Biblische Erzählfiguren (NT)
(erstellt: Januar 2021)
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1. Vorbemerkungen
Das NT enthält mit den vier Evangelien und der Apostelgeschichte narrative Texte. Als deren HandlungsträgerInnen treten Erzählfiguren in Erscheinung, die eine Vielzahl von Themen und Diskursen repräsentieren. In besonderer Weise betrifft das die Figur Jesu von Nazaret, die im Zusammenhang einer „Jesus-Christus-Geschichte“ das theologische Gravitationszentrum des NT darstellt.
Im Bereich der Briefliteratur spielen kommunikative Netzwerke eine wichtige Rolle. Zwischen Autor und AdressatInnen besteht in den meisten Fällen eine persönliche Beziehung. Das gilt bedingt auch für die briefliche Rahmung der Offenbarung des Johannes. Vor allem in den abschließenden Grußlisten der Briefe gewinnt das Set an Figuren seine größte Dichte.
Durchgängig changieren die Erzählfiguren und die kommunikativen Netzwerke in den Texten zwischen historischer Erinnerung und literarischer Gestaltung. Die frühchristl. „Prominenz“ steht während des 1. Jh.s noch lebendig vor Augen, wird jedoch zunehmend stilisiert und typisiert. Den letzten Schritt in dieser Entwicklung stellt der Übergang zur Hagiographie dar, mit dem aus erinnerten Zeitgenossen Jesu und der apostolischen Generation Heilige werden.
2. Quellen und Schnittbereiche
Der bedeutendste Fundus, aus dem sich die Texte des NT speisen, ist das AT. Seine Figuren, in grauer Vorzeit beheimatet, dienen Evangelisten und Briefschreibern als Modellbilder. Die Mehrzahl der Erzählfiguren ist jedoch ausschließlich im NT belegt. Historisch gesehen liegt das an dem marginalen Charakter der erzählten Geschichte. Was im abgelegenen Galiläa beginnt, tritt erst mit dem Prozess Jesu in Jerusalem und dem Aufbruch der ersten Generation in das Imperium Romanum hinein vor eine größere, auch anderweitig beschriebene Kulisse.
Einige wenige Figuren begegnen auch in außerbibl. Quellen. Gut dokumentiert sind die Funktionsträger der röm. Politik. Die Figur des Täufers Johannes findet eine unabhängige Darstellung bei Josephus (Ant XVIII 116-119). Berenike, eine der schillerndsten Frauenfiguren der jüd. Elite, wird im NT nur mit drei Sätzen bedacht, in der röm. Geschichtsschreibung indessen vielfach behandelt. Zum Herrenbruder Jakobus liegen Informationen bei Josephus und den frühen Kirchenvätern vor. Auch Jesus von Nazaret findet ein sporadisches Echo (Sueton, Vita Claudii 25; Tacitus, Annalen 15,44; Josephus Ant XX 9,1; XVIII 3,3).
Viele ntl. Erzählfiguren beginnen vom 2. Jh. an noch einmal eine neue Karriere in der nun entstehenden christl. Literatur. Dabei wird jedoch nur ausgeschrieben, was man im NT schon vorfindet; Quellenwert haben diese apokryphen und legendarischen Texte vor allem für Dogmatik und Frömmigkeitsgeschichte.
3. Statistische Beobachtungen
Grundsätzlich ist zwischen namentlich genannten und anonymen sowie realen und mythologischen Figuren zu unterscheiden. Neben Figuren der Vergangenheit stehen solche der unmittelbaren Gegenwart. Einige Namen sind mehrfach für unterschiedliche Figuren vergeben. Männer und Frauen spielen eigenständige Rollen. Manche Figuren sind miteinander verbunden, während andere nur vereinzelt in Erscheinung treten.
3.1. Befund
Insgesamt gibt es im NT 304 verschiedene Namen: 265 von Männern, 39 von Frauen. Sie gehören zu 363 namentlich genannten Figuren (weil einige Namen mehrfach vergeben sind): das betrifft 318 Männer und 45 Frauen. Zieht man die 145 Namen aus beiden Genealogien ab, bleiben 170 Männer übrig; zieht man zudem noch die 12 Stämme aus Apk 7
Mehrfach genannte Namen sind die folgenden: Alexander (4x), Alphäus (2x); Demetrios (2x); Gajus (3x), Hananias (3x), Herodes (4x), Hermes (2x), Jakob (2x), Jakobus (4x), Jason (2x), Johannes (5x), Josef (7x), Juda (3x) Judas (6x), Klaudius (2x), Lazarus (2x), Levi (5x), Manasse (2x), Maria (7x), Philippus (2x), Rufus (2x), Simeon (2x), Simon (6x). In der Genealogie bei Lk tauchen jeweils doppelt auf: Josef (3,23.30); Juda (3,30.33); Kainam (3,36.37); Levi (3,24.29); Mattat (3,24.29); Mattathias (3,25.26); Melchi (3,24.28); Sala (3,32.35).
Von den Figuren auf der Erzählebene sind noch einmal die Figuren in den Gleichnissen Jesu zu unterscheiden, die in der Regel namenlos bleiben. Die Volksmenge und verschiedene Personengruppen (s. unten 3.6) bilden eigene Kategorien.
3.2. Frauen und Männer
Männer befinden sich im NT in der Überzahl, was im Kontext einer patriarchalen Gesellschaft nicht verwundert. Dennoch wird auch die Lebenswirklichkeit von Frauen in bemerkenswert aufmerksamer Weise thematisiert – mittels markanter Figuren, überraschender Episoden und ungewöhnlicher Konstellationen.
Statistisch gesehen beträgt das Verhältnis etwa 1:7, unter Abzug der Genealogien zwischen 1:3 und 1:4. Nimmt man die anonymen Figuren hinzu, verschieben sich die Proportionen noch einmal; auch Männer bleiben namenlos oder sind nur Statisten. Die Wahrnehmung von Frauen in den ntl. Texten unterliegt natürlich auch den Bedingungen ihrer Rezeption. Erst seit der feministischen Exegese in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s werden Frauen wieder entdeckt und sichtbar gemacht.
Ein markantes Beispiel bietet die Figur der Junia aus Röm 16,7
Neben Junia steht Maria Magdalena im Zentrum des Interesses, die nach Lk 8,1-3 gemeinsam mit weiteren Frauen den Wanderradikalismus Jesu teilt und die in Joh 20,11-18
Eine Reihe von „Frauentexten“ weist in der Briefliteratur auf die Präsenz und Aktivität von Frauen in der Frühzeit hin: Gal 3,26-28
In den Evangelien beginnt die Rolle von Frauen bei den Müttern der Geburtsgeschichten (Mt 1-2
3.3. Rollenverteilung
Die Rollenverteilung weist unterschiedliche Gewichtungen auf. Neben der „Prominenz“ (Metzner 2008) stehen weniger Bedeutende sowie Unbekannte und Namenlose. Man kann das gesamte Figuren-Set etwas freihändig in Hauptrollen, Charakterrollen, Nebenrollen und Statisten einteilen – ungeachtet der Frage, welcher sozialen Schicht die Figur angehört.
Charakterrollen: Der Täufer Johannes, der am Anfang der Jesus-Christus-Geschichte steht, fungiert als Bindeglied zwischen der Hoffnungsgeschichte Israels und der Verkündigung des Evangeliums; er kommt als Lehrer Jesu in den Blick und tritt als Gerichts- und Umkehrprediger auf. Die Schüler Jesu, die von Anfang an „Augenzeugen und Diener des Wortes“ (Lk 1,2
Nebenrollen: Viele Figuren tauchen nur in einem Satz oder in einer besonderen Szene auf – wie etwa Johanna, die Frau des Chuza, Berenike, Gamaliel, Simon Magus, Agabus und andere mehr. Das gilt auch von denen, die in der Briefliteratur (namentlich in den Grußlisten) genannt werden und hinter denen gelegentlich eine Geschichte aufblitzt wie etwa bei Chloe, Euodia und Syntyche, Phöbe, Erastos, Andronikos und Junia, Eunike und anderen.
Statisten: Die Mehrzahl der Figuren übernimmt die Rolle von Statisten und Komparsen. Abgesehen von den Figuren aus Israels ferner oder naher Vergangenheit sind das vor allem politische Funktionsträger. Hierher gehören auch viele der anonymen Figuren sowie die ständig präsente Volksmenge oder die Bürger in den hellen. Städten.
3.4. Klassifizierungen
Weitere Figuren lassen sich in Gruppen und Netzwerken (s. unten 7.) zusammenfassen. Das betrifft z.B. Herrscher und politische Funktionsträger wie Augustus, Tiberius, Quirinius, Pilatus, Festus, Felix, Klaudius Lysias, Drusilla, Berenike; alle Herodianer; Kaiphas, Hannas, das Synedrion mit einigen namentlich benannten Mitgliedern; Figuren wie die Kandake, den äthiopischen Beamten, die Königin des Südens oder den Hauptmann Naeman.
Eine eigene Kategorie bilden die Anhänger und Anhängerinnen Jesu und Mitglieder der christusgläubigen Gemeinde wie z.B. die Schülerkreise der Männer und der Frauen, der Zwölf und der Siebzig, die Gemeinden in Jerusalem, Damaskus, Antiochia, im pln. Gemeindekreis oder in den sieben Sendschreiben der Offenbarung.
3.5. Mythologische Figuren
Immer wieder tauchen im Gang der Erzählung mythologische Figuren auf. Das sind in alphabetischer Reihenfolge: Abaddon / Apollyon (Engel) Apk 9,11
Teils stammen diese mythologischen Figuren aus der Geschichte Israels und seiner Nachbarn, teils aus der Religiosität des röm. Imperiums. Sie repräsentieren eine Sicht auf die Welt, in der die Sphären des Menschlichen und des Göttlichen einander durchdringen oder zumindest berühren.
3.6. Anonyme Figuren
Viele Erzählfiguren bleiben anonym, selbst in markanten Episoden. Das betrifft Frauen wie Männer gleichermaßen. In Wundererzählungen haben allein der blinde Bartimäus (Mk 10,46
Die mit Abstand prominenteste anonyme Figur ist im NT jener geheimnisvolle „Schüler, den Jesus liebte“ bei Joh. Seine Anonymität hat programmatischen Charakter und stellt (jenseits aller historischen Erinnerungen) vor allem ein Identifikationsangebot dar.
Im „Volk / laos“ klingt das Gottesvolk in seiner Gesamtheit an; ihm stehen die „Völker / ethnoi“ gegenüber. Der ochlos bzw. die ochloi bezeichnen den zufällig zusammengewürfelten Haufen. Aus der unbestimmten Menge treten Gruppen wie Zollpächter oder Soldaten hervor (Lk 3,12.14
4. Methodische Zugänge
Exegese, Literaturwissenschaft und Historiographie gehen bei der Analyse der ntl. Erzählfiguren Hand in Hand. In methodischer Hinsicht bedienen sie sich derselben Instrumentarien.
4.1. Narratologie
Das Interesse narratologischer Analyse gilt im Besonderen der Konstellation von Figuren als HandlungsträgerInnen. Mit dem Begriff „Figur“ bezeichnet sie jede „Gegebenheit, die zu einem Zeitpunkt t zumindest die Merkmale ‚lebendig‘ und ‚bewußtseinsfähig‘ aufweist, in der Regel aber auch ‚kommunikationsfähig‘, ‚aktionsfähig‘ und ‚anthropomorph‘ ist“ (Hühn 2020, 4).
Ein „Figuren-Schema“ beschreibt Eigenschaften und konstruiert bestimmte Typen von Figuren. Das geschieht vorzugsweise intratextuell durch den Bezug auf weitere Indizien oder Informationen. Im Fall des Nikodemus etwa stünde dafür eine Linie von drei Episoden zur Verfügung, die das Evangelium durchzieht: Joh 3,1-12
Ein wichtiges Element narratologischer Analyse ist die Untersuchung der Figurenrede. Welchen Anteil hat eine Figur an direkter Rede, und welches Wissen wird ihr dabei in den Mund gelegt? Simeon und Hanna stehen in Lk 2
Figuren werden auch durch den Erzähler selbst charakterisiert. Das Erscheinungsbild des Täufers wird als das eines „wilden Mannes“ beschrieben (Mk 1,6
Immer wieder werden entscheidende Wissensbestände durch den Mund von Erzählfiguren ausgesprochen. Petrus formuliert bei Cäsarea Philippi sein Christusbekenntnis, das in Mt 16,17
4.2. Namenforschung
Das weitläufige Feld der Namenforschung, Onomastik, Onomatologie oder Anthroponomastik ist dort von Belang, wo Erzählfiguren einen Namen haben. Namen sind nicht nur „Schall und Rauch“. Sie tragen zur Charakterisierung von Figuren bei – gewollt oder beiläufig.
Auf diesem Gebiet spielt für die Antike neben literarischen Zeugnissen vor allem die Epigraphik eine wichtige Rolle. Die Bestände von Namen und Namensformen sowie ihre Wanderung und Herleitung sind heute gut erforscht. Zwei Instrumente spielen dabei eine wichtige Rolle: die Statistik ermittelt Dichte und Streuung von Namen in bestimmten Zeiträumen und Regionen; die Etymologie fragt nach Bedeutungen und Konnotationen, die einem Namen eignen und die er transportiert.
Grundsätzlich werden Namen kultur- und religionsspezifisch verwendet. In einer offenen Gesellschaft wie der hellen. lösen sich solche Bindungen jedoch auf, so dass nicht mehr zwingend von einem Namen auf Herkunft, ethnische Zugehörigkeit oder Religion geschlossen werden kann. Juden in der Diaspora tragen auch pagane Namen; christusgläubige Gemeindeglieder führen auch jüd. Namen.
4.3. Historiographie
Die Schriften des NT bewahren eine Fülle historisch zuverlässiger Erinnerungen auf. Deshalb werden sie von der Geschichtswissenschaft gerne als Quelle genutzt und mit anderen Quellen abgeglichen.
Viele Erzählfiguren bleiben auf das NT als einzige Quelle beschränkt. Hier gibt es mit Blick auf ihre historische Relevanz nur ein Abwägen von Wahrscheinlichkeiten. Bei anderen Figuren, für die auch außerbiblische Quellen zur Verfügung stehen (Täufer Johannes, Herrenbruder Jakobus, die Herodianer, Pilatus u.a.m.), lassen sich weitere Kontexte erschließen, so dass die ntl. Figurenzeichnung in Beziehung gesetzt und überprüft werden kann. Für eine Figur wie Judas den Galiläer (Apg 5,37
Wichtige Aufschlüsse vermag auch hier die Epigraphik zu bieten. Für eine Figur der röm. Politik wie Augustus (Lk 2,1
Die archäologische Evidenz wird besonders wichtig im Blick auf eine Figur wie Herodes den Großen. Seine Bauten und namentlich seine Festungen sind inzwischen umfangreich erforscht. Höhepunkt war die Entdeckung der lange gesuchten Grabanlage bei der Festung Herodion durch Ehud Netzer 2007, die insgesamt zu einer Neubewertung des Herodes in Israel geführt hat.
4.4. Prosopographie
Der Begriff „Prosopographie“ wird für jede Form personenorientierter Geschichtsforschung verwendet. Dabei stellt sich die Frage, in welchem Maß Geschichte überhaupt von Personen bestimmt wird oder wie hoch man den Einfluss von Persönlichkeiten auf die Entwicklung überindividueller Strukturen veranschlagen darf. Nach einer zwischenzeitlich diagnostizierten „Krise der Biographie“ erfreuen sich prosopographische Studien in der Geschichtswissenschaft wieder zunehmender Beliebtheit. Sie gewinnen dabei die Dimension sozialgeschichtlicher Forschung hinzu und beziehen die Frage nach kollektiven Strukturen ein. Obwohl die Prosopographie primär eine Methode der Geschichtswissenschaft ist, lässt sie sich auch auf die Untersuchung literarischer Biographien und Netzwerke anwenden.
Die systematische Beschreibung eines bestimmten Personenkreises, wie sie in der Netzwerkforschung bereits vielfach erprobt ist, findet im NT vor allem die Jesusbewegung und die frühe Christenheit als Untersuchungsgegenstand vor, die sich wiederum aus verschiedenen Kollektiven zusammensetzen. Gerade die Anfangszeit erscheint in dieser Hinsicht als ausgesprochen disparat. Zudem gibt es vielfältige Überschneidungen mit bestehenden Netzwerken (biologische Familie und „familia dei“; die Teilnahme am „Tisch des Herrn“ und am „Tisch der Dämonen“ 1Kor 10,21
Kollektive, aus denen sich ein Gesamtbild zusammensetzt, lassen sich nur in Umrissen erkennen. Der prosopographische Zugang zu den großen theologischen Themen vermag jedoch deutlich zu machen, inwiefern Theologie und Biographie miteinander verflochten sind. Wo die Taufe als biographisches Grunddatum das neue Selbstverständnis der Gemeinde bestimmt, kommt auch der jeweiligen Lebensgeschichte elementare Bedeutung zu.
Für eine große Zahl biblischer Figuren liegen schon detaillierte Einzelstudien vor. Ansätze zu Netzwerkstudien wie etwa zum Zwölferkreis oder zu Paulus und seinen Mitarbeitern kommen hinzu. Sie sind als Bausteine für eine (noch zu schreibende) ntl. Prosopographie zu verstehen.
5. Intertextuelle Bezüge
Der dominierende Prätext für die ntl. Erzählfiguren ist das AT. Das betrifft sowohl die Aufnahme und Modifikation bereits bekannter Figuren als auch den Rückgriff auf atl. Erzählsituationen. Prätexte aus dem Bereich des antiken Judentums und der hellen.-röm. Welt spielen demgegenüber eine nachgeordnete Rolle.
5.1. Altes Testament
Die Jesus-Christus-Geschichte der Evangelien ist das Herzstück für den intertextuellen Zusammenhalt beider Testamente. Das machen die Genealogien (Mt 1,2-16
Beliebt sind atl. Figuren in argumentativen Zusammenhängen. Paulus entwirft die menschheitliche Dimension des Christusereignisses in Gestalt einer „Adam-Christus-Typologie“ (1Kor 15,21-22.45-47
Neben einzelnen Figuren greift das NT auch auf Figurengruppen des AT zurück. Zum Allgemeinwissen gehört die Familiengeschichte der Erzeltern (Abraham, Isaak, Jakob, Esau, Josef; Sara, Hagar, Rebekka, Rahel). Aus der Richterzeit klingen Mose und Josua an; die priesterliche Tradition kommt mit Melchisedek, Levi oder Aaron in den Blick; die ersten drei Könige Saul, David und Salomo sind fester Bestandteil des erinnerten Bildungsgutes.
In den Bereich der Vorbildethik führt die Paradigmenreihen in Hebr 11 (eine „Wolke von Zeugen“), die das Thema „Glaube“ personalisiert: sie nennt Figuren der Urzeit (4-7) / der Abrahamszeit (8-22) / der Mosezeit (23-31) / der Folgezeit (32-38: Sieger 33-34, Märtyrer 35-38), und endet bei den Glaubenden der unmittelbaren Gegenwart. Die christusgläubige Gemeinde steht demnach in einer Traditionslinie mit den Frommen Israels, die darüber hinaus bis zum Beginn der Menschheitsgeschichte zurückreicht. Unter dem Motiv der „ärgerlichen Vorbilder“ werden bekannte Figuren aus dem AT aufgeführt – wie z.B. der syr. Hauptmann Naeman und die Witwe von Sarepta (Lk 4,25-27
Breiten Raum nehmen atl. Figuren in jenen Referaten der Geschichte Israels ein, die sich in den Reden der Apg finden (Jeska 2001). Das ist auch der Fall bei den Typologien in 1Kor 10 (die Väter in der Wüste), Gal 4 (Hagar und Sara), Joh 3,14
Ein diffiziles Spiel intertextueller Bezüge entfaltet sich da, wo ntl. Figuren als Träger wohl bekannter atl. Namen in Erscheinung treten. Wie viel klingt etwa in Jesus / Jeschua (bewusst oder unbewusst) von dem Vorbild eines Josua, des Nachfolgers Moses, an? Josef, der Mann der Maria, erinnert unwillkürlich an den Jakobssohn, was besonders für die Flucht nach Ägypten (Mt 2
5.2. Antikes Judentum
Im antiken Judentum sind die Grenzen zwischen kanonisch und außerkanonisch noch offen, so dass sich das Spektrum intertextueller Bezüge noch einmal erweitert.
Die Bedrohung und Bewahrung des Kindes Jesus in Mt 2
5.3. Hellen.-röm. Welt
Anspielungen auf literar. Figuren der hellen.-röm. Welt sind nur sporadisch zu finden. In Apg 17,28
Ein entsprechendes enzyklopädisches Wissen der Leserinnen und Leser ist wohl auch dort vorauszusetzen, wo mythologische Figuren wie Sokrates, der Kyniker Diogenes von Sinope oder Herakles zwar nicht genannt, aber doch irgendwie assoziiert werden. Hinter Apk 12,18
6. Onomastik und Namenforschung
In dem Figurenarsenal des NT kommt jenen Figuren, die Namen tragen, besondere Bedeutung zu. Gegenüber anonymen Erzählfiguren sind sie leichter zu identifizieren und weisen ein klareres Profil auf.
6.1. Namensvarianten
Ein Problem stellt die vielfach variierende Schreibweise von Namen dar. Abgesehen von individuellen Formen (und Verschreibungen) in der hsl. Überlieferung resultiert diese Vielfalt aus der Morphologie des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen. In den späteren volkssprachlichen Übersetzungen nimmt diese Variantenfülle noch einmal zu. Seit der Reformationszeit wird die Schreibweise von Namen dann aufgrund der jeweiligen Quelle (Ursprachen oder Vulgata) geradezu ein konfessionelles Erkennungszeichen. Dem versucht eine Vereinheitlichung der Schreibweisen abzuhelfen: Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, Stuttgart 1971, 21981.
Manche Figuren werden bereits im NT auf verschiedene Weise geschrieben, je nach sprachlichem Kontext. Das betrifft z.B. Simon / Simeon; Kefa / Kephas; Jona / Johannes; Saul / Saulus; Priska / Priscilla; Kleopas / Klopas, Silas / Silvanus und andere mehr.
Hierher gehört auch das Phänomen von Parallel- oder Nebennamen wie im Fall des Saulus / Paulus: Die Behauptung, er habe sich „vom Saulus zum Paulus“ gewandelt, ist nichts anderes als (wenngleich weit verbreiteter) Unsinn. Saul / Saulus ist der hebr. Name eines Kindes frommer Eltern aus dem Stamm Benjamin (Phil 3,5
Eine Reihe von Namen wird im NT übersetzt, was auf ein verändertes Sprachmilieu der Adressaten hindeutet. Das sind z.B. Barnabas / Sohn des Trostes; Bar Jesus / Elymas; Tabita / Dorkas; Abbadon / Apollyon. Mitunter geht die Übersetzung aber auch in die Irre: Der Name Barnabas lässt sich definitiv nicht mit „Sohn des Trostes“ (wie Apg 4,36
6.2. Sprachspektrum
Unter den Namensformen der ntl. Erzählfiguren lassen sich verschiedene sprachliche Herkünfte und Einflüsse ausmachen. Im Folgenden können nur einige Beispiele genannt werden.
Eine große Zahl von Personennamen ist hebr. Ursprungs. Sie sind „eine beständige Erinnerung an das hebräische Altertum“ (Dalman 1929, 25), denn erst zur Zeit Jesu wird es üblich, bei der Namensgebung auf die Frommen der Vergangenheit zurückzugreifen. Spitzenreiter sind Namen wie Jakob, Simon, Johannes, Juda, Josef, Jose, Maria, Elisabet; später dann auch Abraham, Isaak, Mose oder Elia.
Aram. Enflüsse machen sich vor allem in Beinamen bemerkbar, wie: Kephas – kefa / Stein (Joh 1,42); Boanerges – bene regesch / Söhne des Tobens (Mk 3,17
Die griech. Sprachwelt kommt zum Zuge in Namen wie z.B. Alexander, Andreas, Andronikos, Äneas, Berenike, Demetrios, Dionysios, Epainetos, Eubulos, Eunike, Euodia, Hermas, Hermogenes, Nikanor, Nikolaos, Nikodemos, Olympas, Onesiphoros, Patrobas, Philetos, Philologos, Stephanos, Syntyche, Trophimos, Tychikos und anderen mehr.
Dem latein. Bereich gehören Namen an wie z.B. Ampliatus, Claudia, Clemens, Crescens, Fortunatus, Julia, Linus, Publius, Quartus, Rufus, Tertius, Tertullus, Urbanus und andere mehr, die im Maskulinum jedoch meist mit der griech. Endung -os versehen sind.
6.3. Redende Namen
In narratologischer Hinsicht sind besonders die „redenden“ Namen von Interesse. Das Phänomen als solches ist schon in atl.-jüd. Literatur verbreitet. Auch im NT lassen sich markante Beispiele entdecken.
Prominent ist der Name Jesus / hebr. Jeschua = „JHWH ist Rettung“ (Mt 1,21.25
In auffälliger Dichte finden sich redende Namen im Vorwort und im Eingangsteil bei Lk. Theophilos = „Gottesfreund“ (Lk 1,3
Anders sieht es bei den Grußlisten der Briefe (s. unten 7.5) aus, wo sich in der Regel ein zufälliges, bunt zusammengewürfeltes Nebeneinander von Namen findet. Epigraphische Befunde können helfen, die Zusammensetzung einer Bevölkerungsgruppe genauer zu bestimmen: Wie viele Namen lassen z.B. in der Stadt Philippi während des 1. Jh.s röm., griech., jüd. oder indigene Herkunft vermuten?
Gelegentlich geben Namen auch weitere Informationen über die Identität ihrer Träger preis. Theophore Namen deuten eine religiöse Orientierung an: hebr. werden sie mit -el und -jah zahlreich gebildet; im paganen Bereich findet man etwa Apelles, Apollos, Dionysios, Diotrephes, Epaphroditus, Eutychus, Fortunatus, Hermas, Hermes, Hermogenes, Nympha, Olympas, Syntyche, Timotheos, Tychikos. Sklavennamen bezeichnen den (aktuellen oder früheren) sozialen Status – wie z.B. bei Lydia (Lydierin), Persis (Perserin), Ampliatus, Urbanus, Stachys oder Onesimus.
Beliebt sind Wortspiele mit Namens- oder Beinamensformen. Petros und Petra funktioniert nur auf Griech. (das Aram. kennt lediglich kefa): Petros meint den Stein als einzelnes Stück, Petra den gewachsenen Fels. U. Luz fängt dieses Wortspiel aus Mt 16,18
6.4. Beinamen
Beinamen bringen ein besonderes Charakteristikum der jeweiligen Figur zum Ausdruck. Häufig dienen sie nur der Unterscheidung mehrerer TrägerInnen desselben Namens. Simon Petrus wird mit seinem Beinamen von Simon Kananäus / Zelotes (Mk 3,18
In jedem Falle sind Beinamen Teil einer Geschichte. Dass Jesus Nazoräer heißt, hängt mit seiner Herkunft zusammen und soll vielleicht auch schon eine besondere Gottesbeziehung (Nasiräer?) signalisieren (Mt 2,23
Mitunter tritt der Beiname im Lauf der Zeit an die Stelle des ursprünglichen Namens, den er verdrängt. Petrus wird zum beliebtesten Männernamen der christl. Welt; Barnabas lebt vor allem in seinem Beinamen fort; Magdalena (die aus dem Ort Magdala) etabliert sich als eigenständiger Frauenname.
Die Praxis der Beinamengebung berührt sich eng mit der Verleihung von Hoheitstiteln, Prädikationen, Epitheta oder Würdenamen. Hier öffnet sich vor allem in der Christologie ein weites Feld. Christus = Messias / Gesalbter verschmilzt mit dem an sich schon bedeutungsvollen Jesus-Namen zu einer Bekenntnisaussage; Immanuel (Mt 1,23
6.5. Namenswechsel
Ein Namenswechsel, der einen Identitätswechsel anzeigt, kommt erst in späterer Zeit im Kontext der Taufe auf. Dem NT ist das Phänomen von Taufnamen noch völlig fremd. In der frühen Christenheit tragen die Christusgläubigen auch weiterhin ganz selbstverständlich pagane Namen, selbst wenn in ihnen das Pantheon der hellen. Welt anklingt. Erst vom 4. Jh. an bildet sich ein Arsenal „christlicher“ Namen aus, von dem die alten „heidnischen“ Namen allmählich verdrängt werden. Doch selbst im Zuge der Missionsgeschichte braucht es noch lange Zeit, bis sich die neue Praxis durchsetzt (vgl. Blanke 1962; Solin 2013).
7. Figurengruppen und Netzwerke
Das NT kennt ein Reihe von Figurengruppen, die durch bestimmte Merkmale miteinander verbunden sind. Solche Gruppen überlagern sich vielfach; einzelne Figuren können verschiedenen Netzwerken angehören.
7.1. Genealogien / Stammesverbände / politische Strukturen
Genealogische Auflistungen gehören im NT zum Erbe der atl.-jüd. Literatur. Der „Stammbaum Jesu“ in Mt 1,2-16
Eine wichtige Rolle spielen die Patriarchen und ihre Familie. Die Formel vom „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ beschreibt das Motiv der Erwählung; im Kontext der Sadduzäerfrage fungiert sie als Argument für ein Leben nach dem Tod (Mk 12,26-27
Prägend bleibt das Bild von Israel als einem „Zwölfstämmevolk“ (Apg 26,7
Politische Netzwerke werden in den Synchronismen bei Lk sichtbar (Lk 1,5
7.2. Paradigmenreihen
In der „Wolke von Zeugen“, die Hebr 11
Nicht in der formalen Geschlossenheit einer Reihe, jedoch als Set von Erzählfiguren werden bei Lk in exemplarischer Weise „gerechte“ Israeliten vorgestellt. Sie stehen für ein Milieu, in dem die Jesus-Christus-Geschichte beginnt und schließlich ihr vorläufiges Ende findet. Zu diesen Figuren gehören im Besonderen Elisabet und Zacharias (Lk 1,5-5
7.3. Schülerkreise Jesu
Ein zentrales Netzwerk wird durch den Kreis der SchülerInnen Jesu gebildet. Die größte Bedeutung hat dabei der Zwölferkreis, wie er in den entsprechenden Listen (Mk 3,16-19
Lk sieht ausschließlich diese Zwölf als „Apostel“ an (Lk 6,13
Aus den Zwölf tritt mit Petrus und den beiden Zebedäussöhnen eine Dreiergruppe hervor: Sie sind Zeugen bei der Auferweckung der Jairustochter (Mk 5,37
Eine besondere Rolle spielt der geheimnisvollen „Schüler, den Jesus liebte“ bei Joh. Er wird vor allem mit Petrus abgeglichen, dem er als Traditionsträger zur Seite tritt. Judas wiederum fungiert als Gegentypos zu Petrus: Beide scheitern in den Turbulenzen der Passionsereignisse, doch der eine kehrt um, während der andere seinem Leben ein Ende setzt.
In Lk 8,1-3
Die „große Schar seiner Schüler“ (Lk 6,17
7.4. Gremien und Funktionsträger
Feste Figurengruppen, die durch eine gemeinsame Funktion miteinander verbunden sind, bilden sich auch in Leitungsgremien ab.
Das höchste Gremium der jüd. Selbstverwaltung in Jerusalem ist das Synedrion, mit seinen 70 Mitgliedern orientiert an den 70 Ältesten aus der Zeit Moses (Num 11
Dem Zwölferkreis, der nach Ostern schon da ist, tritt der Siebenerkreis der „Hellenisten“ zur Seite (Apg 6,5
In der jüd. und hellen.-röm. Gesellschaft hat die Ältestenverfassung (Gerusia, Presbyterium, Senat) schon eine lange Tradition. Presbyter übernehmen nun auch in der christusgläubigen Gemeinde Verantwortung: von Apg 11,30
Ein dynamisches Netzwerk von Funktionsträgern knüpfen Paulus und seine MitarbeiterInnen. Insgesamt lassen sich ca. 40 Personen diesem Kreis zuordnen (so Ollrog 1979). Paulus selbst beginnt als Mitarbeiter der Gemeinde in Antiochia und als Juniorpartner des Barnabas; später bindet er zahlreiche MitarbeiterInnnen projektbezogen in seine Aktivitäten ein. Reisebegleiter sind Silas oder Timotheus; Titus fungiert als Organisator der Kollektensammlung; die Gemeinden unterstützen Paulus durch „Gemeindegesandte“ (2Kor 8,23
Ein singuläres Gremium stellt die Gruppe „wirklicher Witwen“ in 1Tim 5,3-16
Eine andere Rolle spielen die vornehmen, wohlhabenden oder „gottesfürchtigen“ Frauen bei Lk, die sich unter anderem als Unterstützerinnen engagieren: Lk 8,1-3
7.5. Gemeindestrukturen
Die christusgläubige Gemeinde der Anfangszeit konstituiert sich „hausweise“ (Apg 2,46
Gemeindeverbände werden in den Grußlisten der Briefe sichtbar. Den umfangreichsten Bestand bietet mit 27 Namen Röm 16,1-16; zwischen Grüßenden und Gegrüßten knüpft sich ein Netz persönlicher Beziehungen; vgl. dazu noch die Listen in Phlm 23-24
7.6. Familienstrukturen
In der Jesusbewegung wird die biologische Familie zunächst in Frage gestellt. Dennoch bleibt ihre Struktur das grundlegende Modell zwischenmenschlicher Beziehung. Die neue „familia dei“ kann gar nicht anders, als sich genau daran zu orientieren.
Jesus von Nazaret hat nicht nur eine Genealogie, sondern auch eine Familie mit Vater, Mutter, Schwestern und Brüdern. Das gilt nicht anders für den Täufer Johannes, dessen Vater, Mutter und Verwandte vorgestellt werden (Lk 1,5-25.39-80
Paulus hat in Jerusalem eine Schwester und einen Neffen (Apg 23,16
Auch Familienkonflikte bleiben nicht aus. Die Familie Jesu hält den großen Sohn für „verrückt“ (Mk 3,20-21
Wohlbekannt ist im NT die weit verzweigte Dynastie der Herodianer. In das Blickfeld einzelner Szenen geraten Herodes der Große, Archelaos, Herodes Antipas mit seiner Frau Herodias und deren Tochter, Philippus, Agrippa I. sowie Agrippa II. und Berenike.
Ein virulentes Thema ist im NT die Ehe. Es schlägt sich nieder in Reflexionen zu Ehescheidung und Leviratsehe, in den Nachfolgeworten vom Verlassen der Ehefrau, in Rollendiskursen, in der Haustafelparänese oder in dem Modell der Einzigehe bei Mt und in den Past. Das Thema spiegelt sich aber auch im Bild prominenter Ehepaare wider. Erwähnt werden: Abraham und Sara (1Petr 3,5-6
Beliebt ist die Definition von Erzählfiguren über verwandtschaftliche Beziehung. Hier kommt das ganze Spektrum vor: die Tochter über den Vater (Lk 1,5
7.7. Anonyme Gruppen
Anonyme Gruppen (s. oben 3.6) begegnen vorzugsweise in Gestalt von Religionsparteien wie der Sadduzäer, Pharisäer und Zeloten, der Schriftgelehrten, Gesetzeslehrer oder „Herodianer“ (vgl. zu letzteren Mk 3,6
Die Völkerwelt (vgl. oben 5.3) ist in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Jesusbewegung wie der frühen Christenheit präsent. Perspektivisch wird sie, ausgehend von der Abrahamsverheißung (s. oben 5.1), im Zuge der beginnenden Missionsgeschichte in den Blick genommen – bis hin zu dem Bild des eschatologischen Völkermahles (Mt 8,11
Die Gemeinden in Häusern und Städten bleiben eine unbestimmte Größe, sind aber nie abstrakt, sondern stets als konkrete Versammlung von Menschen vorgestellt.
8. Fakt und Fiktion
Die Erzählungen des NT sind in narratologischer Hinsicht fiktionale Texte. Daran haben auch ihre Figuren teil. Dennoch sind sie in der Regel konkreten historischen Situationen zugeordnet. Beide Ebenen überlagern einander und erschließen sich wechselseitig.
8.1. Erinnerung und Gestaltung
Die Jesus-Christus-Geschichte der Evangelien will von Ereignissen berichten, „die unter uns geschehen sind“ (Lk 1,1
Die historischen Konturen der ntl. Erzählfiguren sind stärker ausgeprägt als bei denen des AT, was vor allem an der deutlich geringeren Zeitspanne zwischen Ereignis und Niederschrift liegt. Selbst die Existenz der christologisch so massiv überformten Figur Jesu von Nazaret ist durch die historische Rückfrage seit der Aufklärungszeit zweifelsfrei bestätigt worden. Davon bleibt jedoch die Einsicht unberührt, dass gerade die Figur Jesu Christi ein „Personengeheimnis“ bewahrt, dem sich auch die historische Rückfrage nur annähern kann.
Bei aller Verlässlichkeit einzelner Indizien bleiben die Erzählfiguren des NT primär literarische Figuren. Für diese Situation bietet der lkn. „Theophilos“ (Lk 1,3
8.2. Literarische Biographie
Von den Männern und Frauen um Jesus sowie den Mitgliedern der frühen christusgläubigen Gemeinde wird nicht etwa deshalb erzählt, um festzuhalten, „wie es wirklich war“ – sondern um Beispiele vorzustellen, wie der Glaube an Jesus Christus in konkreten Lebensvollzügen Gestalt gewinnt. Die prosopographischen Skizzen oder Notizen, die in den Texten zu finden sind, erweisen sich als Fragmente literarischer Biographien. Ihre Figuren treten vor allem als TrägerInnen oder RepräsentantInnen theologischer Themen in Erscheinung und gewinnen auf diese Weise einen weitreichenden Einfluss auf ihr Lesepublikum.
Diese Funktion lässt sich an wenigen Beispielen verdeutlichen. Maria wird in den Evangelien als weibliche Identifikationsfigur vor allem in ihrer Mutterrolle aufgebaut und fungiert zugleich als Schirmherrin für die wahre Menschlichkeit Jesu. Petrus ist der maßgebliche Traditionsträger, Mann der ersten Stunde, Garant der Überlieferung, exemplarischer Nachfolger und Anwalt für die Einheit der „Kirche“ wie des Gottesvolkes. Herodes der Große repräsentiert mit seiner Dynastie den machtpolitischen Kontext des Lebens Jesu und der frühen Gemeinde. Der Täufer Johannes fungiert als Bindeglied zwischen Gottesvolk und Jesusbewegung; seine Rolle changiert zwischen der eines Vorläufers und der eines vorauseilenden Nachfolgers (Lk 3,18
Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Letztlich kann man das gesamte Tableau theologischer Themen und Schlüsselbegriffe anhand von Erzählfiguren auf narrative Weise entfaltet sehen. Die Fragmente literarischer Biographien im NT verankern frühchristliche Theologie in Zeit und Raum und vermitteln sie zugleich an die Leserschaft späterer Generationen.
8.3. Geschichtsdeutung
Mit Hilfe seiner Erzählfiguren wird im NT Geschichte in Form von Geschichten lebendig. Sie wird dabei gedeutet und in einen großen Zusammenhang gestellt.
Bereits in den Genealogien lässt sich eine Form theologischer Geschichtsbetrachtung erkennen. Die Geschichte Jesu Christi, wie sie von den Evangelisten entworfen wird, steht in einer klaren Bedeutungsperspektive: Was als Provinzepisode beginnt, entwickelt sich zu einem Geschehen von welthistorischem Rang. Die Vielfalt zeitgleicher Aufbrüche, Theologien und ihrer Protagonisten nach Ostern reduziert Lukas wieder und konzentriert sie auf die eine dominierende Linie der pln. Mission. Dieses Verfahren spiegelt sich dann auch in der Dominanz des Korpus Paulinum sowie in den Schriften der Paulus-Tradition im ntl. Kanon wider.
Einige Beispiele machen die Deutung von Geschichte besonders anschaulich. Die Rolle des „Lieblingsschülers“ bei Joh besteht vermutlich darin, in der Figurenkonstellation zu Petrus die Beziehung zwischen der eigenständigen joh. Tradition und der Gesamtkirche zu definieren. An der Figur des Judas bearbeitet die frühe Christenheit das Versagen der Anhänger Jesu während der Passionsereignisse und ringt mit dem Problem der Apostasie; dass sie dabei Judas zunehmend zum Feindbild stilisiert, erklärt sich wiederum aus den geschichtlichen Entwicklungen und Irrwegen der folgenden Jahrhunderte.
In der langen Zeit der Auslegung und Rezeption biblischer Texte findet sich die Christenheit immer wieder neu in den Erzählfiguren des NT wieder. Sie bindet sich damit zurück an die Schrift und adaptiert sie zugleich für veränderte Fragestellungen. Gerade die Erzählfiguren erweisen sich auf diese Weise als Garanten für Kontinuität und Fortschreibung einer Geschichte, die im Gottesvolk Israel wurzelt und mit Jesus Christus in die Völkerwelt vordringt.
8.4. Figurenzeichnung
Die Zeichnung der ntl. Erzählfiguren stellt sich als ambivalent dar. Bezugspunkt ist in der Regel die Haltung gegenüber Jesus Christus, die von dem greisen Simeon in der Spannung von „Fall und Aufstehen“ (Lk 2,34
Doch auch die Figurenzeichnung der AnhängerInnen bleibt von Ambivalenzen nicht verschont. Fehlbarkeit, Scheitern und Umkehr werden als Mittel narrativer Paränese funktionalisiert. Selbst die Familie Jesu muss aus anfänglicher Distanz erst zur „familia dei“ finden. An dem Schülerversagen wird nichts beschönigt; Judas wechselt die Seiten; Petrus leugnet; alle fliehen, und einer rettet sogar sein buchstäblich nacktes Leben (Mk 14,51-52
Breiten Raum nimmt das Motiv des Schülerunverständnisses ein. Bei Lk hat es ein Vorspiel im Unverständnis der Eltern gegenüber dem Zwölfjährigen (Lk 2,50
Für die Fehlbarkeit einzelner Figuren gibt es weitere Beispiele. Nikodemus zaudert trotz seiner offenkundigen Affinität gegenüber Jesus (Joh 3,1-12
Dem wiederholten Unverständnis der Schüler steht immerhin auch ihr klares Verständnis der Worte Jesu gegenüber. Nur die Schüler vermögen die Gleichnisse zu verstehen (Mk 4,11
Hinsichtlich der Gegner ist die Figurenzeichnung klar. Das gewaltsame Geschick Jesu hat eine Vorgeschichte, die bis auf das gewaltsame Geschick der Propheten in Israel, den leidenden Gerechten oder den Gottesknecht zurückblendet. Als Kontrastbild stehen einander der wahre und der vermeintliche König der Juden gegenüber (Mt 1-2
8.5. Legitimationsinteressen
Die zunächst anonymen Autoren der Evangelien werden vom 2. Jh. an zum Zweck der Unterscheidung und Autorisierung namentlich benannt. Ihre Pseudonyme sind mit Bedacht gewählt, so wie im Fall der pseudepigraphen Briefe auch. Bei Markus denkt man an Johannes Markus und dessen Nähe zur frühen Missionsgeschichte (Apg 12,12.25
9. Dogmatische Verwicklungen
Dass die Erzählfiguren des NT Repräsentanten und Träger theologischer Sachanliegen sind, trifft in besonderem Maße auf die eine zentrale Figur, Jesus Christus, zu. Doch auch die übrigen Figuren ziehen in unterschiedlicher Intensität dogmatische Interessen auf sich und werden zum Gegenstand weitreichender theologischer Diskurse.
9.1. Jesus Christus
Ein Schlüsseldatum stellt in dieser Entwicklung das 4. Ökumenische Konzil von Chalcedon (451) mit seiner Konsensformel dar: Jesus Christus ist vollkommen Gott und vollkommen Mensch, in zwei „Naturen“ – unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert. Damit werden beide Perspektiven (die auf den „Schmerzensmann“ und die auf den „Pantokrator“) für die folgenden Jahrhunderte fixiert. Auch bei der Lektüre der Evangelien lassen sich beide Perspektiven nicht mehr voneinander lösen.
In der Aufklärungszeit bricht die Rückfrage nach dem historischen Jesus mit Urgewalt auf. Nun werden aus methodischen Gründen beide Perspektiven wieder unterschieden. Aber auch nach dem „Third Quest“ (der dritten Runde in dieser Rückfrage in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s) weiß man, dass die Figur Jesu Christi nur im Zusammenspiel aus historischer Forschung und theologischer Reflexion gleichermaßen zu haben ist.