Befreiungstheologie
theology of liberation (engl.)
(erstellt: Januar 2024)
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1. Zum Begriff und seiner Geschichte
Befreiungstheologie hat in der Literatur eine Reihe gebräuchlicher Varianten, z.B. Theologie der Befreiung, theology of liberation und v.a. teología de la liberación, in jüngerer Zeit wird auch immer wieder von „lateinamerikanischer Theologie“ gesprochen. Letztere Form hängt mit dem Erstarken → kontextueller Ansätze
Befreiungstheologie ist in den 1960er-Jahren im katholischen Kontext des hispanischen Amerika entstanden und erreichte eine Blütezeit in den 1970er Jahren unter Wohlwollen von Papst Paul VI., bevor am 06.08.1984 die Instructio „Libertatis Nuntius“ des Vatikan diese Form des Theologietreibens unter Beobachtung stellte und sie teils bekämpfte (letzte Nota über Jon Sobrino von 26.11.2006).
Grund dafür sind einige theologische Streitpunkte, u.a. hierarchiekritische Positionen (Boff, 2009), die Frage nach dem erlaubten Einsatz von Gewalt (z.B. Schlegelberger u.a. 1980, 205) und die Verwendung marxistischer Terminologie, bei deren Abwehr sich die antikommunistischen Haltungen der Reagan-Doktrin in der US-geprägten westlichen Politik mit kirchlichen Vorbehalten gegen den Sozialismus verbanden. Ein weiteres Politikum war die Frage des 500-JahrGedenkens der „Entdeckung Amerikas 1492“ im Jahr 1992, in dessen Rahmen Johannes Paul II. das von der CLAR (Konferenz der Ordensleute Lateinamerikas) gestartete Bibelprojekt „Wort und Leben“ stoppte.
Befreiungstheologie ist geprägt von einem Blick für die Opfer und der offenen Kritik gegen Diktaturen und Regime; gleichzeitig liebäugelten Vertreter der Befreiungstheologie aber auch mit der Revolution in Kuba, waren Teil der nicaraguanischen Sandinista-Bewegung und engagierte sich sehr stark in El Salvador. Diesen Einsatz bezahlten nicht wenige mit ihrem Leben. Besonders bekannt sind der Tod des 2018 heiliggesprochenen Erzbischofs Óscar Romero (1980) und das Massaker an der jesuitischen UCA in El Salvador (1989), dem u.a. Ignacio Ellacuría SJ zum Opfer fiel.
Befreiungstheologie ist ein spezifischer und eigenständiger Zugang der Theologie Lateinamerikas und daher abzugrenzen von einer Reihe weiterer kontextueller Ansätze, denen sie zugleich nahesteht. Sie ist in erster Linie eine Praxis, die wissenschaftlich reflektiert wird, und keine „Schreibtisch“-Arbeit. Aus diesem Grund hinken die Publikationen oft nach und sind auch nicht das zentrale Ausdrucksorgan für befreiungstheologische Exegese.
Vor dem Eingang der cultural turns in die Theologie fungiert Befreiungstheologie ebenso wie „Theologie der Dritten Welt“ als eine Art Sammelbegriff für politische Theologien außerhalb des Westens (→ Politische Theologie
In den 1980er Jahren begann eine stärkere Ausdifferenzierung, und das Aufkommen der postkolonialen Ansätze, v.a. der → Subaltern Studies
Gegenwärtige Ansätze sind nach wie vor stark von konkreter Praxis durchdrungen, von gelebter Theologie. Ebenso wie postkoloniale Ansätze orientieren sich auch einige gegenwärtige Theorien der Befreiungstheologie an poststrukturalistischen Ansätzen (vgl. Silber 2017). Diskutiert wird in letzter Zeit, wer „die Armen“ in den jeweiligen Kontexten sind, z.B. Migrant:innen, Indigene, Frauen, sodass auch Kombinationen wie Ivone Gebars ökofeministische Befreiungstheologie entstehen (vgl. Salfinger 2023).
2. Definition, Merkmale und die Rolle der Bibel
Der erste umfangreiche Definitionsversuch stammt von Gustavo Gutiérrez OP (1928), dessen Werk „Theologie der Befreiung“ (1971, dt. 1973) das Phänomen zu fassen suchte. Bei ihm gibt es bereits die wichtigen Merkmale der „Option für die Armen“, des befreienden Handelns, der Kontextualisierung jeglicher Theologie, der Reich Gottes Theologie mit stark immanentem Zug und der Orientierung an konkreter Praxis und Lebenswelt; in den ersten Auflagen verwendet er noch viel marxistische Terminologie und bezieht sich bei seinen soziologischen Ausführungen immer wieder auf die Dependenztheorie. Im gleichen Jahr verfassten auch Hugo Assmann (1933-2008), Juan Luis Segundo (1925-1996) und Leonardo Boff (1938) Schriften zur Befreiungstheologie, sodass 1971 neben 1968 als eines der Gründungsjahre theologischer Reflexion der Befreiungstheologie gilt.
Eine zweite Klärung der Begriffe fand auf den Sitzungen der lateinamerikanischen katholischen Bischofskonferenz (CELAM) statt. Besonders die Beschlüsse von Medellín (1968) und Puebla (1979) haben große Bedeutung und verstehen sich als (politisches und pastorales) Bekenntnis zu den formulierten Theorien (s.o.). Im Umfeld von Puebla 1979 wurde ein größerer Interviewband angelegt, der u.a. von deutschen Theologen durchgeführt und übersetzt wurde (Schlegelberger u.a. 1980). In diesem Band versuchte man, empirisch zu belegen, was als Objekte der Befreiungstheologie angesehen wird und welche politische Praxis die Kirche haben solle (Schlegelberger u.a. 1980, 19), d.h. es wurden Ausdifferenzierungen der verschiedenen
befreiungstheologischen Ansätze erfasst.
Ein weiterer umfangreicher Entwurf wird vom bedeutenden Theoretiker und Philosophen der Befreiungstheologie, Enrique Dussel (1934-2023), vorgelegt, der die Praxis lateinamerikanischer Kolonisation und Befreiung untersuchte und der breit zitiert wird. Dussel (1989) geht die geschichtlichen Etappen lateinamerikanischer Theologie durch und definiert, ab wann sie einen Eigenwert gegenüber den europäischen Importen gewinnen konnte, d.h. ab wann von einer Befreiungstheologie gesprochen werden könne. Die erste wichtige Etappe für die Bibelwissenschaften in diesem Bereich war die Errichtung der ältesten Universität beider Amerikas in Mexiko-Stadt am 25.01.1533 (Dussel 1989, 35-38). Alonso de la Veracruz (1504-1584) ist der erste Exeget vor Ort; der nächste bedeutende Bibliker ist Domingo Muriel SJ (1743-1795), der in Chuquisaca unterrichtete. Dennoch dauerte es, laut Dussel, bis zum Werk „Jésus, l’église et les pauvres“ (1963) des französischen Arbeiterpriesters Paul Gauthier, dass sich die Befreiungstheologie als eigenständiger Impuls entwickeln konnte (Dussel 1989, 60).
Zeitgebunden orientieren sich die frühen Vertreter:innen der Befreiungstheologie an der Dependenztheorie, an marxistischen Strömungen und am großen Einfluss der USA in Lateinamerika. Daher fand nach Dussel auch wenig überraschend die Wahl der populärsten Bibelstellen der Befreiungstheologie in dieser Zeit statt. Besonders wichtig sind die Praxis Jesu und die Texte des Buches → Exodus
Bilder der Unterdrückung, der Sklaverei und des Exils werden hier gebraucht. Der bekannte Vertreter Leonardo Boff adaptierte außerdem das Bild des leidenden → Gottesknechtes
„Die Exegese bestätigte diese antiidolatrische, den Kapitalismus kritisierende Theologie [prophetische Götzenkritik wurde mit der marxschen Fetischismusanalyse verbunden]. Das heißt: Die Lektüre der Bibel wurde mit einer Interpretation der wirtschaftlichen Gegebenheiten verbunden; dabei stieß man auf die Mythen eines Neoliberalismus, der letztlich mit den konservativen wirtschaftlichen Auffassungen übereinstimmt.“ (Dussel 1989, 78)
Typische Elemente befreiungstheologischer Exegese sind auch im Anschluss an diese Phase die Orientierung an der Lebenswelt der Auslegenden, d.h. ein rezeptionsorientierter Ansatz, die Betonung der befreienden Erfahrung Gottes durch und mit der Bibel, das Suchen nach konkreten Handlungsanweisungen für die Gegenwart und die Kritik an den Unterdrückenden bei gleichzeitger Option für die Unterdrückten. Auch wenn → historisch-kritische Exegese
3. Einige Vertreter mit Beispielen zur Bibel
Es kann nur exemplarisch auf Vertreter:innen und ihren Umgang mit der Bibel eingegangen werden, um die Bandbreite innerhalb der Befreiungstheologie kennenzulernen. Zu den radikalsten Anhängern einer marxistisch geprägten Befreiungstheologie zählt fraglos der Dominikaner „Frei Betto“ (1944, bürgerl. Carlos Alberto Libânio Christo). In seinem berühmtesten Werk, den „Nachtgesprächen mit Fidel“ (Betto 1986), führt Betto mehrere Gespräche mit dem kubanischen Diktator. Seine frühe Position wird in der Einleitung bereits gezeigt. Die Bibel sei ein „revolutionäres“ Buch, denn: „Ich glaube, die Lehren Jesu sind in hohem Maße revolutionär und stimmen vollständig mit dem Ziel der Sozialisten, eines Marxisten-Leninisten überein“ (Betto 1986, 21); dies führt er anhand zweier Vortragsmitschriften aus (Betto 1986, 51-61). Etwas weniger revolutionär, aber dennoch radikal ist der wohl weltweit bekannteste Band der Befreiungstheologie zur Bibel, „Das Evangelium der Bauern von Solentiname“ (1975; dt. 1977) von Ernesto Cardenal (1925-2020). In diesem zunächst in mehreren kleinen Bänden erschienen Werk sammelt Cardenal die Bibelgespräche einer Gemeinschaft besitzloser Bauern, die er mehrere Jahre begleitet hat, und schreibt sie nieder. Die Option für die Armen und das Theologisieren bzw. Exegetisieren der Armen stehen dabei im Vordergrund. Konkrete Praxis, auf die sich die Befreiungstheologie immer wieder beruft, wird hier aufgezeichnet. Der wichtigste biblische Theoretiker und dennoch außerhalb einschlägiger Kreise erstaunlich unbekannt ist Carlos Mesters (1931). 1958 schloss der Karmelit sein Studium der Bibelwissenschaften am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom sowie in Jerusalem ab. 1979 war er Gründungsmitglied des Centro de Estudos Bíblicos (CEBI) und ab 1986 praktizierte er im Auftrag der CELAM Bibelstudien mit den Armen, denen er sich seit 1990 gänzlich widmet. Berühmt sind seine Lesepraxen in Kleingruppen und kleinen Gemeinschaften, die auch in die Methodik des → Bibelteilens
2014, 271-281). Dawsey (1991) hat sieben Charakteristika in der Methodik von Mesters herausgearbeitet, die auf diesem Dreieck basieren: Bibel wird in Gemeinschaft gelesen; sie wird mit Bezug auf die Gegenwart gelesen; die Gemeinschaft ist offen für Inspiration durch den Heiligen Geist; das Verstandene soll gelebt werden; die praktischen sozialen Implikationen der Bibel sollen assoziiert werden, um sie umsetzen zu können; dabei ist genauso wichtig, sich der eigenen Situation bewusst zu werden; und schließlich soll das Alltagswissen
bzw. die Lebenserfahrung der Gemeinschaft angezapft werden, um den Text in ihre Realität hinein zu übersetzen. Mesters ist Autor zahlreicher Bücher zur Bibel, die aber nur zum Teil aus dem Spanischen bzw. Portugiesischen in andere Sprachen übersetzt wurden.
Exemplarisch seien genannt Mesters (1989) und Mesters (1995), außerdem verfasste er Bücher über → Maria
267).
Die produktive Kooperation von Jon Sobrino und Ignacio Ellacuría bis zu dessen Ermordung 1989 umfasst einige der einflussreichsten Schriften zur Befreiungstheologie. In Ellacuría (2011) findet sich eine ausgewählte
Übersetzung aus seinen Escritos teológicos (seit 2000), bei denen u.a. auch biblische Zugänge thematisiert werden. Ein Kernsatz lautet: „Das fundamentale Objekt der christlichen Theologie ist das Reich Gottes, das durch Jesus verkündet und in der geschichtlichen Praxis angemessen interpretiert und geschichtlich verfolgt wird“ (Ellacuría 2011, 34). Als Beispiel führt er das Gleichnis vom barmherzigen Samariter an und legt es als Vorbild der Völker des Südens aus.
Hermeneutisch ist für ihn die Bedeutung biblischer und dogmatischer Aussagen im Blick auf die eigene Lebenspraxis wichtig; daher unterstützt er auch den Ansatz von Leonardo Boff, sich mit der → Leben-Jesu-Forschung
In seinen späten Texten rückt Ellacuría den Gottesknecht und das Weltgericht aus Mt 25
„Das Alte und Neue Testament bringen häufig und durchaus erzürnt den
Gedanken zum Ausdruck, dass Ungerechtigkeit weder als Handlung noch
als Situation geduldet werden darf: Ungerechtigkeit ist die große zugleich
säkulare und religiöse Sünde, die von der Erde getilgt werden muss. Sie
ist eine soziale und objektive Tatsache, die in sozialer und objektiver
Hinsicht aus der Geschichte verschwinden muss; als Schuld erfordert sie
den Tod des ungerechten Seins des Menschen, damit sein gerechtes Sein
wiederbelebt werden kann; sie ist die Negation Gottes als des wahrhaft
Gerechten. Die Ungerechtigkeit negiert das Zentrum des
Christlichen.“ (Ellacuría 2011, 148)
Diese Beispiele zeigen, wie stark politische und soziale Kontexte die biblische Auslegung der Befreiungstheologie prägen. Sie ist sehr konkret, zugleich steht sie immer wieder in der Kritik. Zu den häufigsten Anmerkungen bzw. Kritikpunkten gehören: die fehlende Objektivität der Auslegung, da sie parteiisch
ist und nicht „weltanschaulich neutral“; die starke Diesseits-Verhaftung des Reich-Gottes-Konzepts und damit einhergehende politisch-revolutionäre Implikationen; die mangelnde Berücksichtigung anderer exegetischer Literatur (teils zu Unrecht!); oder auch der Fokus auf die Rezeption des Textes, sodass diachrone Aspekte teils wegfallen.
Zu den großen Stärken gehören der unmittelbare Zugang auch für NichtTheolog:innen und Nicht-Bibelwissenschaftler:innen, die schnell erlernbaren praktischen Methoden, die klare kontextuelle Ausrichtung der eigenen Theorien und, bedingt durch rege Publikationstätigkeit, der globale Zugang zu einer nichteuropäisch generierten Theologie.
Literaturverzeichnis
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