Gattung
Stichwörter: Gattungskritik, Gattungsgeschichte
(erstellt: Mai 2024)
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1. Definitionen
In literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen ist eine Gattung eine Kategorie von einander ähnlichen, schriftlichen und / oder mündlichen Einzeltexten, deren Gemeinsamkeiten aus einem überindividuellen, „konventionelle[n] Textbildungsmuster“ (Hardmeier 1978, 287; vgl. → Bibelauslegung, historisch-kritische [AT]
Darüber hinaus fordern ältere Anleitungen zur Exegese des Alten Testaments, dass ähnliche Texte nur bei literarischer Unabhängigkeit voneinander zu Gattungen zusammengefasst werden können (vgl. Richter 1971, 131f.138f.; Steck 1999, 111-115; anders Focken 2019, 105f.; Rösel 2000, 187).
Die Ähnlichkeiten der Texte einer Gattung zeigen sich häufig in formalen, inhaltlichen, pragmatischen, soziokulturellen und anthropologischen Merkmalen, die diese Texte gemeinsam haben. Jedoch können auch Textgruppen mit weniger Arten von Gemeinsamkeiten als Gattungen bezeichnet werden (vgl. Focken 2019, 105-109; sowie Hardmeier 1978, 260-269.278-287.300f.).
Die Gemeinsamkeiten der Texte einer Gattung können mit Hilfe der Konstruktion einer schematischen „Idealgattung“ (Becker 2021, 122; vgl. Focken 2019, 107) beschrieben werden, in der diese Gemeinsamkeiten zusammengefasst werden.
Der Begriff „Textsorte“ kann synonym zum Begriff „Gattung“ verwendet werden (vgl. Hieke / Schöning 2017, 118; Heckl 2019, 2; Söding / Münch 2005, 74.77).
Formeln sind kurze Gattungen, zu denen sehr ähnliche Texte gehören (vgl. Hieke / Schöning 2017, 115), z.B. die Botenformel (→ Botensendung / Botenformel / Botenspruch
Zu einer Gattung können selbstständige Texte, die unabhängig von größeren Werken überliefert wurden, und / oder unselbstständige Texte gehören, die als Teile von größeren Werken überliefert wurden. Kürzere unselbstständige Texte einer Gattung können in längeren schriftlichen Werken an ähnlichen Positionen verortet sein und in diesen Werken typische Funktionen übernehmen. Solche für eine Gattung typische Positionen und Funktionen können mit der Formulierung „Sitz im Buch“ bezeichnet werden (vgl. Focken 2019, 109-111).
Die oben genannten pragmatischen, soziokulturellen und anthropologischen Merkmale werden traditionell mit der von Hermann Gunkel (s.u. Abschnitt 3.1) geprägten Formulierung „Sitz im Leben“ zusammengefasst. Sie bezeichnet die soziokulturellen Situationen und Institutionen, in denen die Texte einer Gattung typischerweise verwendet wurden, sowie die Wirkungen, die diese Texte typischerweise u.a. aufgrund ihrer pragmatischen Merkmale bei ihren Rezipierenden hervorrufen. Die pragmatischen Merkmale umfassen die in diesen Texten erkennbaren Einstellungen, Absichten und Aufforderungen ihrer Sprecher einschließlich deren Selbstverpflichtungen und performativen Reden (vgl. Utzschneider / Nitsche 2014, 77f.103-105).
Vielen alttestamentlichen Gattungen wird der „Sitz im Leben ‚Literatur‘“ (Utzschneider / Nitsche 2014, 122; vgl. Utzschneider / Nitsche 2014, 122-125.128-130.136) zugeordnet. Diese Formulierung weist auf die enge Verbindung dieser Gattungen bzw. eines Teils ihrer Einzeltexte mit Schriftgelehrten hin, die in vielen Fällen am Jerusalemer Tempel tätig waren.
Untersuchungen von Gattungen werden als „Gattungsforschung“ (u.a. Blum 2006, 85), „Gattungsanalyse“ (u.a. Finnern / Rüggemeier 2016, 90), „Gattungskritik“ (u.a. Heckl 2019, 2) oder „Gattungsgeschichte“ (u.a. Müller 1983, 274) bezeichnet. Die Begriffe „Gattungskritik“ und „Gattungsgeschichte“ können genauer voneinander unterschieden werden, indem der Begriff „Gattungskritik“ auf Zuordnungen von Einzeltexten zu Gattungen und der Begriff „Gattungsgeschichte“ auf Rekonstruktionen diachroner Entwicklungen von Gattungen eingegrenzt werden (vgl. Utzschneider / Nitsche 2014, 136; Berlejung 2019, 43f.).
Der mitunter in ähnlichen Zusammenhängen im Anschluss an Martin Dibelius verwendete Begriff „Formgeschichte“ (Dibelius 1959, I; s.u. Abschnitt 3.3) erscheint problematisch und wird daher von mehreren deutschsprachigen Forschern außerhalb forschungsgeschichtlicher Kontexte vermieden (vgl. u.a. Ebner / Heininger 2015, 183-240; Utzschneider / Nitsche 2014, 136; Söding 1998, 129; anders u.a. Becker 2021, 116; Schnelle 2014, 105; Steck 1999, 105).
Erhard Blum begründet die Ablehnung dieses Begriffes u.a. mit den folgenden Argumenten:
- 1.Von den verschiedenen Arten der Gemeinsamkeiten der Texte, die zu einer Gattung gehören würden, seien die formalen Gemeinsamkeiten in der Regel von nachrangiger Bedeutung für die Gattungsbestimmung. Dazu passe der Begriff „Formgeschichte“ nicht. Als Ausnahme von dieser Regel könnten akrostichische Psalmen (→ Akrostichon
) bezeichnet werden (vgl. Blum 2006, 85-87.89-93). - 2.Mit dem Begriff „Formgeschichte“ seien häufig unangemessene Engführungen des gattungskritischen Ansatzes auf Fragen der mündlichen Vorgeschichten biblischer Texte bezeichnet worden. Diese Engführungen haben zu Überbewertungen von Gattungen und formalen Merkmalen biblischer Texte bei Rekonstruktionen ihrer Vorgeschichten führen können (vgl. Blum 2006, 88f.).
- 3.Der Begriff „Formgeschichte“ bezeichne keinen „wirklich spezifischen methodischen Zugang innerhalb der Exegese“ (Blum 2006, 94) und erscheine daher als verzichtbar.
2. Biblischer Befund
Die Texte der Bibel sind durch zahlreiche Gattungen geprägt. Viele dieser Gattungen sind in der Übersicht → Gattungen / Textsorten (AT)
Darüber hinaus zeigen einige biblische Texte, dass ihre Verfasser bewusst Texte nach Gattungen kategorisierten und diese Gattungen u.a. mit den folgenden Begriffen und Formulierungen benannten:
- מִצְוָה mizwāh „Befehl / Auftrag / Gebot“ (Gen 26,5
u.ö.; → Recht [AT] ),
- מִזְמוֹר mizmôr „Lied / Psalm“ (Ps 3,1
u.ö.; → Psalmen [AT] ),
- שִׁיר הַמַּעֲלוֹת šîr hamma‘ǎlôt „Wallfahrtslied“ (Ps 120,1
u.ö.; → Psalmen [AT] ),
- διήγησις diēgēsis „Erzählung / Erörterung“ (Lk 1,1
) und
- ἐπιστολή epistolē „Brief“ (2Kor 10,9-12
u.ö.; → Brief / Briefformular [NT] ).
Viele biblische Gattungen haben Parallelen in benachbarten anderssprachigen Kulturen und wurden aus ihnen übernommen (→ Recht [AT]
Die Beobachtungen zeigen, dass viele biblische Verfasser über allgemein verbreitete „Gattungskompetenz[en]“ (Utzschneider / Nitsche 2014, 117; vgl. Gerhart 1988, 29) hinausgehend im Umgang mit Gattungen ausgebildet wurden. Dementsprechend betont David M. Carr, dass in der Schreiberausbildung des vorhellenistischen Israels „große Teile der biblischen Literatur“ (Carr 2015, 180) mit einer u.a. darin enthaltenen „breite[n] Vielfalt verschiedener Textgattungen“ (Carr 2015, 155; vgl. Carr 2015, 133-198) verwendet wurden.
3. Aspekte der Forschungsgeschichte
3.1. Hermann Gunkel
→ Hermann Gunkel
Gunkel ging davon aus, dass große Teile des Alten Testaments Sammlungen ursprünglich selbstständiger „kleine[r] Einheiten“ (Gunkel 1906, 1863) sind, die u.a. in formalen und inhaltlichen Aspekten stark durch Gattungen geprägt sind. Zu den älteren dieser Gattungen hätten zunächst nur kurze mündliche Texte mit einem für die jeweilige mündliche Gattung typischen „Sitz im Leben“ (Gunkel 1909, 1193; s.o. Abschnitt 1) gehört. Sie hätten einen reinen Stil gehabt.
Seit der Niederschrift, Zusammenstellung und Bearbeitung der ursprünglich mündlichen Texte hätten „die Gattungen zugleich mit ihrem Sitz im Leben vielfach auch die Reinheit des Stils verloren; es ist zu allerlei Umbiegungen und Mischungen gekommen“ (Gunkel 1909, 1193). Dabei seien die Texte der Gattungen länger geworden (vgl. Gunkel 1906, 1861-1865; Gunkel 1909, 1191-1193; Gunkel 1925, 54-56). Hierbei unterscheidet Gunkel wertend u.a. zwischen „großen Schriftstellerpersönlichkeiten“ (ca. 750 v. Chr.-540 v. Chr.) und „Epigonen“ (ab 586 v. Chr.; Gunkel 1909, 1193f.; Gunkel 1925, 78.95).
Gunkel brachte seine Ideen in die in Göttingen beheimatete, einflussreiche Religionsgeschichtliche Schule ein, der er als führender Alttestamentler angehörte. Wie Gunkel zielte sie u.a. auf eine Verortung der biblischen Texte in den gelebten Religionen der antiken Gesellschaften ab, die diese Texte hervorbrachten und überlieferten (vgl. Hartenstein 2004a; Hartenstein 2004b; → Religionsgeschichtliche Methode
Gunkel prägt die gattungskritische und gattungsgeschichtliche Methode bis in die Gegenwart hinein. Aus gegenwärtiger Perspektive erscheinen seine Thesen zur Entwicklung der Texte und Gattungen jedoch als zu idealtypisch und die damit verbundenen Wertungen als zu subjektiv. Da viele alttestamentliche Texte redaktionell als Fortschreibungen für ihre jeweiligen Kontexte in schriftlichen Werken verfasst und darauf abgestimmt wurden, erscheint die Gleichsetzung der israelitischen Gattungs- und Literaturgeschichte nicht mehr als sinnvoll. Stattdessen „mündet die Redaktionsgeschichte in eine Literaturgeschichte der Bibel“ (→ Redaktionskritik / Redaktionsgeschichte
3.2. Sigmund Mowinckel
Der Norweger → Sigmund Mowinckel
3.3. Martin Dibelius und Rudolf Bultmann
Weitere wichtige Schüler von Gunkel waren → Martin Dibelius
3.4. Klaus Berger
Klaus Berger (1940-2020) grenzte sich mit seiner „neue[n] Formgeschichte“ (Berger 1987, 13 u.ö.) u.a. in den folgenden Punkten von Dibelius und Bultmann ab:
- 1.Alle neutestamentlichen Texte seien formgeschichtlich zu untersuchen (vgl. Berger 1984, 11; Berger 2005, 70).
- 2.Die Formgeschichte sei stärker von Fragen zu mündlichen und schriftlichen Vorgeschichten von neutestamentlichen Texten zu trennen (vgl. Berger 1984, 11-16 u.ö.; Berger 2005, 2-7).
- 3.Stattdessen seien die schriftlichen Endtexte der formgeschichtlich zu analysierenden Textabschnitte einschließlich deren literarischer Kontexte intensiver in den Blick zu nehmen (vgl. Berger 1987, 18.170f).
- 4.Ältere Vorstellungen vom Sitz im Leben seien „auf alle typischen Kontaktsituationen zwischen Text und gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Berger 2005, 66) bis hin zur „(mündliche[n] oder schriftliche[n]) Wirkungsgeschichte eines Textes in neuen Situationen, für die er nicht gedacht war“ (Berger 2005, 65), auszuweiten.
Unterschiedliche kritische Reaktionen auf den zweiten Punkt zeigen, dass dieser noch weiterer Diskussionen bedarf (vgl. Schnelle 2014, 116; Söding 1998, 159f.).
4. Die gattungskritische und gattungsgeschichtliche Methode
Für die gattungskritische und gattungsgeschichtliche Methode haben sich zwei unterschiedliche Fokusse etabliert:
4.1. Der Fokus auf einen Textbereich
Bei dem Fokus auf einen abgegrenzten Textbereich sind die Gattungen zu beschreiben, die – soweit dies gegenwärtig erkennbar ist – diesen Text prägen. Dabei ist zu beachten, dass ein und derselbe Text von verschiedenen Gattungen geprägt sein kann. Im Fall der sukzessiven Entwicklung eines Textes ist dies prinzipiell für alle schriftlichen Entwicklungsstufen möglich. Zur Beschreibung einer Gattung gehört die Beschreibung ihrer Merkmale einschließlich ihres Sitzes im Leben und, soweit möglich, ihres Sitzes im Buch (s.o. Abschnitt 1). Die Konstruktion von Idealgattungen und die Beschreibung von Besonderheiten des auszulegenden Textes im Verhältnis zu diesen Idealgattungen ermöglicht häufig eine genauere Rekonstruktion seiner Aussageabsicht (vgl. Becker 2021, 122; Söding / Münch 2005, 81f.; Söding 1998, 169).
Die Anwendung der gattungskritischen und gattungsgeschichtlichen Methode auf mündliche Vorläufer schriftlicher Texte und Gattungen des Alten Testaments ist u.a. aufgrund der Schwierigkeiten bei den Rekonstruktionen dieser Vorläufer unsicher und führt in vielen Fällen nicht zu wesentlichen Erkenntnisfortschritten. Einige neutestamentliche schriftliche Texte und Gattungen bieten hingegen bessere Ausgangspunkte zur Erforschung ihrer mündlichen Vorläufer (vgl. Ebner / Heininger 2015, 217f.; Schnelle 2014, 107-109.116.136f.).
4.2. Der Fokus auf eine Gattung
Beim Fokus auf eine Gattung empfiehlt sich zunächst die Suche nach Texten dieser Gattung im antiken Israel und seinen Nachbarkulturen. Aufgrund der Merkmale dieser Texte kann die Idealgattung einschließlich ihres Sitzes im Leben und, soweit möglich, ihres Sitzes im Buch konstruiert werden.
In einigen Fällen, z.B. bei der Gattung Apokalypse (→ Apokalyptik [AT]
4.3. Anleitungen
Ausführlichere Anleitungen zur Gattungskritik und Gattungsgeschichte finden sich in Lehrbüchern zur Methode der Exegese des Alten Testaments (vgl. Becker 2021, 114-133; Hieke / Schöning 2017, 112-122; Utzschneider / Nitsche 2014, 116-236; Steck 1999, 98-125) und Neuen Testaments (vgl. Finnern / Rüggemeier 2016, 85-102; Ebner / Heininger 2015, 183-240; Schnelle 2014, 105-139; Söding / Münch 2005, 74-86; Söding 1998, 155-173).
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992 (Form Criticism)
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. u.a. 1993-2001 (Formgeschichte, Formkritik)
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Formen / Gattungen)
- Encyclopedia of the Bible and its Reception, Berlin / New York / Boston 2009ff. (Form Criticism)
- The Dictionary of the Bible and Ancient Media, London / New York 2017 (Form Criticism, Genre, Sitz im Leben)
2. Weitere Literatur
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- Berger, K., 1987, Einführung in die Formgeschichte (UTB.W 1444), Tübingen
- Berger, K., 2005, Formen und Gattungen im Neuen Testament (UTB 2532), Tübingen / Basel
- Berlejung, A., 2019, Quellen und Methoden, in: J.C. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments. In Zusammenarbeit mit A. Berlejung, K. Schmid und M. Witte (UTB 2745), 6. Aufl., Göttingen, 21-58
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- Mowinckel, S., 1961b, Psalmenstudien. Buch 3-4.5-6, Amsterdam (Nachdruck in 2 Bänden)
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- Utzschneider, H. / Nitsche, S.A., 2014, Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh, 4. Aufl.
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