Deutsche Bibelgesellschaft

Platonismus

(erstellt: Oktober 2023)

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1. Platon

Platon gilt als einer der bedeutendsten antiken griechischen Philosophen († 348/347 v. Chr. in Athen). Er ist Schüler des Sokrates und Gründer der Platonischen Akademie, der ältesten institutionellen Philosophenschule Griechenlands, von der aus sich seine Lehren über die antike Welt verbreiteten. Als Denker und Schriftsteller widmet sich Platon der Erkenntnistheorie und Ethik, der Kosmologie und Anthropologie sowie der Staats- und Kunsttheorie. Sein bevorzugtes Darstellungsmittel ist der literarische Dialog, in dem er verschiedene Denkansätze in einen lebendigen Diskurs führt, ohne dass immer ersichtlich wäre, welche Quellen er aufgreift und welchen Ansichten er selbst zuneigt bzw. welche er eigenständig entwickelt. Charakteristisch ist dabei sein Rückgriff auf religiös- mythische Motive und handwerklich-lebenspraktische Zusammenhänge, um die Anschaulichkeit und Lebendigkeit seiner Dialektik zu befördern.
Eine seiner philosophischen Hauptfragen ist, wie gesichertes Wissen über richtiges Denken und Handeln erlangt und von bloßen Meinungen unterschieden werden kann. Dies führt ihn von den wandelbaren Objekten der Sinneserfahrung zu unkörperlichen und unveränderlichen Gegebenheiten einer rein geistigen Welt der sogenannten „Ideen“ als Ur- und Vorbildern der Sinnendinge. Jedes Element der physischen Welt hat Anteil an der Idee, deren Abbild (eikōn, eidōlon) es ist. Die Idee bestimmt ursächlich dessen Sein und Beschaffenheit.
Anthropologisch kommt die Ideenlehre in der Auffassung der Seele (psychē) als immaterielles, dem Leib übergeordnetes und unsterbliches Prinzip des Lebens zum Ausdruck (vgl. Meyer, 76–85). Sie ist prä- und postexistent, existiert also vor der Entstehung des Leibes und besteht nach seiner Auflösung unversehrt fort. Die Seele vermag als Vernünftiges (logistikon) geistige Entscheidungen zu treffen, integriert aber die irrationalen Elemente des Begehrens (epithymētikon) und des Muthaften (thymoeides), wie das berühmte Gleichnis von einem geflügelten und zu dem „überhimmlischen Ort“ (Phaidros 247c) der Ideenwelt auffahrenden Seelengespann zum Ausdruck bringt (Phaidros 246a–250c). Die Seele erlangt Harmonie, wenn der vernünftige Seelenteil über die anderen beiden Teile dominiert (vgl. Politeia 438d–441c; 443c–445e). Ontologisch stellt sie ein Mittleres zwischen Sinnen- und Ideenwelt dar (vgl. Szlezák, 307).
Der Körper gilt als „Gefäß“, „Wohnstatt“ der Seele, negativ ausgedrückt als ihr
„Grab“ oder „Gefängnis“ (vgl. Gorgias 493a; Kratylos 400c; Phaidros 250c). Dementsprechend bedeutet der Tod die Befreiung der Seele vom Materiellen und führt zu Erkenntnis. Konnte sie im Leib nur zwischen Sinnen- und Ideenwelt vermitteln, vermag sie die Ideen nun ungetrübt von „Gehör, Gesicht, Schmerz und Lust“ (Phaidon 65c) zu schauen. Ihr ethisches Handeln gibt ihr Individualität und entscheidet über ihr Schicksal nach dem Tod. Gegenüber der archaischen Zeit, die in der postmortalen Seele nur ein Schattenbild (eidōlon) des lebendigen Selbst sehen konnte, wird die Seele zum den Körper dominierenden „Selbst“ des Menschen (vgl. die klassische Darstellung von Rohde). Der Seele ist Erkenntnis möglich, da sie in der Präexistenz die Ideen unmittelbar schauen konnte und sich dieser Schau auf Erden nun zu erinnern vermag (zum Theorem der Anamnesis vgl. Menon 81aff.; Phaidros 248a–250c). Damit hat die Seele eine ins Jenseits übergreifende Biographie vor und nach ihrer irdischen Existenz. Im Hintergrund steht der orphisch-pythagoreische Glaube an eine Seelenwanderung. Das ethische Bemühen und die Ideenschau früherer Leben entscheiden über die Aussicht, auf Erden und im Jenseits Glück zu erlangen (Szlezák, 339). Von Platon gibt es drei eschatologische Mythen, in denen er seine philosophische Sicht in die überlieferte Bilderwelt vom Hades aus der orphischen Mysterienreligion einträgt (Gorgias 523a–527a; Phaidon 110b–115a; Politeia 614b–621b). Wichtige Themen sind Lohn und Strafe sowie die Wahl der Lebenslose.
Der platonische Seelenbegriff bestimmt über die Anthropologie hinaus auch die Konzeption der Welt (vgl. Szlezák, 309f). Alle Bewegung und alles Leben wird von der Weltseele gelenkt, selbst die Gestirne, das „himmlische Geschlecht der Götter“ (Timaios 39e). Auch die Seele selbst ist göttlich, aber nicht ein Letztes und Ungewordenes, sondern das Erste unter den gewordenen Dingen (vgl. Nomoi 892a). Der sichtbare Kosmos als Abbild der intelligiblen Welt ist ein durch des Gottes Fürsorge „beseeltes und vernunftbegabtes Lebewesen“ (Timaios 30b). Die Welt muss „dem vollkommenen und von der Vernunft erkennbaren Lebewesen so ähnlich wie möglich sein“ (39e) und daher verschiedene, den vier Elementen entsprechende Arten von Lebewesen enthalten: „die eine der Götter himmlisches Geschlecht, eine andere das geflügelte, die Luft durchwandelnde, die dritte die im Wasser hausende Art, die vierte die auf ihren Füßen wandelnde und auf dem Festland lebende“ (39e–40a). In dieser prallen Lebensfülle ist der Kosmos „ein wahrnehmbarer Gott“ (Timaios 92c). Mit der Verankerung dieser keine Lebensleere duldenden Weltordnung in der Vernunft des Demiurgen tritt Platon Lehren entgegen, die die Welt entweder als materiell-atomistische (Demokrit) oder als bewegungslose (Parmenides) beschreiben.
Für ein Verständnis der platonischen Kosmologie ist die im Timaios verwendete metaphorische Sprache zu beachten. Da die sichtbare Welt nur Abbild der intelligiblen ist, kann der kosmologische Diskurs auch nur eine „wahrscheinliche Darlegung“ bzw. „Mythos“ (eikōs logos / mythos; Timaios 29b–d) sein (Poetsch, 320–322). Darunter fällt insbesondere die Rede vom Demiurgen, der als göttlicher Handwerker aus der präkosmischen „Chora“ die sichtbare Welt entstehen lässt (vgl. Schwindt, 2022, 105–115). Er ist kein Schöpfergott im Sinne einer creatio ex nihilo, sondern Bearbeiter und Former des Vorhandenen. Viel diskutiert wird die Aussage, dass der Kosmos geworden sei (Timaios 28b). Denkt Platon an ein einmaliges historisches Ereignis oder an ein überzeitliches Geschehen, das sich nur der didaktischen Anschaulichkeit halber eines zeitlichen Moments bedient? Handelt es sich um eine einmalige Schöpfung oder eine creatio continua? Da Platon in Timaios 28b die Welt als Gewordenes bezeichnet, die Seele in Phaidros 245c–d aber als ungeworden, scheint er die Weltentstehung als einen ständigen Prozess zu verstehen, wobei zwischen Ewigkeit und Zeit zu unterscheiden ist (vgl. Erler, 456f.).
Auch in seiner Kosmographie und →Dämonologie zeigt sich Platon dem Mythischen zugeneigt (vgl. Schwindt, 2022, 99–104.116f.). So vertritt er die sich bei Parmenides und den Pythagoreern andeutende Vorstellung einer kugelförmigen Erde, die inmitten der Himmelskugel platziert ist, doch bleibt unklar, ob Platon die Erdkugel als eine rein ideelle oder reale Größe angesehen hat. Dies hat zur Konsequenz, dass die Erdoberfläche als raumkonstituierendes Zentrum und Orientierungspunkt im Kosmos aufgegeben wird und zwischen Erde und Himmel eine Kluft aufreißt, die einen bedrohlichen horror vacui entstehen lässt. Platon sieht sich daher genötigt, auf „das Daimonion“ als eine Mittlergröße zurückzugreifen, die zwischen den Sphären vermittelt (Symposion 202d–203a). Das Dämonische füllt den Zwischenraum zwischen Gott und dem Sterblichen aus und erbringt Dolmetscherdienste, da Gott nicht unmittelbar mit den Menschen verkehrt. Diese mythisch-philosophische Dämonenlehre ist von einigen Akademikern und Mittelplatonisten weiter entfaltet worden.

2. Platonismus, Mittelplatonismus

Platons Schriften sind in der Antike in hohem Maß schulbildend geworden.
„Platoniker“ erhielten entweder eine Ausbildung an der von Platon begründeten Akademie oder knüpften ausdrücklich an Platons Lehren an, setzten aber auch eigene Akzente. Meist unterteilt man den antiken Platonismus in die Ältere Akademie (von Platon bis Krates von Athen), die Jüngere Akademie (von Arkesilaos bis Philon von Larisa), den Mittelplatonismus und den Neuplatonismus. Während die Ältere und die Jüngere Akademie die Ideenlehre bzw. die damit verbundenen ontologischen Prämissen skeptisch betrachtete und zum Teil ablehnte, steht der Mittelplatonismus, der die Zeit des Neuen Testaments umspannt, für eine Überwindung der Skepsis und Rückbesinnung auf Platons Lehre.
Der Begriff des „Mittelplatonismus“ ist nicht leicht zu bestimmen (vgl. Eisele, 138– 142). Wie schon das Präfix „Mittel-“ suggeriert, wird er meist definiert über seine zeitliche Erstreckung zwischen der skeptischen Phase der Akademie und den Vorläufern Plotins, der den Neuplatonismus repräsentiert (so z. B. Zintzen, IX). Damit ergibt sich eine Zeitspanne von ca. 80 v. Chr. bis 220 n. Chr. Versucht man dagegen eine inhaltliche Qualifizierung, stößt man auf einen Grundbestand von drei minimalen Gemeinsamkeiten, die die platonische Philosophie dieser Zeit bezeugen: die Transzendenz Gottes, die Existenz der Ideen (als Gedanken Gottes) und die Unsterblichkeit der Seele (Klauck, 124; Rich). Die Rückbesinnung auf Platon geht mit der Rezeption von Elementen aus anderen Philosophenschulen einher. So findet sich im Mittelplatonismus der Logosbegriff aus der aristotelischen Logik, die Zahlenlehre des Neupythagoreismus und Philosopheme aus der Stoa. Zu Letzterer ist dennoch eine klare Grenze gezogen. Die Stoa postuliert zwar eine Zweiheit der beiden Prinzipien des „Tätigen“ und des „Leidenden“, versteht diese aber als Grundmomente des einen, unvergänglichen Seins und das in materialistischer Weise. Eine davon abgetrennte Ideenwelt kennt sie ebenso wenig wie einen transzendenten Schöpfergott. Theologisch führt die stoische Immanenz zu einem →Pantheismus, der dem platonischen Weltbild entgegengesetzt ist (vgl. Klauck, 90). Diese Differenz dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich der Platonismus in hellenistisch-römischer Zeit gegenüber der Stoa mit eigenem Profil behaupten konnte.
Die Quellenbasis für den Mittelplatonismus beschränkt sich auf wenige Autoren, von denen besonders zwei rezeptionsgeschichtlich von Bedeutung sind: Plutarch und →Philo von Alexandrien.

2.1. Plutarch von Chaironeia

Der griechische Historiker und Philosoph Plutarch (ca. 50 n. Chr.–120 n. Chr.) hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das sich in philosophischer und kosmologischer Hinsicht eng an Platon anlehnt. In seinen religionsphilosophischen Schriften wie z. B. dem Dialog De E apud Delphos tendiert er „zu einer Art modalistischem Monotheismus“ (Eisele, 157). So kann jeder der traditionellen Gottheiten als „der Gott“ die transzendente Welt zentral repräsentieren. Da nicht einmal die Sonne diesem Gott in ihrem göttlichen Wesen gleichkommt, ist er radikal transzendent gedacht.
Diese Diastase führt Plutarch wie Platon zu einer Dämonologie der Vermittlung zwischen Himmel und Erde und Ausfüllung aller Weltenräume (vgl. Schwindt, 2002, 229–238). Daneben kennt Plutarch dem Menschen beigesellte Schutzdämonen, die teils als selbständige Geister geschaffen sind, teils als Totengeister mit irdisch-menschlicher Vergangenheit. Die damit gegebene Verbindung von Dämonologie und Seelenlehre bestimmt auch Plutarchs eschatologische Mythen, die an das platonische Vorbild, aber auch an die Seelen- und Affektenlehre des Stoikers Poseidonios anknüpfen (vgl. Klauck, 135–139; Schwindt, 2002, 237). Kern von Plutarchs Seelendämonologie ist die Vorstellung vom Dämon als einer sich läuternden und gen Himmel strebenden Totenseele. Trost und Zuversicht vermögen keine Botendämonen oder die Götter selbst, sondern nur der Glaube an eine kosmische Ordnung zu geben, die dem Menschen über den Weg seiner eigenen postmortalen
„Dämonisierung“ Unsterblichkeit verleiht.

2.2. Philo von Alexandrien

Der jüdische Religionsphilosoph und Bibelexeget Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr.–45 n. Chr.) zeigt sich der platonisch-akademischen Traditionslinie eng verbunden. Die vorrangig exegetischen Interessen und seine allegorische Methode bedingen allerdings eine mangelnde Systematik seiner Diktion, die meist übergangslos theologische, kosmologische und soteriologische Gedanken aneinanderreiht. Philos kosmologische Hauptschrift De Opificio Mundi bietet eine am Timaios orientierte Exegese der →Schöpfungserzählung Gen 1 (Runia). Der Einfluss des Timaios zeigt schon die von Philo häufig gebrauchte Bezeichnung „Demiurg“ für den göttlichen Weltbildner. Philo nimmt aber eine erhebliche Umprägung vor, wenn er den Demiurgen mit dem biblischen Schöpfergott zusammenbringt (vgl. Schwindt, 2022, 143–153). Die Welt entsteht durch einen zweistufigen Denkvorgang, nach welchem Gott sich zuerst in seinem Verstand (theios logos), der als Ort (topos) seiner Kräfte vorgestellt wird, eine gedachte Welt entwirft, um aus diesem Urbild aus präexistenter Materie die sinnlich wahrnehmbare Welt entstehen zu lassen (De Opificio Mundi 20).
Im Hinblick auf sein Bestreben, griechisch-philosophisches und biblisches Denken zusammenzuführen, orientiert der Alexandriner seine Schöpfungsvorstellung aber nicht nur an Platon, sondern auch am Mittelplatonismus mit der Grundfrage, wie die Vermittlung zwischen dem transzendenten „überdrobigen Gott“ (hyperanō theos) und dem Kosmos zu denken ist. Zu nennen ist besonders Eudoros (vgl. Männlein-Robert), dessen Transzendenzspekulation von der pythagoreischen Lehre der ersten Prinzipien ausgeht. Danach wird ein oberstes Prinzip vorausgesetzt, „das Eine“ genannt, und darunter ein Paar von Gegensätzen: eine Monade und eine Dyade als ihr Gegenteil (vgl. Dillon, 1981, 17–19). Eudoros setzt das oberste Eine zum kausalen Prinzip von Monade und Dyas an und nennt es den „obersten Gott“. Dieser kann als ein transzendentes Schöpferprinzip gedacht werden, sofern anders als in der Kosmologie des Timaios das oberste Eine Urheber sowohl der Ideen als auch der Materie ist (Dillon, 1981, 30, Anm. 15). Philo knüpft offensichtlich daran an, sofern das transzendente Eine seinem Schöpfergott bzw. seinem Logos, die Monade dem in Gen 1,1–5 erschaffenen Ideenkosmos und die Dyade der noch präexistenten Materie entspricht. Während aber Eudoros (im Sinne einer symbolischen Deutung der Weltbildung des Timaios) das Verhältnis des obersten zum zweiten Einen als statisches Kausalverhältnis fasst, geht Philo in biblischen Bahnen von einem realistischen Verständnis aus mit der Annahme eines mit der Zeit entstehenden Weltanfangs.
Sowohl in biblischer wie in platonischer Sicht ist die sichtbare Welt eine mit Lebewesen ausgefüllte Welt. Philo übernimmt diese Vorstellung in enger Anlehnung an Platon (De Providentia 2,110), weitet die kosmische „Fülle“ aber in mittelplatonischer Manier in die unsichtbare Welt des Logos hin aus (Schwindt, 2022, 153–156). Der göttliche Logos repräsentiert einen Raum, „den Gott selbst ganz und gar mit unkörperlichen Kräften ausgefüllt hat“ (De Somniis 1,62). Dem Logos mit seiner Eigenschaft, ein von Logoi erfüllter Raum zu sein, kommt in der philonischen Kosmologie und Soteriologie eine zentrale Bedeutung zu. In der Rolle des aktiven Prinzips aus der mittelplatonischen Prinzipienlehre vermittelt und repräsentiert er Vernunft und Macht des Schöpfergottes. Als von körperlosen Kräften ausgefüllter Raum steht der Logos für die weltzugewandte Seite Gottes (De Confusione Linguarum 136.172).
Das Philo in seiner Logoslehre beschäftigende Problem vom Verhältnis zwischen Transzendenz und Immanenz reflektiert er auch angelologisch und dämonologisch (vgl. Eisele, 196–240; Schwindt, 2022, 154–156). In De Gigantibus 6 beschreibt er die Engel als „in der Luft fliegende Seelen“, sieht in ihnen also keine selbständigen Geistwesen. In Gen 6,2 hat er keine Gruppe von gefallenen Engeln im Sinn der →Apokalyptik im Blick, sondern in Körper abgestiegene Seelen, die sich von den anderen „reinen“ Seelen, die dem Schöpfer als Gehilfen zur Aufsicht über die Sterblichen dienen, getrennt haben (De Gigantibus 12). Die Begriffe „Engel“ und „Dämonen“ sind in Philos Allegorese im Falle ihrer Inkorporation nur Metaphern, um das Ethos der menschlichen Seele zum Ausdruck zu bringen.
In →Jakobs Traum der Himmelsleiter (De Somniis 1,141f.) identifiziert Philo die auf- und niedersteigenden Engel (Gen 28,12) als zwischen Gott und Menschen „vermittelnde und schlichtende Logoi“ (De Somniis 142), deren Gott sich bedient, um den Menschen Strafen oder auch Wohltaten zukommen zu lassen (De Somniis 143). Aufsteigend ziehen sie die Seele vom Sterblichen weg in die Höhe zur Gottesschau, absteigend heilen und beleben sie die im Körper hin und her gerissene Seele. Das Bild von bösen Geistern, die sich im „Seelenhaus“ des Menschen niederlassen, von guten Geistern aber vertrieben werden, um die Seele zu bereiten, „Gottes Haus zu werden, ein heiliges Heiligtum“ (De Somniis 149), klingt deutlich an neutestamentliche Stellen an (z. B. Mt 12,22–30.43–45). Platonische Vorstellungen evoziert auch Philos Modell vom Aufstieg der menschlichen Seele in den Raum des Logos (vgl. Schwindt, 2022, 157–161; Heininger, 193–202). Vorbilder sind die Sinaibesteigung des Mose und Jakobs Traum von der Himmelsleiter. Der Mensch besitzt eine „denkende Seele“ (logikē psychē), die durch den Logos ein Prägebild des göttlichen, unsichtbaren Pneumas wird (De Plantibus 18). Diese Seelennatur, die der Exeget mit Gen 2,7 und Gen 1,27 begründet, erweist den Menschen als ein „himmlisches Gewächs“ (phyton ouranion; De Plantibus 17), das sich vor den anderen Lebewesen durch seine aufrechte Haltung auszeichnet, die ihn über das Sichtbare der Himmelsschau das Unsichtbare und eigentlich Seiende erfassen lässt (De Plantibus 21). Der im Weiteren von Philo dargelegte „Zug des Geistes zum Seienden“ (De Plantibus 21) orientiert sich an Platons Seelenflugmythos, allerdings in einer akademischen Schultradition, die neben platonischen auch neupythagoreische Elemente verarbeitet (Boyancé, 45–53). Für Philo ist der überhimmlische Ideenort Platons identisch mit dem Logos, der als Ort der Ideenkräfte diese „aufnimmt und ihnen Raum gibt“ (De Opificio Mundi 20). Der zum Logos aufgestiegene Mose wird zu einer aktiven Heilsmittlergestalt, zum „prophetischen Logos“ (De Congressu 170) und „tönenden Instrument Gottes“ (Quis Rerum Divinarum Heres 259).
Dem Logos kommt eine Herrscherstellung über den →Kosmos zu, sodass er als „Band des Alls“ und als „Haupt aller Dinge“ alle Weltteile ordnend verknüpft und fürsorglich zusammenhält (De Fuga et Inventione 112; Quaestiones in Exodum 2,117). Diese herrscherliche Kosmosdurchwaltung des Logos wird öfters auch als „Erfüllen“ beschrieben (Quis Rerum Divinarum Heres 188; Frgm. 6 aus Quaestiones in Exodum). Philo kennt auch den „ekklesiologischen“ Gedanken, dass die Logoi einen „einheitlichen Körper“ (sōma henōmenon; De Somniis 1,128) bilden, dessen oberster Logos als Haupt fungiert. Die Inspirierten steigen auf an den Ort des Logos und gehen in die nach Art eines Leibes vorgestellten göttlichen Ideen ein. Das Einswerden mit dem Wesen des Logos lässt sie an dessen fürsorgender Weltregierung teilhaben.

3. Platonismus und Neues Testament

Schon die Septuaginta und die jüngeren griechisch verfassten Schriften des Alten Testaments zeigen Anklänge an pagan-hellenistische Vorstellungen in Anthropologie und →Eschatologie (Kaiser, 2003, 106–117). Dies setzt sich in Teilen des neutestamentlichen Schriftkorpus fort. Das die Zeitenwende bis in spätrömische Zeit prägende Nebeneinander philosophischer Strömungen belegt anschaulich die Begegnung des →Paulus mit epikureischen und stoischen Philosophen in Athen (Apg 17,18; vgl. Cuany). In seinen Briefen zeigt sich der Apostel zumindest rudimentär auch mit Vorstellungen der akademisch- platonischen Gedankenwelt vertraut. Da solche jedoch oft mit anderen philosophisch-religiösen Strömungen in Verbindung treten, wird man nur selten exklusiv Platonisches im NT benennen können. Die neuere Forschung ist sich bewusst, dass philosophische Diskurse im NT allgemein weniger genealogisch als strukturell-analog abgebildet werden. Man wird daher nur mutatis mutandis von platonisierenden Einflüssen sprechen können. Hierfür in Frage kommen unter den Evangelien besonders die des Lukas und Johannes, unter den übrigen Schriften die Paulusbriefe, die Deuteropaulinen →Kol und →Eph sowie der →Hebräerbrief.

3.1. Das Lukasevangelium

Der Himmel im Gegenüber zur Erde wird bei →Lukas stärker als bei den übrigen Synoptikern als göttliche Sphäre der Verheißung und des Heils gezeichnet. Die Zeitachse, entlang derer sich die Gottesherrschaft ausbreitet, ist wesentlich räumlich konzipiert. Wie bei den anderen Synoptikern öffnet sich der Himmel in besonderen Offenbarungsmomenten (Taufe und Verklärung Jesu), bleibt aber der Ort göttlicher Transzendenz. Diese Zweiteilung wird auch nach Jesu Tod nicht aufgehoben, doch öffnet sich der Himmel dem reuigen Schächer am Kreuz – exemplarisch für alle Menschen – als „Paradies“ vollendeter Christusgemeinschaft (Lk 23,43). Die hier offenbar zugrundeliegende Individualeschatologie eines postmortalen Eingangs der Seelen in das jenseitige Paradies weist auf eine dual platonisierende Anthropologie, die Leib und Seele/Geist im Menschen unterscheidet, über den Tod hinaus.

3.2. Das Johannesevangelium

Im →vierten Evangelium ist das räumlich-dualistische Denken in Kosmologie und Anthropologie weiter ausgezogen. Auch wenn iranische, apokalyptische oder prägnostische Strömungen hier ebenfalls eine Rolle spielen könnten (vgl. Frey / Schnelle), dürfte die vom Platonismus inspirierte frühjüdische Weisheitstheologie das joh Denken stärker beeinflusst haben. Dies gilt besonders für den Prolog Joh 1,1–18 mit seiner frühjüdischen Vorlage. Näherhin ist es die in der frühjüdischen Religionsphilosophie als Logostheologie konzipierte Vorstellung von der präexistenten Weisheit aus Spr 8 und Sir 24, die Joh 1 christologisiert (vgl. Theobald, 106–108). Auch wenn Philo nicht der einzige Logostheologe gewesen sein mag und als direkte Vorlage für Joh 1 nicht erwiesen werden kann, reflektieren beide die gleiche Frage nach dem Seinsverhältnis von Schöpfergott und Weltschöpfung (Siegert; Leonhardt-Balzer). Die Offenbarungs- und inkarnationstheologische Ausrichtung von Joh unterscheidet ihn aber deutlich von dem Logos als Inbegriff der platonisch vorgestellten Gedankenwelt Gottes.

Die präexistent-himmlische Herkünftigkeit Christi prägt über den Prolog hinaus das gesamte Evangelium. Wie die Platoniker deutet Joh die Welt in ihrem Sein und Sosein von einem Vorgängigen und Übergängigen her. Über dem messianischen Offenbarer ist nicht nur der Himmel dauerhaft geöffnet (Joh 1,51), sondern er ist auch „von oben her“ (Joh 8,23). Joh braucht keine Geisterwelt, die zwischen oben und unten vermittelt, da sich im auf- und absteigenden Menschensohn Himmel und Erde vereinigen (Joh 3,13). Er ist es auch, der den Menschen nach seinem Aufstieg die himmlischen Wohnungen bereiten wird (Joh 14,2–3). Neben dieser Zukunftsperspektive findet sich eine Eschatologie, nach der die an Christus Glaubenden schon in der Gegenwart das Heil der Gottesgemeinschaft erfahren (Joh 5,24–25; 11,25–26). Die Gottesschau wird der joh Gemeinde bereits jetzt geschenkt (Joh 1,14). Auch die platonische Schau der Ideenwelt beginnt im Hier und Jetzt und führt zu einer Verwandlung der Seele, zu einem Erfülltsein von Gott, das ihn aus menschlichen Bestrebungen heraustreten lässt (Phaidros 249c–e).

3.3. Paulus

Die religiös-kulturelle Verwurzelung des Paulus im Frühjudentum geht mit einer Vertrautheit mit Grundlinien der damaligen philosophischen Schulen einher, wie nicht nur die lk Areopagrede, sondern auch Stellen aus seinen Briefen belegen. Die jüngste Forschung hat sich der Frage nach der Philosophizität des Apostels intensiv zugewandt (Dodson/ Pitts; Malherbe; Vollenweider). Seine Auseinandersetzung mit philosophischen Methoden und Inhalten geschieht in Anknüpfung und Widerspruch. Letzterer baut sich vor allem in seiner Verkündigung des „Wortes vom Kreuz“ (1 Kor 1,18) auf. Die erlösende und neuschöpferische Kraft des →Kreuzestodes Christi steht für eine Weisheit, die derjenigen der Welt diametral gegenübersteht und aus deren Perspektive nur als „Torheit“ gelten kann (1 Kor 1,20), im Licht des Gottes Jesu Christi aber – ganz wie der Anspruch des Platonismus und anderer Philosophien – Verborgenes enthüllt, Gleiches durch Gleiches erkennt und eine übersinnliche Einsicht verspricht.

In der Beschreibung der Gottes- und Christusbeziehung der Glaubenden bedient sich Paulus des Paradigmas der Teilhabe (Schnelle), und zwar in einer Weise, die an die platonische Seinslehre erinnert. Für die platonische Philosophie stellt die „Teilhabe“ (methēxis) „eine im Ansatz substanzialistische Basiskategorie“ (Vollenweider, 663) dar, die von Paulus aber wesentlich dynamisch, personal und relational gedacht wird. Christsein ist Teilhabe am gekreuzigten und auferstandenen Kyrios und Sohn Gottes.
Die leibliche Dimension dieser Teilhabe, die in Korinth für die Verstorbenen in Frage gestellt wird, diskutiert Paulus mittels einer protologischen Eschatologie, die sich ebenfalls im Platonismus und hellenistischen Judentum zu findender Argumentationsmuster bedient (Schwindt, 2022, 280–312). In seinem Plausibilisierungsversuch, eine transzendente Auferstehungsleiblichkeit für die Christusgläubigen zur erweisen (1 Kor 15), greift er auf die platonischen Denkmuster der Andersheit und der kosmischen Lebensfülle zurück. Allerdings wollen sowohl die auf Gottes Schöpfungstun beruhende Andersheit zwischen dem „nackten Samenkorn“ und der Pflanze als auch die Andersheit zwischen den Körpern (sōmata) der irdischen und der astralen Lebewesen nicht die Differenz zwischen Schöpfung und Gott markieren, sondern die wundersame, in zahlreiche Lebensformen gegliederte Schöpfungswirklichkeit hervorheben, und zwar mit der Intention, die Leugner einer leiblichen Auferstehung von der Wirklichkeit einer himmlisch-pneumatischen Leibexistenz zu überzeugen. Diese übersteigt zwar alle Formen psychischer Leiblichkeit, bleibt aber Teil von Gottes Schöpfung und bedeutet daher für Paulus auch keinen Bruch mit der „natürlichen“ Leiblichkeit von Pflanzen, Lebewesen und Gestirnen. Der für Paulus entscheidende Aspekt der „Leiber“ ist offensichtlich ihre Räumlichkeit, auch wenn er dies nicht direkt ins Wort bringt. Über den Leib ist jedem Geschöpf ein Ort im Raum der Schöpfung zugeordnet. Umgekehrt gibt es für Paulus keine Wirklichkeit, eben auch keine Auferstehungswirklichkeit, die nicht räumlich und damit auch „leiblich“ wäre. Der Problemhorizont ist kaum ein anderer als der von Platon im Timaios thematisierte, da es auch diesem um die Frage geht, wie die Beziehung zwischen Himmel und Erde, zwischen Idealität und Realität kosmologisch vermittelt werden kann. Durch dessen auffällige Hinwendung zu einer „Kosmosschau“, die Welt und Himmel als lebendige und göttlich beseelte Größen neu wahrnimmt, wird der Seinsdualismus der Ideenlehre paradoxal aufgebrochen.
Auch Philo kämpft mit diesem Vermittlungsproblem. Der Alexandriner übernimmt die platonische Vorstellung, dass alle Kosmosräume, insbesondere die Astralsphären, von Lebewesen erfüllt bzw. beseelt sind (De Gigantibus 7f.; De Plantibus 12), beharrt aber auf einem strikten Dualismus von Materie und Geist, der der Körperlichkeit eine zwischen Welt und Gott vermittelnde Funktion verwehrt. Insbesondere in der Lehre von dem Aufstiegsmysterium der Seele bleibt für eine Heilsrelevanz des Leiblichen kein Platz mehr (vgl. De Somniis 1,134f.). Damit scheint der Alexandriner von dem Leibskeptizismus und Pneumatismus der antipaulinischen Front nicht weit entfernt zu sein. Dies lässt gut verstehen, warum Paulus die Leugner einer leiblichen Auferstehung mittels deren eigenen Weltvorstellungen zu überzeugen trachtet. Sowohl der Mittelplatoniker Philo als auch Paulus sehen in der vollständigen Erfülltheit des Kosmos mit Lebewesen einen Hinweis auf die Existenz einer transzendenten Wirklichkeit. Während aber für den Alexandriner das Geistig-Psychische das alles Schöpfungssein verbindende Grundelement bildet, ist es für Paulus das Leibliche.
Dass Paulus platonisierendes Denken stets in Anknüpfung und Widerstand spiegelt, wird in der Anthropologie hinreichend deutlich (van Kooten; Wasserman). So stellt die Vorstellung vom „inneren Menschen“ offensichtlich eine Figur platonischer Provenienz her (Platon, Politeia 589a; Philon, De Congressu 97). In seiner Schilderung der rettungslosen Verlorenheit des „inneren Menschen“ in Röm 7,22–23 kontrastiert Paulus diesen mit dem wertschätzenden Blick der Platoniker auf das intelligible Selbst des Menschen (Vollenweider, 660; Betz). Ebensowenig platonisch spricht Paulus von der täglichen Erneuerung des „inneren Menschen“ (2 Kor 4,16) in ihrer christozentrischen und pneumatisch- eschatologischen Vermitteltheit. Umstritten ist die philonisch-mittelplatonische Valenz der paulinischen Adam-Christus-Typologie und die Logos-Theologie als Hintergrund der Heils- und Weisheitsdebatte von 1 Kor 1–4. Während beides von Sellin vor dem Hintergrund der beiden „Urmenschen“ aus Philos Allegorese der Anthropogonien Gen 1,26–27 und Gen 2,7 sowie dessen Aufstiegssoteriologie interpretiert wird, weisen z. B. Schaller und Zeller diese Möglichkeiten dezidiert zurück.

3.4. Deuteropaulinen

Der Kolosser- und der Epheserbrief stehen als nachpaulinische Schreiben für eine Christologie und Ekklesiologie, die sich verstärkt philosophisch- kosmologischer Motive und Vorstellungen bedient, um in einen Diskurs mit Adressatengruppen zu treten, die in Vergangenheit und Gegenwart von solchen Paradigmen beeinflusst wurden. Im Hintergrund steht das weitverbreitete, von E. Schweizer „Weltangst“ genannte Empfinden, dass Himmel und Erde, Göttliches und Menschliches durch dämonische Mächte auseinandergerissen scheinen, sodass die Einheit des Kosmos zerbrochen ist. Die religiöse Verehrung des Kosmos weicht einer Phobie, der man mit Astrologie und Magie zu begegnen sucht.
Kol setzt sich kritisch mit einer von ihm als „Philosophie“ (Kol 2,8) titulierten Heilslehre auseinander, die in hohem Maß synkretistisch gefärbt ist, sodass das Gegnerprofil unscharf bleibt (DeMaris). Eine Mischform jüdisch-asketischer Mystik klingt ebenso an wie die Praxis paganer Mysterienkulte und eine Vertrautheit mit hellenistischen Weltbildvorstellungen. Zumindest Letztere greift Kol, und zwar mit platonischer Färbung, für seine Konzeption selbst auf. Inspiriert ist er dabei von dem Hymnus Kol 1,15–20, dessen kosmische Christologie er um ekklesiologische (Kol 1,18: „die Kirche“) und soteriologische Zusätze (Kol 1,20:
„Blut des Kreuzes“) ergänzt. Schon die erste Prädikation Christi als „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) ruft eine grundlegende platonische Denkstruktur auf (Poetsch, 347f.), die getrennte Wirklichkeiten in ein Bild-Abbild-Verhältnis rückt und die über Vermittlung schöpfungstheologischer Weisheitsspekulationen des griechischsprachigen Judentums christologisch rezipiert wird. Platons kosmologischer Eikon-Begriff (Timaios 29b; 92c) wird besonders von Philon immer wieder aufgegriffen (Legum Allegoria 1,43; De Fuga et Inventione 101; De Specialibus Legibus 1,81). An philonische Kosmos- und Logostheologie erinnert auch das von Kol kirchlich spezifizierte „Haupt“-Motiv (Kol 1,18) und die im Briefkontext Kol 2,9–10 explizierte Vorstellung von der „Fülle der Gottheit“, die in Christus leibhaft wohnt, sodass die von ihm erfüllten Christusgläubigen an dessen kosmischer, alle Gewalten bezwingender Herrschaft teilhaben. Dieser Heilsstatus, in dem die Gläubigen schon mit Christus auferstanden sind (Kol 2,12), ist von einer präsentischen, platonisch-philonischen Aufstiegseschatologien verwandten Qualität, die bei Paulus noch nicht zu finden ist.
Eph entfaltet die Motive der präsentischen und herrscherlichen Christusfülle weiter (Schwindt, 2022, 312–351). Gegenüber der dämonischen Verdunkelung der Gottesgegenwart im Kosmos betont Eph, dass Christi Auferstehung eine „überhimmlische“ Erhöhung Jesu Christi bedeutet (en tois epouraniois; Eph 1,20), die einen Herrschaftswechsel induziert. Die durch diese Erhöhung ermöglichte Welteinung Eph 1,10 wird nachösterlich von der Kirche vollzogen. Eine Korrespondenz zum platonischen Paradigma zeigt besonders die Zeichnung der Kirche als „Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“ (Eph 1,23b). Der von allen bedeutenden Mittelplatonikern gleichermaßen rezipierte Gedanke Platons, dass die Beseelung und Einheit des Kosmos notwendig die Besiedelung aller Elementar- oder Zwischenräume mit Lebewesen bedinge, dürfte insbesondere in ihrer dämonologisch depravierten Lesart zur Kaiserzeit weithin gegenwärtig gewesen sein. Wenn Eph daher in emphatischen Worten Christi Sieg über die bösen Geistmächte preist und daran anschließend die Kirche als dessen „Fülle“ (plērōma) ins Bild rückt (Eph 1,21–23), ist zum Ausdruck gebracht, dass die Kirche die dämonischen Trennräume zwischen Himmel und Erde einnimmt. Sie ist dabei umso mehr universal einheitsstiftend, je mehr sie selbst, von Christi Liebe erfüllt, die Einheit der Völkerkirche aus Juden und Heiden widerspiegelt (Eph 2,11–22). Im Christusereignis vollzieht sich die Befriedung, Zusammenführung und Einung der gebrochenen Schöpfungswirklichkeit, die sich im Gegeneinander von himmlischen und irdischen Dingen ausdrückt. Die Verschränkung der theologisch-vertikalen Einung mit der kirchlich-horizontalen geschieht in der Person und dem Heilswerk Christi: „in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi“ (Eph 2,13). Die Gesetzesaufhebung Christi und seine Unifizierung von Juden und Heiden „zu dem einen neuen Menschen“ bzw. „in dem einen Leib“ lassen sich mit Hilfe der philonischen Vorstellung vom „himmlischen Menschen“ erhellen, der als gottebenbildlicher Mensch auf der Stufe des Logos steht und Zielgestalt des von Mose präfigurierten Seelenaufstiegs ist. Der „Vollkommene“ ist für Philo der mittels des göttlichen Pneumas neu aus dem alten, fleischlichen Menschen geschaffene himmlische Mensch, der auf einer Stufe mit dem Logos steht (vgl. die Exegese von Gen 1,27 und Gen 2,7 in Legum Allegoria 1,31f.). Nach dem Verständnis des Deuteropaulinen ist Christus durch Tod, Auferstehung und Himmelfahrt in vergleichbarer Weise zu einem himmlischen Menschen erhoben worden, der alles vormalig Trennende in seiner Person pneumatisch „vereinheitet“ (Eph 2,15b–17). So wird auch verständlich, dass der Deuteropauline die Christen dazu ermuntert, „zum vollkommenen Menschen zu werden, zum vollen Maß der Fülle Christi, damit wir nicht mehr unmündig seien“ (Eph 4,13–14; vgl. auch Eph 4,22–24).
Die Emphase, mit der Eph die Unifizierung von Kosmos und Kirche mittels der Zwei-zu-Eins-Formel vor Augen stellt (in Eph 2,14–18 gleich viermal), korrespondiert der Bedeutung des Eins-Prinzips im Neupythagoreismus und Mittelplatonismus (Schwindt, 2022, 151f.). Bei Eudoros entspricht der Gegensatz von Eins und Zwei dem von Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit (Dörrie, 32–34). In den Bereich der Erkenntnis vordringen heißt, die von Zweiheit geprägte Welt zu übersteigen. Philos Deutung des Sinaiaufstiegs des Mose in die Ähnlichkeit der Einsheit einerseits (Quaestiones in Exodum 2,27–46) und die auf Christi Aufstieg gründende Befriedungsekklesiologie des Eph andererseits (Eph 2,14–18; 4,8ff.) dürfen als strukturanaloge Rezeptionen dieses Philosophems gelten.

3.5. Hebräerbrief

Das nachpaulinische Schreiben des Hebr verbindet jüdisch-apokalyptische Strömungen mit weisheitlich-mystischen Vorstellungen und greift im Ganzen des NT am deutlichsten auf eine Transzendenz-Ontologie zurück, die mittelplatonische Züge trägt (Eisele). Christologie und Eschatologie sind in Hebr 8–9 durch das strikte Gegenüber zweier verschiedener Wirklichkeitsbereiche gekennzeichnet, das Sein des ewigen himmlischen Heiligtums und das des vergänglichen irdischen Heiligtums (Hebr 8,5; 9,11.24).

Das hier zum Tragen kommende Urbild-Abbild-Denken begegnet zwar auch in der Apokalyptik, doch bleibt das dem Abbild überlegene Urbild dort Raum und Zeit verhaftet. Das platonische Urbild dagegen repräsentiert einen ontologischen Status, der einen rein noetischen Charakter besitzt. Platons Aufstiegsbilder beschreiben räumlich den Eingang ins Unräumliche und nur unsinnlich Wahrnehmbare (Eisele, 377). Auch Hebr 11,3 unterscheidet neben dem himmlischen und irdischen Heiligtum bzw. der hiesigen und der künftigen Stadt (Hebr 11,16; 13,14) eine unsichtbare Welt von einer sichtbaren (Hebr 11,3), die beide von Gott erschaffen worden sind. Wie Philo, De Opificio Mundi 29 interpretiert Hebr 11,3 in platonisierender Weise die Erschaffung der Erde in Gen 1,1–3 (LXX) als Erschaffung der unsichtbaren Welt, auf welche dann die der sichtbaren Welt folgt (Eisele, 382). Bei aller Kontrastierung der beiden Welten erlaubt das dem AT verpflichtete Denken in Kulttypologien dem Hebr doch eine präsentische Verbindung der Glaubenden mit dem himmlischen Gottesdienst (Hebr 12,22–24). Die perfektische Aussage, dass die Gemeinde zum lebendigen Gott, zu den Engeln und den Geistern (pneumata) der vollendeten Gerechten hinzugetreten sind, weist auf eine aus dem Mittelplatonismus bekannte pneumatisch-seelische Verfassung des Menschen, die ihn schon in seiner Leibexistenz in eine ideelle Welt hineinragen lässt (vgl. die Lenkung von Leib und Seele durch den Verstand in Plutarch, De Genio Socratis 22). Dies impliziert auch eine Verwandtschaft zwischen Menschen und Engeln. Der Mittelplatonismus, der diese ebenfalls kennt, sieht sie in der Seelen- bzw. Vernunftnatur der Geister bezeugt (vgl. Plutarch, De Defectu Oraculorum; De Genio Socratis). Anders aber als im Platonismus wird die vermittelnde Potenz der Engel nachdrücklich relativiert. Der Zugang zum Himmel und ins Allerheiligste wird den Glaubenden allein von Christus und seinem Opfertod eröffnet. Nicht am Ende der universalen Geschichte, sondern – wiederum platonisierend – nach dem individuellen Tod ereignen sich für den Einzelnen Rettung und Heil (Hebr 9,27–28).

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