Methodologie
(erstellt: Mai 2024)
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1. Zur Begriffsklärung
Methodologie ist als Begriff im 17. Jahrhundert entstanden und bekam durch Immanuel Kant eine wichtige Bedeutung. Methodologie bezeichnet die Lehre von systematischen, nachvollziehbaren, nachprüfbaren und wiederholbaren Vorgehensweisen (Methoden) gegenüber einem Untersuchungsgegenstand, in unserem Fall einem Text. Sie beschreibt die Ziele von Methoden und deren Grenzen. Zugleich reflektiert sie die Gründe für eine Zusammenstellung von Methoden unter Ausgrenzung von anderen. Die Methodologie bildet einen wissenschaftlich normativen, theoretischen Unterbau für die Vielfalt von Methoden. Methodik bezeichnet die Lehre von der praktischen Anwendung eines in einer Methodologie reflektierten Methodensettings (μεϑοδική τέχνη; methodikḗ téchnē). So gehört die Methodologie zur Wissenschaftstheorie, indem sie nach einer Theorie hinter einem bestimmten Methodensetting fragt. Die Methodik ist eine wissenschaftliche Praxis, die zur Untersuchung eines bestimmten Forschungsbereiches angewandt wird. So beziehen sich Methodologie und Methodik auf einzelne Methoden und deren sinnvolle Zusammenstellung zu einem Methodenkanon oder auf mehrere Methoden, die aufeinander aufbauen.
Die Methode kann in diesem Gefüge als ein klar definierter, einzelner Untersuchungsschritt bezeichnet werden, der klar von anderen Untersuchungsschritten abgegrenzt ist. Sie ist „ein mehr oder weniger genau beschreibbarer Weg (d. h. eine endliche Folge von mehr oder weniger konkreten Handlungsanweisungen oder strategischen Maximen) zur Realisierung eines bestimmten Zieles bzw. zur Lösung einer bestimmten Aufgabe.“ Methode bedeutet von ihrer griechischen Etymologie her den ‚Weg zu etwas hin‘, beziehungsweise ‚mit‘ einem bestimmten ‚Weg‘ auf ein Ziel hin gehen (μετά ὁδός; metá hodós). So ist eine Methode ein bestimmter Weg der Erkenntnis, der immer wieder auf vergleichbare Untersuchungsgegenstände angewandt wird. Eine wissenschaftliche Methode garantiert und fordert zugleich dazu auf, dass immer wieder dieselben Fragen auf den Untersuchungsgegenstand ausgerichtet werden. Dies führt zu einer gewissen planmäßigen wissenschaftlichen Erkenntnis und einer Vergleichbarkeit der Antworten und Resultate.
2. Abgrenzungen zu exegetischen Grundfragen, Auslegungsprinzipien, exegetischen Erwartungen, Geistesblitz und Fantasie
Es gibt exegetische Grundfragen an einen biblischen Text, die von Methoden unterschieden werden wollen. Solche exegetischen Fragestellungen lauten z. B.: Wie kann ich diesen Text verstehen? Wie ist dieser Text entstanden? Was ist die Aussageabsicht des Autors (intentio auctoris) bzw. des Textes? Was haben die ersten Leser verstanden? Was bedeutet der Text heute für Kirche und Glaubende? Wie unterstützt dieser Text meine Überzeugungen? Jede Exegetin und jeder Exeget steuert die Rezeption und Deutung seines Untersuchungsgegenstandes wie zum Beispiel den Bibeltext durch solche Fragen im Hintergrund. Und auch das Umgekehrte gilt: Ein eingeübter Umgang mit solchen Fragen steuert implizit die Interpretinnen und Interpreten. Deshalb ist es wichtig, dass jede Exegese ihre leitenden Grundfragen offenlegt, um nicht durch unreflektierte Vorannahmen manipuliert zu werden. Doch diese Grundfragen sind keine Methoden und haben ihren Grund nicht in Methoden. Exegetische Fragestellung und wissenschaftliche Methoden der Exegese stehen vielmehr in einem interdependenten Wechselverhältnis. Wer jedoch solche und andere exegetischen Fragestellungen wissenschaftlich untersuchen will, der ist auf unterschiedliche Methoden angewiesen, die in einer sachlichen Relation zur Fragestellung und zu deren intendierten Antwort-Ziel stehen. Der Übergang kann fließend sein zwischen exegetischen Fragestellungen und Methoden, sodass diese nicht abgelöst voneinander betrachtet werden können, wie z. B. die Frage nach der Entstehungsgeschichte eines biblischen Textes eng mit dem historisch-kritischen Methodensetting verbunden ist. Jedenfalls sind Methodiken nicht unabhängig von den sie leitenden Grundfragen, denen in der Regel ein ‚prä‘ zukommt, indem sie über die Auswahl von Methoden entscheiden.
Stets zu beachten ist auch die Unterscheidung einer Methodik, die ein bestimmter Autor eines biblischen Textes angewandt hat, indem er in seinem (biblischen) Text ihm vorgegebene (biblische) Texte interpretiert, von der Methodik, die heute notwendig ist, seine Vorgehensweise wissenschaftlich zu beschreiben. Dasselbe gilt auch für Auslegungsprinzipien, denen eine quasimethodische Bedeutung zukommt. Allerdings sind solche in der Regel viel kürzer formulierbar als Methoden. Mit ihnen kann gefragt werden: Gibt es Auslegungen im Text, die zeigen, dass der Autor von gewissen Prinzipien geleitet wird, und welche Prinzipien leiten Exeget und Exegetin heute in ihrer Vorgehensweise? Johannes Calvin nennt sein Leitprinzip zur Auslegung biblischer Texte explizit und benennt es als perspicua brevitate, als Durchsichtigkeit, beziehungsweise Klarheit durch Kürze seiner Kommentare. Diese Kürze zwingt ihn, vieles wegzulassen. Während die exegetischen Ergebnisse seiner Methodik einen viel längeren Kommentar ermöglicht hätten, zwingt ihn sein Leitprinzip dazu, viele exegetische Entscheidungen zu Gunsten von Kürze und Klarheit zu fällen.
Wer sich in guter wissenschaftlicher Manier von Occams Rasiermesser, das auch als exegetisches Prinzip angewandt werden kann, leiten lässt, der wird viele eigene Ideen zur Exegese verwerfen, weil sie auf mehr nichtbeweisbaren Annahmen beruhen als andere. Gerade gegen dieses Prinzip wurde in den letzten 150 Jahren oft verstoßen, wenn Textrekonstruktionen, von denen es keine handschriftlichen Zeugnisse gibt, einer überlieferten Endgestalt eines Textes übergeordnet wurden, ohne dass das Argument des überlieferten, handschriftlich vorliegenden Textes genügend gewichtet worden wäre.
Weitere Exegese leitende Grundsätze sind weniger formal als inhaltlich bestimmt. Deshalb sollten sie nicht als exegetische Prinzipien, sondern als exegetische Erwartungen bezeichnet werden, die an einen Text herangetragen werden und dann doch die Anwendung einer Methodik so stark steuern, dass sie die Ergebnisse beeinflussen oder sogar die wissenschaftlichen Ergebnisse von außen lenken. Exegetische Erwartungen beeinflussen exegetische Ziele, sodass Ergebnisse von methodisch geführter Exegese stark mitgeprägt sind von den Erwartungen. So verhinderte ein bestimmtes Paulusverständnis, das durch eine bestimmte Lutherrezeption gefärbt war, jahrzehntelang die exegetische Rezeption der New Perspective on Paul in der Fachwissenschaft in Deutschland.
Kommentare arbeiten oft nicht nur mit nachprüfbaren, allgemein etablierten Methodologien, sondern auch mit einem impliziten Methodenwissen. Dieses ist nicht direkt nachprüfbar und sollte deshalb immer offengelegt werden.
Wenn Methoden überprüfbare und von anderen wiederholbare rationalisierbare Fragewege darstellen, stellt sich der sogenannte ‚Geistesblitz‘, ‚der flow‘ oder auch die kreative Fantasie in Opposition dazu. Dies ist im theologischen Kontext besonders herausfordernd, weil hier eine pneumatische Dimension prinzipiell nicht ausgeschlossen werden will. Die Spannbreite ist groß: Zahlreiche große wissenschaftliche Errungenschaften sind nicht durch das Abarbeiten von vorgegebenen Methodiken erzielt worden, sondern durch kreative Einfälle, die nicht wiederholbar waren, aber nachträglich methodisch überprüft worden sind. Zugleich hat die protokollarische Anwendung von Methodiken selten zu Innovationen geführt. Wenn einer Methodik eine absolute Stellung gegeben wird, dann unterdrückt sie die Innovation. Wenn der Geistesblitz allein an die Stelle von Methoden tritt, kann Genialität wissenschaftlich weder überprüft noch für die Wissenschaft kontrolliert nutzbar gemacht werden.
Eine Auslegung der Bibel ist nie frei von der Fantasie des Exegeten oder der Exegetin. Dies gilt auch für andere geisteswissenschaftliche Disziplinen. Methoden kontrollieren die Fantasie des Autors, zügeln sie und transformieren sie in nachprüfbare Ergebnisse. Dies kann am Beispiel der ‚Leerstelle‘ innerhalb eines Textes gezeigt werden. Ein Text, der in sich abgerundet ist, kann kaum ausgelegt werden. Leerstellen, seien es Spannungen oder Brüche, bieten der Fantasie des Exegeten einen Freiraum, mit seiner kreativen Arbeit zu beginnen. Von solchen Leerstellen aus entwickelten die Rabbinen ihre Midraschim und moderne Exegeten ihre historisch-kritischen Textrekonstruktionen. Beide stellten dafür ein reflektiertes Methodensetting zur Verfügung.
Eine Methodik kann nicht alles, sie ist auch im wissenschaftlichen Kontext eingeordnet in übergreifende gesellschaftliche, kirchliche, persönliche und politische Interessen, die nicht immer offengelegt und für eine gute wissenschaftliche Praxis mühevoll aufgedeckt werden müssen. Die kritische Analyse, in was für Prinzipien, Erwartungen und Ziele gegenwärtige Methodologien eingeordnet sind, gehört zu den spannendsten Fragen einer exegetisch-theologischen Wissenschaftstheorie. So bieten Methodologien ein reflektiertes und wissenschaftlich überprüfbares Vorgehen auf einem Weg zum Erkenntnisgewinn, sind aber eingespannt in konstruktive Größen wie Problemstellungen, Voraussetzungen, Erwartungen und Ziele, die wissenschaftlich viel schwieriger zu greifen sind und einer Analyse ihrer Konstruktion unterzogen werden müssen. Diese werden in der Hermeneutik untersucht.
3. Abgrenzung von Methoden und Hermeneutik
Voraussetzungen und Ziele von Verstehensprozessen werden in der Wissenschaftsdisziplin der Hermeneutik untersucht. Hermeneutik ist die Beschreibung von Rahmenbedingungen, von Axiomen, Prinzipien und Analysen des Verstehens. Ein solcher Verstehens Rahmen prägt jede Methodologie, die für den Weg des Textverstehens angewendet wird. Wird hermeneutisch vorausgesetzt, dass Verstehen nicht methodisiert oder gelehrt werden kann, erübrigt sich jede Methodologie. Wird Textinterpretation als gewaltvolle Aneignung eines Textes verstanden, die diesen Text nicht in seiner Fremdheit achtet, oder werden Kommentare sogar als Parasiten des Textes verstanden, die die Bekanntheit eines Textes ausnutzen, um einen eigenen Text in den Vordergrund zu stellen, wird das je ein eigenes Methodensetting fordern, andere Methoden aber ausschließen.
In keinem biblischen Text wird explizit dazu aufgefordert, unbedingt das verstehen zu müssen, was der Autor ursprünglich gemeint hat. Die Frage nach der ‚intentio auctoris‘ liegt also nicht im Text selbst, sondern wird an einen Text von außen herangetragen. Vertreter von autorintentionalen Hermeneutiken gehen in der Regel von der Möglichkeit einer hinreichenden Identität zwischen Äußerung und Verstehen der Äußerung aus. Sie bevorzugen den Begriff des Verstehens für ihr Anliegen. Doch die geschichtliche Herkunft und Bedingtheit der Frage nach der Absicht des Autors und auch der Wille, diese Frage zu stellen und zu klären, liegen nicht im Text und können auch nicht mit exegetischen Methoden untersucht werden, sondern sie müssen durch eine hermeneutische Analyse erklärt werden. Doch wird die Frage nach der Absicht des Autors erst einmal gestellt, müssen entsprechende Methoden und damit eine spezifische Methodologie entwickelt werden. Anders gesagt: Auch wenn im Text eine Absicht des Autors steckt, wird die Frage nach dieser Absicht an den Text herangetragen. Deshalb muss die Frage selbst hermeneutisch begründet werden, auch wenn die Antwort auf diese Frage mit einer Methodologie gesucht werden muss
Dasselbe gilt auch, wenn der Text in der semiotisch-kritischen Exegese als Zeichensystem verstanden wird, dessen Wort- und Verknüpfungsmaterial zuerst sprachlich-syntaktisch und dann in den Beziehungen der einzelnen Elemente semantisch, bei einer Erzählung auch narrativ-analytisch und in Bezug auf sein Wirkpotential beim Leser pragmatisch untersucht werden muss. Dafür wurden zahlreiche Methoden entwickelt, die in einer synchronen Methodologie zusammengefasst werden können. Solche zeichentheoretischen bzw. textologischen Theorien betonen das Zusammenwirken des der Interpretation vorgegebenen Textes und der notwendigen Kreativität der Interpretationsleistung. Die Begründung eines semiotischen Zugangs liegt aber nie im Text allein, auch wenn in einem Text nachgewiesen werden kann, dass dieser Zugang ein großes Deutungspotential hat, sondern ihm geht ein gewisses Textverständnis und ein Interpretationsverständnis voraus, das wiederum hermeneutisch geklärt werden muss. Zudem befasst sich semiotisch-kritische Exegese nicht nur mit sprachlichen Zeichen, sondern auch mit Zeichengebilde materieller Kultur wie etwa Münzen, Kleidung und Gebäuden und deren intermediales Zusammenwirken.
Wenn poststrukturalistische und (de)konstruktivistische Ansätze von der unüberwindbaren Differenz zwischen Äußerung und Aneignung der Äußerung ausgehen, die Möglichkeit eines direkten Verstehens verneinen und deshalb umso mehr die bedeutungskonstitutive Leistung der Rezipienten betonen und diese als Konstruktion bzw. Dekonstruktion bezeichnen, dann können die Voraussetzungen und Bedingungen zu diesem Textzugang nur hermeneutisch untersucht werden. Auch ein solcher Zugang verlangt nach seiner eigenen Methodologie. Dafür steht unter anderem die rezeptionsästhetische Methodologie zur Verfügung.
Im 19. und 20. Jh. hat sich insbesondere in der deutschsprachigen theologischen Wissenschaft die Frage nach der Entstehungsgeschichte eines Textes als zentral durchgesetzt. Weshalb diese Frage die Frage nach der Bedeutung des vorliegenden Textes für die Kirche in den Hintergrund gedrängt hatte, und weshalb im 21. Jh. die Frage nach dem Sinn des vorliegenden Textes wieder in den Vordergrund gerückt ist und die Frage nach der Genese eines biblischen Textes im Fach Neues Testament an Bedeutung verloren hat, im Fach Altes Testament aber ein großes Gewicht behaupten konnte, liegt wiederum nicht in den Texten begründet, sondern muss historisch, wissenschaftshistorisch und vor allem hermeneutisch geklärt werden. Für die Frage nach der Vorgeschichte eines Textes wurden die historisch-kritischen Methoden entwickelt, die als sehr einheitliche diachrone Methodologie verstanden und bis heute in Proseminaren als zusammenhängende Methodik eingeübt werden. Traditionell wird hier mit der Methode, die als Redaktionsgeschichte bezeichnet wird, danach gefragt, wie der Verfasser des Endtextes die verschiedenen Vorstufen des Textes als Redaktor zusammengestellt hat.
Mit einem anderen Methodensetting und hermeneutischen Interesse fragt, wer sich für das intertextuelle Zusammenspiel von Texten interessiert. In produktionsorientierter Perspektive der Intertextualitätsforschung werden die (Prä-/Sub-)Texte rekonstruiert, auf die sich der Autor in seinem Text bezieht. Dafür sind eigene mehrstufige Methodologien entwickelt worden. Intertextuelle Fragestellungen können aber auch ganz unter Ausblendung der Autorfrage rezeptionsorientiert ausgearbeitet werden oder neue Sinneffekte erzeugen durch die kreative Zusammenstellung von Texten, wie es z.B. in jedem Gottesdienst Praxis ist.
Klassische Methodologien zur Schriftauslegung sind im rabbinischen Judentum die sieben Auslegungsregeln (Middot) von Hillel und die 13 Auslegungsregeln des Rabbi Jischmael. Hier gelten als hermeneutische Voraussetzungen unter anderem, dass Gott die Wahrheit der Schriften trotz ihrer Diversität garantiert, sodass jede Schrift auf jede andere bezogen werden kann und das in der Tora und den anderen Heiligen Schriften alles gleichzeitig.
Über viele Jahrhunderte hat die Lehre vom vierfachen Schriftsinn (quatuor sensus scripturae) die exegetische Methodologie der Kirche bestimmt. Zu deren hermeneutischen Voraussetzung gehört die Überzeugung, dass jeder Text in der Heiligen Schrift einen wörtlichen Sinn, eine Bedeutung für den Glauben, für die Moral und für die Hoffnung auf die zukünftigen Dinge hat. Die historisch-kritische Methodologie wurde entwickelt um die Entstehungsgeschichte eines Textes und des mündlichen und textlichen Vorstufen rekonstruieren zu können. Die semiotisch-kritische Methodologie untersucht im Zusammenspiel intratextueller, intertextueller und intermedialer Zeicheninterpretationen nach dem Sinn eines Textes oder eines anderen Untersuchungsgegenstandes. Poststrukturalistische Lektüreprozeduren sind mit dem vornehmlichen Ziel von Ideologiekritik entwickelt worden. Postkoloniale Interpretationsstrategien sind methodologisch auf Machtkritik ausgerichtet.
4. Kritik am wissenschaftlichen Wert von Methodologien
Paul Feyerabend kritisierte jegliche Form eines Methodenzwangs grundlegend. Methodologien sind dementsprechend ein Gesetz- und Ordnungszwang. Der einzige Grundsatz, durch den die Forschung nicht behindert wird, ist: anything goes. Ein Methodensetting wird leicht zu einem erkenntnistheoretischen System oder folgt aus einem solchen und bestärkt dieses. Dadurch werden viele neue Erkenntnisse, die nicht in dieses System hineinpassen, verunmöglicht. Deshalb gehört zu einem Methodensetting immer auch die Verletzung dieser Regeln. Wenn Forscherinnen und Forscher ihre religiösen und metaphysischen Überzeugungen oder ihren Humor mit in eine methodisch kontrollierte Forschung hineinbringen, dann werden unvorhersehbare wissenschaftliche Erkenntnisse möglich, indem dadurch Regeln gebrochen werden. Methoden sind Wege, die immer auch die Gefahr in sich bergen, neue Erkenntnisse zu verhindern.
Tatsächlich muss immer wieder gefragt werden, wie weit Methoden und Methodologien ihrem Gegenstand angemessen sind. Tatsächlich können Methoden auch für bestimmte Aspekte des Textes blind machen. Die historisch-kritische Methodologie konnte den Sinngehalt des vorliegenden Textes gerade nicht deutlich herausarbeiten, da sie nicht auf diesen für andere zentralen Aspekt hin entwickelt worden sind. Methodologien sollen wie Leitern als Annäherungen an das Verständnis eines Untersuchungsgegenstandes verwendet werden. Viele Leitern führen einander ergänzend zu einem breiteren und tieferen Verständnis. Manche Leitern führen zu keinem Ziel. Andere müssen nach Erlangen des durch sie erreichten Ziels weggestoßen werden, um weitere Ziele zu erreichen.
5. Neben- und Miteinander von Methodologien
Wer sich einem Text mit möglichst verschiedenen Perspektiven annähern will, der ist auf verschiedene Methodologien angewiesen. Allerdings ist dabei der Widerspruch nicht einfach kategorisch auszuschließen. Wer nach der Intention des Autors fragt, operiert mit einem Verständnis eines Verfassers, der den ganzen Text als eigenes Werk verantwortet. Mit der Redaktionskritik fragt die historisch-kritische Methodologie nach einem Redaktor, der den Endtext aus vorliegenden Texten zusammengestellt hat. Wer einen Text aus anderen Texten mehr oder weniger passend zusammenstellt oder wer unter Rückgriff auf Textvorlagen einen neuen Text kreativ schafft, gestaltet und verantwortet, beschreitet ganz verschiedene Wege, die sich gegenseitig ausschließen. Autor oder Redaktor verlangen nach unterschiedlichen Methodologien. Solange aber die Frage nach Autor oder Redaktor eines Textes zu den hermeneutischen Vorentscheidungen gehört, können die jeweiligen Methodologien bei dieser Kernfrage nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Ein multiperspektivischer Zugriff auf einen Text ist immer auch ein multimethodischer und ein multimethodologischer. Wenn ein Auslegungsweg die Frage nach dem Autor nicht auf Kosten derjenigen nach dem Redaktor klären kann (oder umgekehrt), werden beide Zugänge unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Wenn jedoch die eigentliche Auslegung erst im Auge des heutigen Betrachters beziehungsweise durch die Kreativität der Rezipienten geschieht, dann führt dies zu einer weiteren Methodologie und zu einer Relativierung der anderen Methodologien, denn die Frage nach dem Gestalten eines Autors oder eines Zusammenstellens von Texten durch einen Redaktor wird belanglos.
6. Die Vielfalt des Sinns
Wer einen Text immer tiefer verstehen will, muss einen Methodenpluralismus und einen Pluralismus der Methodologien begrüßen. Traditionell sucht die historisch-kritische Methodologie mit ihrer Frage nach der historischen Entstehung eines Textes und der Frage nach dem Sinn, den der Autor seinem Text zugedacht hat, die eine richtige Auslegung. Wer den Text als Zeichensystem oder die Textdeutung als (Re-)Konstruktion betrachtet, rechnet mit einem pluralen Sinn eines Textes. Da es viele textinterne Verbindungen gibt, ist ein einziger Textsinn von vorneherein als mögliches Ergebnis ausgeschlossen. Wer das sinngenerierende Aneignen eines Textes durch die Rezipienten betont, bringt ein nochmals erweitertes Sinnpotential eines Textes ins Spiel. Wer mehreren exegetischen Grundfragen gleichzeitig ihr Recht gibt und dem entsprechend mit mehreren Methodologien gleichzeitig operiert, geht selbstverständlich von einer nie einzufangenden Sinnfülle aus.
Selbstverständlich gibt es Grenzen der Interpretation. Wer einen Pluralismus der Methodologien anwendet, der kann nicht ausschließen, dass es zu Resultaten kommt, die sich nicht alle miteinander harmonisieren lassen oder die sich sogar gegenseitig widersprechen. Zugleich löst sich ein Text oder ein anderer Untersuchungsgegenstand auch nicht durch wissenschaftliche Fragestellungen auf. Er bleibt widerständig und behält eine unverfügbare Dimension, gerade auch wenn er irrationale Seiten hat. So lassen sich auch deutende Geistesblitze und Inspirationen nicht sich methodisch fassen. In diesem Zusammenhang zeigen Methodologien ihre Schutzfunktion vor einer Willkür der Auslegung, denn sie legen offen, welche Deutungen über einen Gegenstand kommunikabel, argumentativ immer wieder nachvollziehbar und überprüfbar sind.
Methodologie zwischen Jean-François Lyotard und Hartmut Rosa
Sinn, Zweck und Grenzen von Methodologien sind in der kritischen Auseinandersetzung mit dem in den Geschichtswissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten intensiv rezipierten und diskutierten Werk von J.F. Lyotard zu studieren. Lyotard widmet sich der postmodernen Delegitimierung der sogenannten großen Erzählungen. Eine große Erzählung in diesem Sinne beansprucht für sich, der alleinige Zugang zur Weltdeutung zu sein. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war eine dogmatisch fixierte Erzählung von Jesus Christus und der Bibel die große abendländische Makroerzählung, der sich alle anderen Erzählungen fügen mussten. Diese wurde von der Wissenschaft als die eine große Erzählung der Moderne abgelöst. Postmoderne ist für Lyotard die Skepsis gegenüber solchen legitimierenden Metadiskursen. „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird“. In diesem Sinne bezeichnet ‚Postmoderne‘ auch eine Krise der Erzählung. Einerseits steht für Lyotard die Wissenschaft im Konflikt mit den Erzählungen und damit auch mit dem Wissen, dass durch Erzählungen vermittelt wird. Andererseits präsentiert die Wissenschaft sich selbst vor der Gesellschaft gerne als ein Epos und so in der Form einer Erzählung. Doch das (traditionelle) Wissen der Gesellschaft ist mehr als die Wissenschaft und wird in einer Heterogenität von Sprachspielen und damit Erzählungen repräsentiert. In der Postmoderne gibt es die eine große Erzählung nicht mehr, denn auch eine solche muss sich als Erzählung unter vielen in eine Heterogenität der Sprachspiele einordnen und dort behaupten.
Lyotard erlaubt methodisch, die mannigfachen eschatologischen Aussagen zum Beispiel zur Eschatologie im Neuen Testament (sowie im Judentum und im Hellenismus) in ihrer Verschiedenheit wahrzunehmen. Sie müssen weder als systematisch unqualifiziert abgetan noch mühsam unter einem leitenden Gesichtspunkt systematisierend ‚zurechtgestutzt‘ werden, sondern können als heterogene Sprachspiele wahrgenommen werden, die in einer Vielzahl von Erzählungen das in der Kultur geglaubte und erhoffte Wissen vermitteln. Dieses Wissen ist oft in traditionellem Wissen verankert, das durch die Glaubenserfahrung mit Christus erweitert und umgeformt worden ist.
Ein solcher Weltzugriff verlangt nach verschiedenen Methodologien, die miteinander konkurrieren, letztlich aber nebeneinander stehen bleiben. Der Preis dafür ist hoch. Der Widerspruch muss akzeptiert werden. Ein solcher methodischer Zugriff verlässt den klaren Raum des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch der aristotelischen Logik. Oder anders gesagt: Der Vorteil der Zentralperspektive ist, dass sie allem einen klaren Platz zuordnet, der Nachteil aber ist, dass sie vieles unsichtbar macht, indem sie jede weitere Perspektive ausschließt.
Der Soziologe Hartmut Rosa zeigt, dass es zum Projekt der Moderne gehört, sich die Welt ganz verfügbar und damit beherrschbar zu machen. Die Verfügbarkeit der Welt lässt die Welt verstummen, sodass die Menschen ihr gegenüber nicht mehr resonanzfähig sind. Dies gilt in der Exegese insbesondere für die historisch-kritische Methodologie, die den Text vernünftigen Menschen ganz und in sich stimmig erklären wollte und ihn sich so verfügbar gemacht hat. So hat die Exegese des 20. Jh. die Texte zum Verstummen gebracht. Die totale Unverfügbarkeit lässt jedoch die Welt, beziehungsweise die Texte ebenfalls schweigen. Resonanz ist erst durch und in einer partiellen Verfügbarkeit möglich. Erst wenn Methodologien einen Raum des Nichtverstehens offenlassen, indem sie etwa anderen methodischen Zugriffen Raum gewähren und den Widerspruch aushalten, führen sie dazu, dass Texte immer weitersprechen. Das Konzept ‚Postmoderne‘ beschreibt eine gesellschaftliche Entwicklung, die Leerstellen im Wettbewerb der verschiedenen Erzählungen zur Weltdeutung öffnet und unabdingbar zu einem methodischen Pluralismus führt. Das Konzept ‚Unverfügbarkeit‘ postuliert solche Leerstellen als notwendige Voraussetzungen, das Interaktionspotential mit dem Text zu erhalten. Textdeutung mit einer einzigen Methodologie ist anachronistisch und führt zur Taubheit.
7. Ertrag
Eine Methodologie ist eine systematische Zusammenstellung von einzelnen Methoden zur Durchführung einer wissenschaftlichen Untersuchung. Sie reflektiert die Auswahl, Entwicklung, Anwendung, Grenzen und mögliche Fehlerquellen von wissenschaftlichen Fragetechniken und Forschungswegen (Methoden), um wissenschaftliche Fragestellungen zu erforschen und zu beantworten.
Indem eine Methodologie reflektiert angewandt wird, können vermittelbare und nachprüfbare wissenschaftliche Ergebnisse erzielt werden. Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen und innerhalb der Exegese verschiedene exegetische Grundfragen, Auslegungsprinzipien und Erwartungen fordern unterschiedliche Methodologien. Diese sind von jenen zu unterscheiden. Methodologien für die Textauslegung und für die Interpretation materieller Kultur sind immer eingebettet in eine Hermeneutik, die jeweils eigens untersucht und reflektiert werden muss. Dabei muss immer beachtet werden, ob eine Methodologie einen Untersuchungsgegenstand ganz und abschließend oder nur partiell verstehen will. Nur im zweiten Fall bleibt die Resonanzfähigkeit von Texten und anderen überlieferten Zeichen erhalten.
Wer eine Pluralität von Methodologien begrüßt, will die Wirklichkeit nicht in einem einzigen, in sich stimmigen Bild beschreiben und be- „greifen“. Spielraum für Nicht-Verstandenes bleibt dabei immer offen. Wenn aus dieser Pluralität Widersprüche entstehen, sind diese nicht ein Ärgernis, sondern Zeichen davon, dass sich erstens die Wirklichkeit mit keiner Methodologie ganz erschließen lässt und zweitens, dass Methodologien nicht nur die Wirklichkeit wahrnehmen und beschreiben, sondern immer auch etwas in die Wirklichkeit hineintragen. Paulus schreibt: „Jetzt erkenne ich stückweise.“ (1 Kor 13,12). In diesem Sinne impliziert der Umgang mit Methodologien auch eine politische Dimension. Wer mit einer Methodologie die Wirklichkeit ganz und in sich stimmig deuten will, der greift in der Sprache des Films nach der Totale. Totalitäre Regime arbeiten immer an einer Totale als Perspektiveinstellung auf die Wirklichkeit, die keine weitere Perspektiven neben der eigenen duldet. Ein multiperspektivischer Zugriff, der nicht alles einer Perspektive unterwerfen will, sondern den Widerspruch akzeptiert, ist zutiefst demokratisch. So ist auch eine Bibelauslegung, die deren Sinnpotential durch multiple Zugänge fördert und bereit ist, Spannungen in der Diversität des Verstehens auszuhalten, ein demokratisches Anliegen. Zugleich bleibt solch ein Wirklichkeitszugang demütig. Er pflegt eine Demut vor dem Untersuchungsgegenstand, der mit keiner Deutung ganz verstanden und auf diese Weise sinnmäßig erledigt werden kann.
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