Deutsche Bibelgesellschaft

Artefakte/Zeugnisse, religiöse

Andere Schreibweise: Zeug-nislernen; Lernen durch religiöse Artefakte; Heilige Gegenstände; Kultgegenstände; religiöse Zeug-nisse; Religio-prakt

(erstellt: Februar 2025)

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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400049

1.  Einführung

Mit dem Begriff des Zeugnislernens verbinden sich unterschiedliche Konzepte. Ihnen gemeinsam ist das Interesse, eine Lücke zu schließen, die durch ein Religionsverständnis entstehen kann, das stark von Glaubenssätzen sowie Erzählungen und Texten aus Heiligen Schriften geprägt ist. Gegenüber einem damit eher auf Lehrmeinungen, Narrationen und Innerlichkeit zielenden Ansatz werden beim Zeugnislernen das fühlbare, hörbare, riechbare Materiale und damit verknüpft – je nach Ansatz unterschiedlich gewichtet – auch die Erfahrungsdimension und das Rituelle stärker in den Vordergrund gerückt. Dem korrespondiert pädagogisch gesehen der Mehrwert, durch die entsprechenden Sinne andere Lern- und Erinnerungskanäle von Kindern bzw. Jugendlichen ansprechen und z.B. über das Ergreifen das Begreifen fördern zu können. Inhaltlich gesehen sollen mit dieser Akzentuierung Fragen der Lehre oder Erzählungen nicht ersetzt werden, vielmehr sollten sie sich durch die Zeugnisse erschließen bzw. mit diesen verbunden werden. Es geht also um eine Balance der unterschiedlichen religiösen Dimensionen sowie ein Austarieren der pädagogischen Zugriffsweisen. Zeugnislernen steht dementsprechend nicht für sich, sondern ist immer eingebettet in einen weiteren Rahmen. In der Literatur wird vornehmlich → interreligiöses Lernen mit diesem Vorgehen verbunden (siehe die Lit. dazu unten); weitergehend kann Zeugnislernen jedoch auch bei Themen der je eigenen Religion einen geeigneten Ansatz bilden, z.B. im Blick auf die Taufe (mit Taufkerze, Taufkleid, Taufurkunden, zum Teil Taufketten oder vor Ort auch dem Taufbecken). Hier ist die Bezeichnung „Zeugnis“ jedoch nicht so gängig.

Eine der Wurzeln dieser Herangehensweise liegt in der englischen Religionspädagogik. Dort hatte schon Ende der 1960er Jahre der Religionswissenschaftler Ninian Smart sein Konzept von sechs, später sieben religiösen Dimensionen eingeführt (Smart, 1969; 1989). Demzufolge sind neben den Dimensionen der Lehre, der Ethik und der Narrative bzw. Erzählungen ebenso die Dimensionen des Materialen, der Erfahrung, des Rituellen und der Gemeinschaft im Religionsunterricht zu berücksichtigen. Ende der 1980er Jahre wurde dann um ein Team von John Hull und Michael Grimmitt an der Universität in Birmingham ein Ansatz zu einzelnen (rituell geprägten) Elementen aus den unterschiedlichen Religionen entwickelt, der in Deutschland aufgenommen und hier zunächst von Meyer (1999/2012, 18-31;264-309) und dann von Sajak (2005, 299 u.ö.) mit dem Begriff des Zeugnislernens (oder mit Bindestrichen: Zeug-nislernens, siehe unten) verbunden und weiter geprägt wurde. Mit eigener Begrifflichkeit lässt sich hier auch Haußmann (2005 und 2008) einreihen. Entsprechend werden im Folgenden nach kurzen Hinweisen zum Begriff zunächst das Birminghamer Konzept und sodann die drei Ansätze von Clauß Peter Sajak, Werner Haußmann und Karlo Meyer aufgenommen, um mit zwei grundsätzlichen Präferenzfragen zu schließen.

Weitere ähnliche Zusammenhänge sowie thematische und methodische Kombinationsmöglichkeiten finden sich in den Artikeln zu → Religionskoffern, zu → Moschee-, Synagogen- und Tempelpädagogik bzw. damit verbunden ganz allgemein zu → außerschulischem Lernen. Hinzuweisen ist bei Zeugnissen aus der Kunstgeschichte auch auf didaktische Umgangsweisen mit Kunst (Gärtner, 2014) und damit verbundene Probleme (Meyer, 2017). Boehme ordnet die hier beschriebenen Lernprozesse unter „Interreligiöse Begegnungen mittels Medien“ ein (→ Begegnungslernen). Den weiteren Rahmen bildet das schon genannte → interreligiöse Lernen. Auf ähnliche Ansätze aus jüngerer Zeit in der Geschichts- und Museumspädagogik verweisen Kamçılı-Yıldız, Sajak und Bamberger (2022, 6).

2. Varianten der Begrifflichkeit

Bezeichnung und Ansatz können sich beim Zeugnislernen deutlich unterscheiden. Während John Hull als Autor des Birminghamer Konzepts vom Lernen mit einem numen spricht und dabei eine besondere religionsspezifische Erfahrungsdimension (in lockerem Anschluss an Rudolf Otto) stark macht (Hull, 1996), spricht Werner Haußmann schlicht, methodisch orientiert, von „Lernen mit religiösen Artefakten“ (2005). Karlo Meyer betont demgegenüber didaktisch ausgerichtet die Melange von Transzendenzbezug, Hilfsmittel bzw. Werk-zeug-charakter (in Ritualen) und Be-zeug-ung einer anderen, für viele fremden Erfahrungswelt, die er mit der Schreibweise Zeug-nis (mit Bindestrich) ausdrückt (Meyer, 1999/2012, 18-31;264-309 und 2019, 216-232). Clauß Peter Sajak und Stephan Leimgruber nehmen den Begriff mit diesen Bezügen auf, verzichten aber auf den Bindestrich; sie stellen ähnlich den Fremdheitscharakter heraus, betonen jedoch weniger die rituelle Einbindung (Sajak, 2005, 76; Sajak, 2010, 62-71; Leimgruber, 2001, 78-80; Leimgruber, 2007, 108-110, wobei Leimgruber seine Quellenangabe vernachlässigt; zur Rezeptionsgeschichte vgl. Sajak, 2005, 76).

Sajak hält fest:

„Der Begriff des Zeugnislernens überzeugt auch deshalb, weil er die beiden Konstituenten des Lernprozesses – Lernende wie Lerngegenstände – durch die Dynamik des Zeugnis-gebens integral verbindet und deutlich macht, dass die ausgewählten Gegenstände immer auch ‚von einer höheren Wirklichkeit‘ zeugen und zugleich als Rüst- und Werkzeuge ‚der Beziehung zwischen dem Glaubenden und der göttlichen Macht dienen‘ (Meyer, 1999/2012, S. 19) sollen“ (Sajak, 2023, 18).

Klepper (2023, o.S.) spricht im Zusammenhang der → Religionenkoffer-Methodik vom Lernen mit „zentralen Kultgegenständen“. In jüngerer Zeit hat Meyer im Zuge seiner stärkeren Ritualeinbindung pointierend vorgeschlagen, auf den Begriff Artefakt (im Sinne von „mit-Kunst-Gemacht“) zu verzichten und stattdessen von „Religio-prakt“ zu reden (also: „mit-Religion-Praktiziert“), um sowohl den Religions- und damit Transzendenzbezug als auch den praktischen Charakter als Werkzeug der Religionsausübung zu betonen (Meyer, 2019, 363; 2021, 244). Die unterschiedlichen Hintergründe werden im Folgenden näher ausgeführt.

3. A Gift to the Child, religious items und numen – der englische Ansatz von Hull und Grimmitt

Ende der 1980er Jahre entwickelte ein Team um John Hull und Michael Grimmitt an der Universität Birmingham das Konzept „A Gift to the Child“ und das gleichnamige Lehrerhandbuch (Grimmitt/Grove/Hull/Spencer, 1991, zur Entstehung: 6-7 https://bigideasforre.org/a-gift-to-the-child/). Die Idee bestand darin, für die Vorschule und den Primarbereich in didaktisch verantworteter Reduktion bewusst nur einen kleinen, sehr konkreten Ausschnitt einer Religion aufzunehmen, um von da aus Grundlegendes zum entsprechenden Glauben verdeutlichen zu können und zugleich Kindern aus anderen Religionen über diesen Ausschnitt Impulse zum eigenen existentiellen, weltanschaulich-religiösen Denken zu geben (sogenannte „Gaben“, engl. Gifts). Ausgewählt wurden Elemente, die einerseits charakteristisch für die jeweilige Glaubensgemeinschaft waren und sich andererseits über die Grenzen ihres unmittelbaren Religionsbezugs so ansprechend für alle Kinder erwiesen, dass sich aus dem Material auch jenseits der betreffenden Religionsbezüge eigene Gedanken um grundlegende Fragen entwickeln konnten.

Ausgewählt wurden in einem ersten Band der muslimische Gebetsruf, katholischerseits die Marienerscheinungen von Lourdes, die Hindu-Gottheit Ganescha (Menschenkörper mit Elefantenkopf), evangelischerseits der Ruf „Halleluja“ (u. a. mit Bezug zu Händels Messias), die musikalisch interpretierte Vision Guru Nanaks aus der Religion der Sikhs (Nanak’s Song) usw. In einer zunächst im Eigenverlag veröffentlichten Anschlussversion (Grimmitt/Grove/Hull/Tallem, 2006) traten u. a. noch ein buddhistischer Mönch mit seiner Lebensweise und das Malen einer Ikone hinzu.

Die Kinder im Unterricht wurden nun unmittelbar mit diesem Stück Religion z.B. in Form einer Statue (Ganescha, Lourdes-Maria) oder eines Hörbeispiels (Gebetsruf, Nanaks Lied, Halleluja) konfrontiert, um so eine Begegnung auf der Ebene der Sinneserfahrungen zu ermöglichen. Erst in folgenden Schritten wurde der jeweilige religiöse Kontext über eine Bezugsperson und ein Bezugsritual eingeführt.

Die Autoren und Autorinnen des Teams schlugen vier Schritte vor, die von zwei konzeptionellen Bewegungen begleitet sein sollten:

1. Engagement (die sinnenbetonte Konfrontation mit dem Stück Religion, Laute zum Hören, eine Statue zum Fühlen etc.)

2. Discovery (die Entdeckung dieses Stücks Religion, in der Regel verbunden mit einer Geschichte, die Hintergründe zu diesem Stück etc., diese Phase wird bei Hull später auch „Exploration“ genannt, Hull, 1996, 176)

3. Contextualisation (der Einbezug einer Fotoreihe über ein Kind aus dem jeweiligen Glauben, bei dem das Stück Religion zur Anwendung kommt bzw. in das Leben integriert ist)

4. Reflection (die Aufnahme von Impulsen, die durch das den meisten anderen Kindern fremde Material auch in deren Bezügen zum Weiterdenken und -arbeiten anregen kann) (Grimmitt/Grove/Hull/Spencer, 1991, 8-11).

Der letzte Punkt bildet gleichsam die Pointe des Konzepts: „[T]he gifts emerge as a result of the interaction between the child and the material“ und führen zu einem offenen Prozess des Weiterdenkens in der gesamten Lerngruppe (Grimmitt/Grove/Hull/Spencer, 1991, 12).

Zwei zugehörige konzeptionelle Bewegungen begleiten diese Phasen: zunächst das Entering, die Einbindung der Kinder in die narrative, fühlbare oder lautliche Welt des religiösen Stücks, verschränkt mit einer Bewegung des Distancing, der gezielten Distanzierung gegenüber der fremd bleibenden anderen Religionswelt, die einer religionsvermischenden Rezeption wehrt und gerade angesichts der engen inneren Beschäftigung mit dem Stück Religion ihre Bedeutung hat (Grimmitt/Grove/Hull/Spencer, 1991, 9-11).

Theoretisch verbunden wurde dies mit religionenübergreifend psychologischen Anknüpfungspunkten, die von Kapitel zu Kapitel variieren. Dies reicht von Winnicotts Übergangsobjekten (im Blick auf Marienvisionen und -statue) über Freuds Ödipuskomplex (beim Elefantengott Ganescha) bis zu Anleihen aus Rudolf Ottos Sicht auf numinose Erfahrungen, die sich John Hull zufolge mit allen diesen Religionsstücken verbinden können. In Ableitung von letzterem wurden die religiösen Stücke, wie oben bereits in Abschnitt 2 erwähnt, als numen bezeichnet, um so auch die transzendenten Erfahrungsbezüge zu betonen.

Der Entwicklungsprozess des Konzepts war eher pragmatisch, indem (gerade auch im Vorschulbereich) in Versuchen erhoben wurde, welche numen und welche Vorgehensweisen für jüngere Kinder ansprechend waren und vertiefende Reflexion über Religiöses und Weltanschauungen ermöglichten.

Die folgenden drei deutschen Autoren haben sich auch theoretisch intensiv mit diesem Material beschäftigt und nehmen in unterschiedlichen Graden darauf Bezug.

4. Lernen von religiösen Artefakten – Werner Haußmann

Haußmann greift andernorts zwar auf Analysen der englischen Situation zurück (Haußmann, 1993), bleibt in seiner Artefakt-Konzeption bei der Bezugnahme jedoch zurückhaltend. Das Spezifikum seines Ansatzes besteht darin, in seinen Ausführungen besonders die Handgreiflichkeit konkreter Gegenstände hervorzuheben, also die „Be-Hand-lung“ ihrer „sinnliche[n] Qualität“, durch die sich unterschiedliche Ebenen „‚Berührung‘ (‚berührt sein‘), ‚Begreifen‘ (‚Ergriffen-Sein‘) oder ‚Sehen‘ (‚Einsicht‘)“ verbinden können (Haußmann, 2005, 29).

Im Anschluss an Meyer hält Haußmann fest: „Sie repräsentieren … mehr als sie darstellen; sie haben also einen verweisenden … Charakter [und sind] für den Gebrauch durch die Gläubigen hergestellt“ (2005, 26).

Statt existentieller Aufgabenstellungen und einer eigenen Reflexionsphase wie in England hebt er pragmatische Aspekte hervor. So betont er, dass jeweils bestimmte Regeln im Umgang mit religiösen Gegenständen zu beachten sind, die sich durchaus unterscheiden (Koran auch im Stuhlkreis nicht auf dem Fußboden, beim Kreuz jedoch durchaus, vgl. das eigene Materialblatt zu Regeln M1, 2005, 34). Um Kontexte der Artefakte einzuspielen und zugleich den Anschluss an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten, setzt er auf „Erzählungen aus den Weltreligionen“ (2005, 29). Ziel ist dabei angesichts der Gegenstände und ihrer Hintergründe eine „(inter)religiöse Religionskunde“, eine fachliche „Sprachlehre“ für die Schülerinnen und Schüler sowie „(inter)religiöse Orientierung … im Blick auf eigene religiöse Entscheidungen“ (2005, 29, Kursive wie Original). Letzteres wird dabei allerdings nicht weiter ausgeführt. Während er 2005 noch eine nach Religionen geordnete Liste möglicher Artefakte präsentiert, verbindet er diese 2007 – in gewisser Anlehnung an die religionswissenschaftliche Unterscheidung von Dimensionen – mit einer Systematik und unterscheidet die Kategorien „Religion & Alltag … Feiern & Feste … Glaube & Gemeinschaft … Lehre & Schriften“ (2007, 49).

Ausdrücklich zu würdigen ist bei diesem Ansatz die Betonung hand-greiflicher Erfahrung und der Umgangsregeln im Klassenraum. Gegenüber dem englischen Ansatz tritt die Frage des existentiellen Austauschs der Kinder und Jugendlichen jedoch deutlich zurück. Es geht den Aufgabenstellungen zufolge vor allem um Vergleiche, In-Beziehung-Setzen, Hineinversetzen, zum Teil um „Vor- und Nachteile“ (2005, 38), also primär um eine religionskundliche Erschließung. Etwas vage bleibt auch die Matrix der Kategorien mit Alltag, Festen, Gemeinschaft und Schriften, bei der einige Zuordnungen etwas willkürlich anmuten (z.B. Symbole unter Alltag, Jenseits unter Gemeinschaft, vgl. 2007, 49).

5. Zeugnislernen (ohne Bindestrich) als artefaktorientierte Methode im trialogischen Lernen – Clauß Peter Sajak

Deutlich stärker als Haußmann lehnt sich Sajak an das Birminghamer Konzept an (vgl. u.a. Sajak, 2018, 61-64). Dabei greift er auf den von Meyer etablierten Zeugnis-Begriff zurück (siehe unten Abschnitt 6).

Ähnlich wie der Birminghamer Entwurf und Haußmann soll die Auswahl repräsentativ für eine Religion und im Anschluss an Klafki fundamental für die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern sein (Sajak, 2023, 23). Die Unterscheidung von vier Phasen des methodischen Vorgehens entspricht dem Birminghamer Vorschlag: „Beteiligung, Entdeckung, Kontextualisierung, Reflexion … [wurden] für jedes Zeugnis mit einer unterrichtspraktischen Konzeption ausgefüllt“ (Sajak, 2010, 62-71). In der ersten Auflage seiner Unterrichtsmaterialien „Kippa, Kelch, Koran“ (2010) wird die letzte Phase der Reflexion in den Aufgaben noch zurückhaltender als bei Grimmitt und Hull ausgestaltet; sie findet sich eher vereinzelt – z.B. in der Diskussion zur Darstellbarkeit Gottes (100, vgl. 106), in Rückfragen zu Erinnerungen, aus denen wir schöpfen (117), Fragen zu Intimität und Kleidung (182), beim Hinduismus zu Reinheit (240), beim Buddhismus zu Mitgefühl (266) etc. Die Phase der Kontextualisierung wird ausführlicher aufgenommen, jedoch inhaltlich verlagert. In den entsprechenden Abschnitten geht es weniger um visuelle Darstellungen der Anwendung des jeweiligen Zeugnisses am Beispiel der Praxis eines englischen (bzw. deutschen) Kindes wie bei Grimmitt und Hull, sondern primär um die Erarbeitung sachbezogener Hintergründe, z.B. um biblische oder koranische Textarbeit (115;180-181), Klärung dogmatischer und ritueller Grundvoraussetzungen (zum Kelch: 86; zum Rosenkranz: 98) oder einen Lehrervortrag zu Tradition, Geschichte, Form und Funktion eines Zeugnisses (zu Almosenschale: 276). Bei Grimmitt und Hull wäre dies wohl eher unter der Phase sachlicher Erkundung (discovery) eingeordnet worden. Der Kontextbegriff wird hier also deutlich anders gebraucht.

In der zweiten Auflage, die zusammen mit Naciye Kamçılı-Yıldız und Gabriela Schlick-Bamberger verantwortet wird (Kamçılı-Yıldız/Sajak/Schlick-Bamberger, 2022), tritt nun die Reflexionsphase nach jeweils einführenden Kapiteln stärker hervor (vgl. 2022, 42;47;52;72;76;81;85;92;96 usw.). So sollen die Kinder z.B. beim Thema Zedaka-Büchse überlegen, wo und wie sie ihren Mitmenschen Gutes tun wollen (42), zu Channukka, wo sie in ihrem Leben göttliches Licht erfahren haben (47), zur Kippa, wie sie Ehrfurcht ausdrücken (52), oder zum Koranständer, was ihnen heilig ist (92). Bei den christlichen Beispielen findet sich diese Akzentuierung durch existentielle Fragen in den ersten Abschnitten allerdings weniger (beim Kreuz stattdessen Entdeckung von Kreuzen im Alltag, 58, oder beim Thema Taufe Fragen nach eigener Taufkerze, 62).

Zur Auswahl der Materialien führt Sajak aus: „Theolog*innen und Religionswissenschaftler*innen [wurden] gebeten, fünf exemplarische Zeugnisse aus dem Judentum, dem Christentum und dem Islam auszuwählen“ (Sajak, 2023, 22). Dabei beschränken sich die Autoren nun auf drei Religionen, konkret das trialogische Lernen. Wie schon in der ersten Ausgabe wird jedoch auf eine visuelle Kontextualisierung (wie eine bildliche Darstellung der Rituale um die jeweiligen Zeugnisse) verzichtet – der Birminghamer Vorläufer setzt hier auf sehr viel anschaulichere Einbettungen.

Tendenziell wird in flankierenden Veröffentlichungen von Sajak das Sachwissen in den Lernprozessen betont. So hält er im Zuge einer Evaluation fest, dass in einem entsprechenden Unterricht Wissen zu den Zeugnissen „signifikant zunahm [und] … das Zeugnis in seinem konkreten Gebrauch besser korrekt erläutert werden konnte“. „[A]bstrakte Begriffe und Bezeichnungen … [konnten] wesentlich besser … zugeordnet werden“ (Sajak, 2023, 24). Von gemeinsamen Diskussionen zu existentiellen Fragen oder (sicherlich empirisch schwieriger zu erhebenden) Lernerfolgen beim Perspektivenwechsel und beim Umgang mit der Fremdheit der Zeugnisse ist in dieser Untersuchung nicht die Rede.

Kritisch bleibt zu fragen, ob nicht ein stärkeres Einbeziehen von (für die meisten Schülerinnen und Schüler) fremden Kontexten und konkrete Darstellungen ritueller Gebrauchsweisen der Zeugnisse für den Lernprozess hilfreich wären (Meyer, 2019, 389-390).

6. Zeug-nislernen (mit Bindestrich) unter Pointierung der bleibenden kontextuellen, rituellen und transzendenzbezogenen Fremdheit – Karlo Meyer

Deutlich anders akzentuiert Meyer (1999/2012; 2019; 2021): Sein Ausgangspunkt ist die Berücksichtigung des Ineinanders von Annäherung und bleibender Fremdheit, wie sie bei Grimmitt/Grove/Hull/Spencer (1991) durch die Lernbewegung des Entering und Distancing methodisch vorgeschlagen, aber dort theoretisch nicht unterlegt wurde. In Rückgriff wie auch Abgrenzung von klassischer Hermeneutik (Gadamer, Heidegger u. a.) schlägt Meyer eine Anbahnung von interreligiösen Verstehensprozessen vor, die didaktisch die bleibende Fremdheit nicht aus den Augen verliert, sondern immer wieder einspielt. In dieser Linie versteht er religiöses Material im Blick auf seine Einbettung in der schulischen Kultur als Gegen-stand, etwas, das auch gerade mit seinem Transzendenzbezug im Unterricht widerständig und fremd bleibt, statt in der Lernkultur angeeigneter Wissensbestände aufzugehen; der Bindestrich macht darauf aufmerksam.

Im Blick auf die Aufgabe religiösen Lernmaterials im Lehr-Lernprozess redet er darüber hinausgehend vom Charakter als Zeug-nis (ebenfalls mit Bindestrich, Meyer, 1999/2012, 18-31;264-309). Auf Ebene der Interaktion im Unterrichtsgeschehen geht es darum, mit diesem zweiten Begriff und der Schreibweise deutlich zu machen, dass Artefakte, Texte, Musikalia etc. einerseits gewissermaßen Werk-zeuge der Glaubenden im Umgang mit transzendenzbezogenen Handlungen sind und andererseits gegenüber anderen, hier vornehmlich den Schülerinnen und Schülern, zu Zeugen dieses Gebrauchs und des damit verbundenen fremden und fremd bleibenden Transzendenzerlebens werden. Sie zeugen also von Erfahrungen aus einem anderen Kontext, die im Rahmen schulischen Unterrichts bewusst nicht repliziert bzw. nachgemacht werden. Als Gegen-stand und Zeug-nis haben sie die Doppelrolle des „Fremdbleibens“ im schulischen Unterricht und des „Zeugens“ von einem anderen, einem religiösen Ritual- und Erfahrungsraum (Meyer, 2019, 216-232).

Um das Bezeugen von Gebrauch und Erleben der Glaubenden methodisch zu vertiefen, greift Meyer auf Fotos und Filme mit jugendlichen Individuen zurück, die den Umgang mit diesen jeweiligen Zeug-nissen darstellen und zugleich ihre Transzendenzerfahrungen im Lernmaterial vor Augen und zu Ohren führen. Die besagte Doppelrolle wird auf diese Weise methodisch umgesetzt.

Auf einer pragmatischen Ebene motivieren darüber hinaus nach Meyer (2019, 385) Fotos und Filme gleichaltriger Schülerinnen und Schüler zum weiteren Nachdenken. Das mediale Einbringen von Individuen in Filmen und das auf diesem Weg geförderte individuelle Weiterdenken der Lernenden wird von Meyer als „doppelter Individuenrekurs“ bezeichnet und ist eng mit dem Zeug-nis-lernen verknüpft (Meyer, 2019, 360-365 u. ö.).

Meyer grenzt sich von den anderen beiden beschriebenen deutschen Ansätzen insofern ab, als er es für unabdingbar hält, mit den Zeug-nissen die konkrete, individuelle In-Gebrauch-Nahme darzustellen. So hilfreich sinnenorientiertes Lernen bei den Artefakten selbst ist, so wichtig bleibe es auch, deren religiösen Kontext sowie den Transzendenzbezug durch entsprechendes Foto-, Audio- und Videomaterial bzw. lebendige Schilderungen konkret vor Augen zu führen, um so den Gegen-stands-charakter bewusst zu halten. Sein Lernmaterial ist daher weniger durch isolierte Lernobjekte und angefügte verbale Erklärungen geprägt als durch mediale Präsentation von Ritualen, bei denen diese Gegen-stände individuell in Gebrauch genommen werden (Meyer, 2006; 2008; 2015). Dabei kommt aus seiner Sicht noch ein weiterer Aspekt zur Geltung, der bei textförmigen Darstellungen übergangen zu werden droht. Meyer zeigt bewusst Kinder und Jugendliche aus dem deutschsprachigen Raum, mit ihren eigenen Weisen des Umgangs mit dem Zeug-nis, die z.B. familiär geprägt sein können. So entsteht für die Lernenden aus der gleichen Religion der Freiraum, auch andere, ebenso individuelle, aber z.B. leicht abweichende Umgangsweisen einzubringen. Aus Meyers Sicht fördert gerade die individuelle Note die Einsicht in die Diversität religiöser Formen und Ansichten (im Unterschied zu enzyklopädisch, verallgemeinernden Aussagen).

Zur weiteren Pointierung schlägt er vor, wie oben angesprochen, religionsdidaktisch statt des Begriffs Arte-fakt (mit-Kunst-gemacht) den Neologismus Religio-prakt (mit-Religion-durchgeführt) einzuführen und so den weiteren Handlungskontext zu betonen.

Auf Ebene der Methodik liegt ihm an drei Eckpunkten bzw. Bausteinen, die ineinandergreifen können und von der Reihenfolge nicht festgelegt sind (vgl. bereits Meyer, 1999/2012, 289-290). Ähnlich den vorangehenden Autoren geht es zunächst darum, der Wahrnehmung des Gegen-stands bzw. Religio-prakts Raum zu geben und inhaltliche Zusammenhänge zu klären. Ein zweiter Baustein ist (im Unterschied zu den vorgestellten Ansätzen) das Einspielen von Fremdheitsmarkern angesichts der Andersartigkeit des Zeug-nisses im Unterrichtsraum (Meyer, 2019, 391-395, vgl. 1999/2012, 290 methodische Rituale); dies können verfremdende Schreibweisen sein (wie „G’tt“ im Judentum), spezifische Farben (wie grün für Islamisches oder arabische Schrift), eine Rahmung der Unterrichtsstunde durch Laute bzw. Musikalia (Gebetsruf, Meyer, 2006, oder Sch’ma Jisrael, Meyer, 2008), aber auch ein fremdes Individuum selbst mit seinen fremd-bleibenden Glaubensansichten. „Der dritte Baustein besteht in Raum und Zeit zur Findung und Vertiefung eines Themas [auf der Ebene innerer existentieller Auseinandersetzung], das weiter verfolgt werden soll und das den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit läßt, für sich selbst Fragen und Positionen neu zu bestimmen und untereinander auszutauschen“ (Meyer, 1999/2012, 304).

Kritisch ist hier zu fragen, ob nicht (unterrichtspragmatisch) auch ohne bildlich oder filmisch präsentierten Individuenbezug ein verbaler (Diversität betonender) Hinweis auf den Transzendenz- und Gebrauchscharakter ausreichend ist, wie Haußmann und Sajak ihn erläutern. Deutlich werden in jedem Fall die damit verbundenen unterschiedlichen Gewichtungen im Blick auf Kontexte, bleibende Fremdheit und Transzendenzbezug.

7. Fazit

Abschließend ist festzuhalten, dass es eine Frage persönlicher Präferenzen bleibt, ob die Präsentation von Kultgegenständen, Artefakten bzw. „Religio-Prakten“ schlicht mit Wahrnehmung und Informationen verbunden wird oder ob sie darüber hinaus der medial sichtbaren Einbindung in Gebrauchszusammenhänge durch Individuen bedarf. Außerdem ist zu klären, inwieweit der Umgang mit bleibender Fremdheit dieser Zeugnisse bzw. „Zeug-nisse“ auch als Teilziel einer Unterrichtsstunde im Hintergrund stehen soll.

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