in der Zeitschrift „Grundschule Religion“ eine durchgängige Rubrik „Bilderbuchstunden“ gibt, in der jeweils ein Bilderbuch vorgestellt und Ideen für den Unterricht skizziert werden (zusammenfassende Publikation: Kinder- und Bilderbücher im Religionsunterricht [Sammelband Grundschule Religion], Friedrich Verlag, Hannover 2020). Allerdings finden sich Verweise auf Bilderbücher auch in religionspädagogischen Zeitschriften, die sich auf die Sekundarstufe I und II beziehen, wie z.B. „Religion 5-10“ (Zimmermann, 2013; Zimmermann, 2016; Themenheft rpi-impulse, 2024).
Das Bilderbuch ist einerseits durch den meist knappen Text und andererseits durch die Verbindung von Text und Bildtext gerade für inklusive Kontexte (z.B. eingeschränkte Lesefähigkeit) und den begrenzten zeitlichen Rahmen einer 45 Minuten-(Vertretungs-)Stunde gut geeignet und kann den Unterricht inhaltlich medial bereichern, wie viele vorliegende attraktive Stundenvorschläge zeigen (Zimmermann/Butt, 2016; Friedrich Verlag, 2020; rpi-impulse, 2024)
Problematisch an der Verwendung von Bilderbüchern besonders in den ersten Klassen der Sekundarstufe ist, dass die Schülerinnen und Schüler den Eindruck haben könnten, dass sie als Heranwachsende nicht ernst genommen werden, wenn ein Bilderbuch als Leitmedium herangezogen wird. Dieser Einschätzung kann aber z.B. über die Aufgabenstellungen entgegengearbeitet werden (vgl. Zimmermann, 2024 und Beispiele unter 5.2).
Ob ein Bilderbuch thematisch und medial für die kompetenzorientierte Arbeit in einer spezifischen Religionsunterrichtsklasse geeignet ist, gilt es im Einzelfall zu prüfen (siehe oben, 2.). Vorschläge, bei denen mit einem Bilderbuch interessante Anforderungssituationen konstruiert werden oder Bearbeitungen zu schwierigen Themen wie Sterben/Tod, Flucht/Krieg auf elementarisierte Texte und weiterführende wertvolle Bilder im Bilderbuch zurückgreifen, gibt es viele (vgl. Zusammenstellung bei Zimmermann/Butt, 2016; rpi-impulse, 2024).
Für die individuelle Lernsituation ist zu prüfen, ob mit diesem Text-Bild-Medium „verfremdet an existenzielle[n] Erfahrungen“ (Mandalka/Peters, 2024, 6) angeknüpft werden kann und ob der Einsatz von Text und/oder Bild einen Mehrwert gegenüber dem Einsatz eines anderen Mediums bietet.
4. Lerndimensionen der Arbeit mit Bilderbüchern
Georg Langenhorst hat maßgeblich und viel zitiert die Lernchancen der Integration von Literatur in den Religionsunterricht zusammengestellt und spricht von fünf potenziellen „Gewinndimensionen“ (→ Link: Literatur im Religionsunterricht
Der Aspekt der (1) Textspiegelung kommt dann vor, wenn z.B. Bilderbücher zu biblischen Texten Gegenstand des Religionsunterrichts werden. Kontrastiert werden kann dann, wie die biblischen Texte im Vergleich zum Bilderbuch die biblischen Geschichten erzählen und in welcher Form die Bilder die (Sach-)Inhalte gestalten, umsetzen und damit interpretieren. Denkbar ist aber auch, das Bilderbuch statt des biblischen Textes zu verwenden und die Verwendung nicht explizit im Unterricht, sondern in der Planung zu reflektieren, weil der Text und/oder die Bilder anvisierte didaktische Kompetenzen bzw. Lernziele besser unterstützen als der Bibeltext aus einer kindgemäßen Übersetzung.
(2) Sprachsensibilisierung (→ Sprache
Das Bilderbuch transportiert, wie jede Literatur, Erfahrungen und bringt durch die knappen Texte solche oft tiefsinnig bildhaft und sprachlich verdichtet zum Ausdruck. Es befähigt Leserinnen und Leser so, diese Erfahrungen im literarischen Gewand probeweise selbst zu machen ([3] Erfahrungserweiterung). Dadurch wird ermöglicht, dass die je verschiedene Wirklichkeit durch die literarische Brille im Sinne von „Wer liest, lebt doppelt!“ erschlossen ([4] Wirklichkeitserschließung) und somit sowohl die Erfahrungen als auch die Wirklichkeiten der Schülerinnen und Schüler erweitert werden, indem z.B. auch Möglichkeiten der religiösen bzw. theologischen Weltdeutung eröffnet werden ([5] Möglichkeitsandeutung).
5. Thematische Beispiele
Der Bilderbuchmarkt hält ein reiches, vielfältiges Angebot bereit, das mittlerweile kaum noch überschaubar ist. Die Orientierung in und die Auswahl aus diesem (siehe oben 2.) ist der erste wichtige Schritt für die Verwendung von Bilderbüchern im Religionsunterricht. Im Folgenden sollen an Themen aus dem Religionsunterricht verschiedene Verwendungsmöglichkeiten im Blick auf die von Magda Motté (2011) unterschiedenen Gruppen von Bilderbüchern exemplarisch skizziert werden: ethisch-existenzielle, transzendental-religiöse, christliche.
5.1. Ethisch existenzielle Dimension: Thema Flucht (Beispiel Primarstufe)
In einer Zeit, in der viele Kinder in deutschen Schulen unterrichtet werden, die selbst oder zumindest in der Familie Fluchterfahrungen gemacht haben, bietet der Einsatz von Bilderbüchern zum Thema Krieg/Flucht viele didaktische Möglichkeiten. So finden sich neben einer Vielzahl von neu erschienenen Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern auch umfassende Forschungen nicht nur zur gegenwärtigen Fluchtliteratur in germanistisch fachwissenschaftlicher, sondern auch in literaturdidaktischer Perspektive (Wrobel/Mikota, 2017). Hier geht es jeweils darum, für „eines der anspruchsvollsten und komplexesten Themen der Gegenwart“ (Wrobel/Mikota, 2017, 10) zu sensibilisieren und Perspektivenübernahme im Sinne von „Wer liest, lebt doppelt“ anzuleiten: Fluchtliteratur bietet den Lesenden die Möglichkeit zur Immersion, also zum Eintauchen in eine andere, ihnen unbekannte Welt. Es wird aber ebenfalls Immersionsdistanz möglich, indem trotz emotionaler Beteiligung die Leserin bzw. der Leser eine gewisse Distanz zum literarischen Geschehen behält, die die Auseinandersetzung mit der Thematik unterstützt.
Man kann hier Bilderbücher von der Situation im Krieg bzw. der Flucht, wie z.B. Claude K. Dubois, „Akim rennt“ (Frankfurt a. M. 2013, 5. Aufl. 2016) oder Francesca Sanna, „Die Flucht“ (Zürich 2016) und Bilderbücher vom Einleben in der Fremde unterscheiden, wie z.B. Susanna Gómez Redondo / Sonja Wimmer, „Am Tag, als Saida zu uns kam“ (Wuppertal 2016) oder Kirsten Boie / Jan Birck, „Bestimmt wird alles gut“ (Leipzig 2016) (Zimmermann, 2017; Zimmermann, 2024). Die Intention der didaktischen Verwendung, d.h. die Zielperspektive ist jeweils unterschiedlich: Während es einmal eher um Erfahrungserweiterung geht, wird im Kontext des Einlebens der ethische Impetus deutlich, indem die Perspektiven der „neuen“ Kinder aufgezeigt werden, um die Schwierigkeiten der Geflüchteten zu veranschaulichen und sie in diesen zu unterstützen.
Sucht man im Kontext der Flucht-Bilderbücher nach Religion, gibt es im Gegensatz zum Kinder- und Jugendbuch kaum direkte Bezüge, die darauf verweisen, dass Religion Fluchtursache, Negativfolie, Orientierungsrahmen oder Identitätsanker sein kann (genaue Darstellung bei Zimmermann, 2017). Zielperspektive kann deshalb nicht sein, im Sinne der Textspiegelung oder der religiösen Sprachschulung oder Möglichkeitsandeutung zu arbeiten. Ethische Möglichkeiten im Umgang mit Geflüchteten werden allerdings in fast allen Bilderbüchern literarisch grundgelegt und können im Religionsunterricht didaktisch aufgenommen werden.
5.2. Transzendental-religiöse Dimension: Thema Gottesfrage (Beispiel Sek I und Sek II)
Bilderbücher wie z.B. Brunella Bald und Manuela Monari, „Der rote Faden“ (Innsbruck 2012); Kitty Crowther / Bernadette Ott, „Der kleine Mann und Gott“ (Hamburg 2012); Marie-Hélène Delval / Barbara Nascimbeni, „Wie siehst du aus, Gott?“ (Stuttgart/Wien 2011) oder Will Gmehlin / Wiebke Oeser, „Gott, der Hund und ich“ (Wuppertal 2016) stellen die Gottesfrage explizit und bieten Deutungsmöglichkeiten als Möglichkeitsandeutung an, zu denen sich die jungen Leserinnen und Leser (didaktisch angeleitet) verhalten können. Oscar Brenifier und Jacques Després gelang es, mit „Was, wenn Gott einer, keiner oder viele ist?“ (Stuttgart 2012) zum gleichen Thema sogar den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012 zu gewinnen. In der kinderphilosophischen Buchreihe finden der Philosophieprofessor und der Illustrator mögliche Antworten auf existenzielle Fragen, hier auf die Gottesfrage: Einer, Keiner oder Viele? Es gibt kaum ein Thema, bei dem die Vorstellungen der Menschen stärker auseinandergehen als bei der Frage nach Gott: Existiert Gott überhaupt? Wenn ja, ist er eine Person oder viele, oder ist er eine reine Kraft? Greift er in unser Leben ein, ist er dabei allmächtig oder machtlos? Auf den Doppelseiten werden mögliche, oft sich widersprechende Antworten zu den Themen Theodizee, Pantheismus, Mono- oder Polytheismus, zu Fragen der Buchreligion etc. angeboten. Wie schon in den Vorgängerbänden finden die kleinen futuristisch anmutenden Comic-Figuren mit ihrem überproportional großen Kopf Verwendung in den Illustrationen und zeigen im Bild, wie ihre Position zu einer bestimmten Frage konkretisiert werden könnte. Gerade diese Bild-Text-Arrangements sind gut geeignet, um über die philosophisch-theologischen Fragen auch mit religiös gemischten Lerngruppen ins Gespräch zu kommen und gemeinsam zu philosophieren (→ Kinderphilosophie
Der Inhalt des für Kinder konzipierten Bilderbuchs von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke, „Wo bitte gehtʼs zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen“ (Aschaffenburg 2007) erzählt folgende Geschichte:
Ein Ferkels und ein Igel finden eines Tages an ihrem Haus ein Plakat mit der Aufschrift finden: „Wer Gott nicht kennt, dem fehlt etwas!“ Deshalb machen sich beide auf die Suche nach Gott und befragen die Geistlichen der drei großen Buchreligionen – des Judentums, des Christentums und des Islam. Zuerst besuchen sie einen Rabbi, der ihnen von einem strafenden Gott erzählt; dann gehen sie zu einem Bischof, welcher ihnen vom Opfertod Jesu berichtet; zum Schluss gehen sie zu einem Imam, der die Hölle schildert, in der alle Nichtmuslime schmoren müssen. Das Ferkel hat nun erkannt, dass Gott ihnen und allen Menschen offenbar Angst machen will, und resümiert mit dem religionskritischen Satz: „Wer Gott nicht kennt, der braucht ihn nicht.“
Für dieses Buch hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007 die Indizierung als jugendgefährdendes Buch beantragt. Dieser Antrag wurde allerdings im März 2008 abgelehnt. Das Bilder- bzw. Kinderbuch, das auch wegen des Indizierungsantrags heftige Diskussion auslöste, kann in seinem Aufforderungscharakter z.B. in der Oberstufe zur Auseinandersetzung mit religionskritischen Schriften herangezogen werden. Es stellt beispielhaft einen aktuellen Entwurf religionskritischer und atheistischer Weltanschauung dar und nimmt das Lebensgefühl vieler Menschen auf, die innerweltliches Glück als zentrales Lebensziel ansehen. Religion wird in dieser Sichtweise als Ursache von Angst einflößender Repression dargestellt, die dem Streben nach Glück entgegenstehe.
In der Arbeit mit dem Buch kann und sollte herausgearbeitet werden, dass der im Buch vorgestellte Gott mit dem in Jesus Christus zutiefst menschlich begegnenden Gott keine Ähnlichkeit hat (Gottesbild).
Gabriele Obst hat im Rahmen eines kompetenzorientierten Unterrichts folgende konkrete Anforderungssituation entworfen, an der entlang sie eine Unterrichtsreihe konzipiert:
„Stell dir vor, du hättest ein Patenkind, das in diesem Monat seinen achten Geburtstag feiert. Du weißt noch nicht ganz genau, was du ihm schenken könntest. Ein Freund erzählt dir, dass er neulich ein interessantes Kinderbuch im Buchladen entdeckt habe: ‚Wo bitte gehtʼs zu Gott? fragte das kleine Ferkel‘. Du überdenkst den Tipp, willst aber nicht sofort Geld ausgeben, sondern dich erst einmal erkundigen.“ (Kaymer/Obst, 2010)
In der vorgeschlagenen Vorgehensweise wird anhand des Kinderbuchs zu folgenden Aspekten gearbeitet: Ist die Darstellung der drei Religionen sachgemäß? Hat die Darstellungsweise historische (z.B. antisemitische) Vorbilder? Vermittelt das Buch durch die Texte und Bilder antijudaistische, antichristliche oder antimuslimische Klischees? Wer sind die Verfasser und was ist ihr Hintergrund? Wie haben die Religionsgemeinschaften auf die Darstellung reagiert? Sollte man ein solches Buch auf den Index jugendgefährdender Schriften setzen?
Diese Auseinandersetzung kann einen Beitrag dazu leisten, dass Schülerinnen und Schüler in einen kritischen Diskurs um das Buch eintreten und damit die Relevanz der Auseinandersetzung mit medialer Religionskritik am Beispiel eines Kinderbuches erfahren (vgl. auch Zimmermann, 2013, 170)
5.3. Explizit christliche Dimension: Rechtfertigung
Das Bilderbuch „Du bist einmalig“ von Max Lucado und dem Illustrator Sergio Martinez (Holzgerlingen 13. Aufl. 2022) erzählt in leicht verständlichen Bildern vom Thema der Rechtfertigung. Die Handlung ist schnell zusammengefasst:
Punchinello gehört zu den Wemmicks, einem kleinen Volk von Holzpuppen, die alle von Eli, dem Schnitzer, gemacht worden sind. Alle Wemmicks leben in einem kleinen Städtchen und tun jeden Tag das Gleiche: Sie stecken sich gegenseitig goldene Sterne oder graue Punkte an, je nachdem, ob das, was sie tun oder wie sie aussehen, den anderen gefällt oder nicht. Punchinello ist einer von denen, dem nichts gelingt und der deshalb nur graue Punkte bekommt. Durch die schlechten Erfahrungen glaubt er schließlich, was die anderen über ihn sagen: Er ist kein guter Wemmick. Eines Tages trifft Punchinello auf ein Wemmick-Mädchen, das schon äußerlich ganz anders ist als alle anderen Wemmicks. An ihr kleben weder Punkte noch Sterne. Die Aufkleber halten einfach nicht an ihr. Punchinello fragt das Mädchen nach den Gründen dafür und Lucia antwortet, dass sie jeden Tag Eli, den Holzschnitzer, besuche. Das tut Punchinello nun auch.
Eli kennt seinen Namen und sagt ihm, dass es nicht wichtig sei, was die anderen Holzpuppen von ihm, Punchinello, hielten. Wichtig sei nur, was er, Eli, der Schnitzer, denke, nämlich, dass er, Punchinello, einmalig sei. „Denke immer daran“, sagte Eli, „(…) du bist einmalig, weil ich dich gemacht habe. Und ich mache keine Fehler.“ Punchinello fühlt die Wahrheit in Elis Aussage und die Erleichterung ist ihm anzusehen. Als er das erkennt, fällt ein Aufkleber auf den Boden.
Die Grunderfahrung des Menschen zwischen Gelingen und Scheitern können die Schülerinnen und Schüler in diesem Bilderbuch in gleichnishafter Verfremdung durch das Anheften von goldenen Sternen und grauen Punkten für Leistungen und Fehlleistungen wahrnehmen und appliziert auf ihr konkretes Leben deuten. Bezogen auf die religiöse Identität wird durch den zweiten Teil der Geschichte ein Deutungsangebot im Sinne der christlichen Rechtfertigungslehre gemacht, bei dem eine Auseinandersetzung mit Menschen- und Gottesbildern angebahnt wird, die das gnädige und befreiende Handeln Gottes am Menschen betonen. Die christliche Botschaft von der unbedingten Annahme des Menschen zielt darauf, den oben skizzierten Teufelskreis zwischen Anspruch, Scheitern, Selbstzweifel und Versagen als Folge davon zu durchbrechen. Wenn der einzelne Mensch sich von der Leistungsmoral befreien und sich Bedeutsamkeit durch Gott zusprechen lässt, findet eine heilsame Entlastung statt, die das Bilderbuch verständlich aufnimmt. Somit wird in Verbindung zu der Frage nach dem wahren Menschsein ein religiöser Bezug angeboten, das christliche Angebot kann geprüft und hinsichtlich seiner Lebenshilfe bewertet werden. Hierzu kann das Bilderbuch mit der kleinen gleichnishaften Geschichte vom Wemmick Punchinello und den illustrierenden Bildern als Leitmedium dienen.
Im Anschluss an die Erschließung der symbolisch zu interpretierenden Handlung kann z.B. im Blick auf Beichte/Buße als Rituale/religiöse Ausdrucksformen, die auf die Bedürftigkeit des Menschen im Umgang mit Versagen von der Kirche angeboten werden, weitergearbeitet werden. So können die Schülerinnen und Schüler die Bedeutung theologischer Deutungen wie die Rechtfertigung und religiöser Ausdrucksformen für den Umgang mit diesen existenziellen Erfahrungen des Scheiterns beschreiben und eine Perspektive für die eigene Haltung dazu entwickeln (vgl. Zimmermann, 2016).
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