Blutbräutigam
(erstellt: Juni 2014)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/15489/
→ Beschneidung
1. Das Problem
Der Ausdruck „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) ist im Alten Testament nur zwei Mal belegt, und zwar in der kurzen Erzählung Ex 4,24-26
Ex 4,24
Das Ende ist am einsichtigsten: Der Text endet mit einem ätiologischen Deutewort (→ Ätiologie
V. 24 leitet sehr unvermittelt in das Geschehen ein, da offen bleibt, wer das Opfer der Attacke ist. Die vorangehenden Verse Ex 4,21-23
Auch in V. 25 sind Bezüge unklar: Wessen Füße / Genitalien berührt → Zippora
2. Deutungstraditionen
2.1. Einführung
Der Text hat sehr verschiedene Deutungen erfahren: → H. Gunkel
2.2. Wellhausen: Moses Sohn wird stellvertretend für Mose beschnitten
Einflussreich war die Erklärung von Julius Wellhausen. Seine Untersuchung alt-bzw. früharabischer Einflüsse in der hebräischen Bibel führte zu der These, dass die verstreuten Nachrichten über die in der früharabischen Welt praktizierte Beschneidung „eine Art … Reifeprüfung, die der Jüngling bestehen mußte, bevor er heiraten durfte“ darstellten (Wellhausen 1897, 174f.). Dem Zusammenhang von der Institution der Beschneidung und dem Status des Bräutigams entspricht die arabische Wurzel ḫatana, die sowohl „Beschneidung“ als auch „Bräutigam“ umfasst (vgl. Mittelhebräisch; Gesenius 18. Aufl., 411). Dieser Befund lege es nahe, dass in der leicht korrigierten „jehovistischen Kultussage“ in Ex 4,24ff
Als „Mose auf seiner Rückkehr von Midian nach Gosen unterwegs übernachtete, überfiel ihn Jahve in der Absicht ihn zu töten; sein Weib Sipphora aber nahm einen Feuerstein und schnitt die Vorhaut ihres Sohnes ab und berührte damit die Scham Moses und sprach: du bist mir ein Blutbräutigam; da ließ Jahve von ihm ab. Sipphora beschneidet also ihren Sohn statt ihres Mannes, macht den letzteren dadurch symbolisch zum Blutbräutigam und löst ihn von dem Zorne Jahves, dem er verfallen ist, weil er eigentlich kein Blutbräutigam ist, d.h. weil er nicht die Beschneidung vor der Hochzeit an sich hat vollziehen lassen. Mit anderen Worten wird die Beschneidung der Knäblein hier geschichtlich erklärt als ein gemildertes Äquivalent für die ursprüngliche Beschneidung der Männer vor der Hochzeit. Damit vergleiche man die Art und Weise, wie der Priesterkodex in Gen. 17 die Beschneidung der männlichen Kinder am achten Tage nach der Geburt statutarisch verordnet und durch die Verordnung die Erzählung, die ihr zum Anlaß gedient hat, vollkommen in den Schatten stellt und verdirbt, nämlich die Erzählung von der Verheißung der Geburt Isaaks zum Lohn für die Gastfreundschaft, welche Abraham dem Jahve zu Hebron erwiesen hat. Es besteht aber nicht nur ein formeller Unterschied, sondern auch ein materieller Gegensatz zwischen der jehovistischen Kultussage und dem priesterlichen Kultgesetz. Die Kultussage wird durch das Kultgesetz purificirt, das heißt in allen ihren Grundzügen und Trieben negirt. […] Das Volksreligionsbuch, welches uns in der jehovistischen Genesis noch so ziemlich, wenngleich auch nicht ganz unkorrigirt, erhalten ist, erzählt, wie die Ahnen und Repräsentanten Israels die alte volkstümliche Praxis des Kultus, an den Hauptorten wo derselbe gefeiert wurde, begründet haben. (Wellhausen 1905, 338f.)“
2.3. Propp: Blutritus, um Mose von Schuld zu reinigen
Nach W.H.C. Propp (1993, 502ff.) muss die Interpretation mit דָּמִים dāmîm einsetzen, einer Abstraktpluralbildung, die „Blutschuld“ bezeichnet (vgl. den pejorativ konnotierten Begriff אִישׁ־דָּמִים „Blutmann“ in 2Sam 16,7-8
Propp rekonstruiert in diesem Text vier Interpretationsstadien (1993):
● Zuerst, in vor-israelitischer Zeit, war Beschneidung mit Heirat assoziiert, was die Titulierung als „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) erklärt (vgl. Gen 34
● In einem zweiten Schritt fand eine religiöse Anreicherung statt, indem die Beschneidung nicht nur eine Voraussetzung für Heirat, sondern auch für Kultfähigkeit wurde (vgl. Integration des Fremden im Passa-Kontext Ex 12,44
● Dann wurde der Ritus zu einem Kindheitsritus verändert, in dem das blutende Kind zu einem Symbol für die Passa-Nacht wurde und die gefährdete Erstgeburt der Israeliten durch das Passa-Lamm freigekauft wurde (Ex 13,1-2
● Die theologische Lesart ergab sich erst aus dem größeren Kontext der Mose-Biographie. Hier wurde die Erzählung zu einem Beispiel der Sühne dank gelungener Familiensolidarität.
Somit ist Ex 4,24-26
Das Problem dieser Interpretation bleibt auch hier, dass weder der Sohn noch Mose selbst als Zipporas Bräutigam bezeichnet werden können.
2.4. Fazit
Der ursprünglich aus einem gänzlich anderen Kontext stammende Passus enthält einen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Ritualtext, der erst durch die Einfügung in den vorliegenden Exoduskontext und das Deutewort eine religiöse Aussageabsicht erhält:
● Ein ursprünglich apotropäischer Ritus wird zu einer Ätiologie der Kinderbeschneidung transformiert (Albertz 2012, 96f.; → apotropäische Riten
● Es geht um die Integration der midianitischen Zippora in Israel durch einen Akt symbolischer Blutsverwandtschaft (Blum 1990, 47f.; Römer 1996, 73ff.; Schmidt 1988, 219).
● Möglicherweise war es ursprünglich nicht JHWH, der attackiert hat, sondern ein dämonisches oder göttliches Wesen (vgl. Gen 32,23-33
Die antiken Übersetzungen bzw. deuterokanonischen Traditionen
Die meisten antiken Übersetzungen bzw. deuterokanonischen Traditionen interpretieren den Angreifer als → Engel
Die Septuaginta verändert zudem den Gestus des Berührens der Füße bzw. Genitalien in einen Akt der Proskynese, indem sie mit „sie fiel zu Füßen [JHWHs]“ übersetzt. Außerdem verändert sie beide Sprüche zum „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm; V. 25f.) in „Still steht das Beschneidungsblut meines Sohnes!“, was an eine Beschwörungsformel erinnert. Die Septuaginta gibt somit einen stringenter komponierten Handlungsverlauf wieder: An die Stelle Gottes tritt ein Bote, die Frau schreitet ein und beschneidet den Sohn, fällt vor dem Boten nieder, äußert einen Ritualspruch, der entweder den Vollzug der Handlung bestätigt oder aber der Blutstillung dient. Der Ritualspruch, der keines weiteren Deutewortes bedarf, liefert die Begründung, warum es gelang, die Gefahr abzuwehren. Die rätselhafte ätiologische Notiz zum „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) wird in eine Erfüllungsnotiz transformiert (im Vaticanus ist die ätiologische Notiz von V. 26 ausgelassen). (Wyatt 2009, 412f.).
Targum Onkelos übersetzt übersetzt den hebräischen Spruch in V. 25 und seine Reprise in V. 26 unterschiedlich: den ersten im Sinne von „Möge uns mein Bräutigam durch das Blut dieser Beschneidung geschenkt sein“ und den zweiten mit „Wäre nicht das Blut dieser Beschneidung gewesen, hätte mein Bräutigam den Tod verdient“ (vgl. Blaschke 1998, 302). Targum Pseudo-Jonathan verändert in „Der Bräutigam (ḥātān) wollte beschneiden, aber sein Schwiegervater (ḥoten) erlaubte es ihm nicht. Möge das Blut dieser Beschneidung für die Schuld dieses Bräutigams sühnen“ (vgl. auch Fragmenten-Targum) und verlagert so die Verantwortung für die Krise auf Zipporas Vater (Blaschke 1998, 300; vgl. Wyatt 2009, 412ff.; Propp 1999, 189).
3. Der Ritualkontext
Das dreiteilige → Ritual
Der letzte, ätiologisch anmutende Vers enthält das Deutewort (V. 26), das den rätselhaften Ritus und die Wendung an die Beschneidung rückbindet.
Dem Ritus geht sonst eine explizite Aufforderung zur Beschneidung voraus (vgl. Gen 17,11-13
Der Umstand, dass eine Frau eine Beschneidung als spontane Reaktion in einer unvorhergesehenen dramatischen Situation vollzieht, widerspricht dem, was wir sonst aus Bibel und Rabbinica über die Beschneidung wissen (Blaschke 1998, 19-30.169-172; vgl. aber 1Makk 1,60
Trotz des früh erkennbaren Unverständnisses des ursprünglichen Blutrituals und seiner Bezeichnung mit „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) hat sich der ätiologische Ansatz wirkungsgeschichtlich durchgesetzt. So zog insbesondere die rabbinische Auslegung aus dieser Notiz das Fazit, dass die Beschneidung ein zentrales Merkmal jüdischer Identität ist: „R. Jehosua B. Qorcha sagte: Bedeutend ist die Beschneidung, daß sogar alle Verdienste unseres Meisters Moshe ihm nicht beistanden, als er die Beschneidung vernachlässigte, wobei es heißt: da fiel ihn der Herr an und wollte ihn töten.“ (Nedarim 32a; Goldschmidt 1996, 429; Jacob 1997, 100f.; vgl. Blaschke 1998, 269-273 zu Mischna Nedarim 3,11). Das rabbinische Diktum ist gefolgt von einer Reihe von Begründungen, warum Mose auf der Reise den Sohn nicht beschnitten habe und sich bzw. seinen Sohn überhaupt gefährdet habe. Einigkeit zeigen die Rabbinen in ihrer durchaus kontroversen Diskussion über die Stelle schließlich bezüglich des Imperativs der Beschneidung, den sie aus der rätselhaften Begebenheit ableiten (vgl. Jacob 1997, 100f.).
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
2. Weitere Literatur
- Albertz. R., 2012, Exodus 1-18 (ZBKAT 2.1), Zürich
- Attridge, H.W. / Oden, R.A., 1981, The Phoenician history / Philo of Byblos. Introduction, Critical Text, Translation, Notes (The Catholic Biblical Quarterly; Monograph Series 9) Washington, DC
- Bauks, M., 2015 Beschneidung – ein Substitut des Erstlingsopfers? – Religionsgeschichtliche Überlegungen zu einer ätiologischen Notiz in Ex 4,(24-)26, in: dies. / M. Jung / A. Ackermann (Hgg.), Dem Körper eingeschrieben. Verkörperung und Ritual (Interdisziplinäre Philosophie. Einzelschriften), Heidelberg (in Vorbereitung)
- Blaschke, A., 1998, Beschneidung. Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte (TANZ 28), Tübingen
- Blum, E. und R., 1990, Zippora und ihr חתן־דמים, in: E. Blum / C. Macholz / E.W. Stegemann (Hgg.), Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), Neukirchen-Vluyn, 41-54
- Goldschmidt, L., 1996, Der babylonische Talmud, Bd. 5: Ketuboth, Nedarim, Nazir, Frankfurt
- Gunkel, H., 1903, Über die Beschneidung im Alten Testament, APF 2, 13-21
- Hüllstrung, W., 2003, Wer versuchte wen zu töten? Ein Beitrag zum Verständnis von Exodus 4,24-26, in: A. Lange / H. Lichtenberger / K.F.D. Römheld (Hgg.), Die Dämonen – Demons. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen, 182-196
- Jacob, A.S., 2008, Blood will out. Jesus’ Circumcision and Christian Readings of Exod 4:24-24, Henoch 30, 311-323
- Jacob, B., 1997, Das Buch Exodus, Stuttgart
- Knauf, E.A., 1987, Supplementa Ismaelitica, BN 40, 16-23
- Knauf, E.A., 1988, Midian. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. (ADPV 10), Wiesbaden
- Morgenstern, J., 1963, The ‚Bloody Bridegroom’ (?) (Exod. 4:24-26) once again, HUCA 34, 35-70
- Noth, M., 1958, Das 2. Buch Mose. Exodus (ATD 5), Göttingen (5. Auflage 1973)
- Propp, W.H.C., 1987, The Origins of Infant Circumcision in Israel, HAR 11, 355-370
- Propp, W.H.C., 1993, That Bloody Bridegroom (Exodus IV,24-6), VT 43, 495-518
- Propp, W.H.C., 1999, Exodus 1-18 (AB), New York
- Römer, T., 1994, De l’archaïque au subversif: le cas d'Exode 4/24-26, ETR 69, 1-12
- Römer, T., 1996, Dieu obscur. Le sexe, la cruauté et la violence dans l’Ancien Testament (Essais bibliques 27), Genève
- Schmidt, W.H., 1988, Exodus 1,1-6,30 (BKAT II/1), Neukirchen-Vluyn 2. Auflage 2011
- Wellhausen, J., 1897, Reste arabischen Heidentums. Skizzen und Vorarbeiten H. III, Berlin 2. Auflage
- Wellhausen, J. 1905, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 6. Auflage (Nachdr. 2001)
- Wyatt, N., 2009, Circumcision and Circumstance. Male Genital Mutilation in Ancient Israel and Ugarit, JSOT 33, 405-431
Abbildungsverzeichnis
- Mose mit seiner Frau Zippora und seinen Kindern auf dem Weg von Midian nach Ägypten – allerdings spricht Ex 4,20 nur von einem, Ex 18,3f nur von zwei Söhnen des Mose (Wenzelsbibel; 14. Jh.).
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)