Deutsche Bibelgesellschaft

Markus 4,26-29 | Sexagesimä | 04.02.2024

Einführung in das Markusevangelium

Das Markusevangelium (MkEv) wird – mit und seit Aufkommen der sog. Markuspriorität in der Evangelienforschung im ersten Drittel des 19. Jhs. – für die Grundform der Evangelienerzählung, also deren Prototyp gehalten. Ob Matthäus und Lukas die uns vorliegende kanonische Fassung des MkEv, eine Vorform oder eine spätere Form, also einen sog. Proto- oder Deuteromarkus, kannten, ist im Rahmen der Erforschung der Zwei-Quellen-Theorie weiterhin umstritten. Unabhängig von Fragen der Quellenforschung schärft der Blick auf die Seitenreferenten Matthäus und Lukas das Augenmerk für die Erzählinteressen des Markus: Der früheste Evangelist macht die „Anfänge des Evangeliums“ beim Wirken des Täufers fest (Mk 1,4-11) und konzentriert sich ganz auf die Verkündigung Jesu (Mk 1,14ff.).

1. Verfasser

Im Unterschied zum „Erfinder“ der frühchristlichen Briefform, Paulus, bleibt der Verfasser des ältesten Evangeliums anonym und im Dunkeln – er ist uns weder namentlich noch biographisch näher bekannt. Vier Spuren führen zu seinem Autorenprofil und so zu seiner möglichen Identität.

  1. 1.Der Autor im Spiegel altkirchlicher Traditionen und Zeugnisse: Die frühesten Papyrushandschriften, die Teile des MkEv bezeugen (P 137 [2./3. Jh.] und P 45 [3. Jh.] (vgl. ECM I,2,2), enthalten keine Autorkennzeichnung. Erst in den ältesten Vollbibelhandschriften (Sinaiticus, Vaticanus) aus dem 4. Jh. (s.: https://ntvmr.uni-muenster.de/ecm ) wird das MkEv mit ΚΑΤΑ ΜΑΡΚΟΝ überschrieben – damit ist zwar kein Autorenname gesetzt, aber eine Zuschreibung zu einem gewissen „Markus“ vorgenommen. Nach Papias von Hierapolis (erstes Drittel des 2. Jhs.) war „Markus“ der Dolmetscher des Petrus in Rom (s. auch 1 Petr 5,13). Diese Zuordnung rückt den Verfasser in eine Nähe zu Petrus (s. Mk 8,27-33; 9,2-10; 1,29-31) und verortet sein Werk in Rom.
  2. 2.Der Autor und seine Werkkonzeption: Markus entwickelt die Evangelienform als Erzählung über die „Anfänge des Evangeliums“ (Mk 1,1) und stellt das öffentliche Wirken Jesu unter diese Überschrift. Er knüpft damit an den zentralen paulinischen Begriff des „Evangeliums“ an (z.B. 1 Kor 15,1; Röm 1,1.15).
  3. 3.Der Autor und sein Schreibstil: Markus schreibt Koine-Griechisch und neigt zu einem parataktischen Stil, der in der früheren Forschung als volkstümlich galt. Typische Stilmerkmale sind ein kaum variierender Wortschatz und ein lebhafter Wechsel der Zeitformen mit einer Vorliebe für erzählende Präsensformen (Alkier/Paulsen 2021). Markus zeigt aber durchaus Kenntnis der Progymnasmata (Mortensen 2023), also der literarischen Einübung in rhetorische Grundformen.
  4. 4.Der Autor und seine religionsgeschichtliche Prägung: Markus ist mit Orten und Landschaften in Galiläa, besonders Kapernaum, vertraut und weitet den Blick auf Syrophönizien (Mk 7,24ff.) und „alle Welt“ (Mk 14,9). Beim Jerusalem-Aufenthalt Jesu fokussiert Markus auf dessen (kritische) Haltung zum Tempel (Mk 11-15). Bei der Diskussion über „rein und unrein“ setzt Markus trennende Speisevorschriften außer Kraft (Mk 7,19). Markus hält an der Erwartung einer baldigen Wiederkunft Jesu (im Anschluss an die Tempelzerstörung) fest (Mk 13,24-27).

Aus der Spurensuche, die einer Indizienkette gleicht, ergibt sich das Bild eines nicht-ungebildeten Autors, der breite Kenntnis frühchristlicher Traditionen und eine Vorliebe für Galiläa hat, aber zugleich eine universale Perspektive für die Verkündigung Jesu und die Ausbreitung des Evangeliums entwickelt. Er denkt und schreibt im Schatten der Ereignisse des Jahres 70 (Tempelzerstörung).

2. Adressaten

Die Evangelien bieten – mit Ausnahme von Lk 1,3 (s. auch Apg 1,1) – keine deutlichen Hinweise auf ihre Adressaten(gruppen). Markus hat offenbar ein Adressatenkollektiv (Mk 13,5bff.) im Blick, das lesen kann (Mk 13,14), aber Erklärungen zur aramäischen/hebräischen Begriffen (z.B. Mk 7,11), Bräuchen (Mk 7,3) und Ortsangaben (Mk 15,22) benötigt. Anders als für Paulus oder Matthäus stehen für Markus der νόμος und dessen Auslegung nicht im Zentrum von Theologie oder Ethik. Wichtig dagegen ist das Thema der Nachfolge (schon Mk 1,16-20), das Markus als Kreuzesnachfolge (Mk 8,34-9,1) im Horizont einer universalen Evangeliumsverkündigung (Mk 13,9-13; 14,9) versteht. Markus scheint primär mit einem Lesepublikum zu rechnen, das seine Wurzeln in der hellenistischen, vielleicht sogar hellenistisch-römischen Welt (Mk 15,39), d.h. jedenfalls außerhalb Palästinas hat, also eher „heidenchristlich“ geprägt ist.

3. Entstehungsort

Markus zeigt eine gute (z. B. Mk 1,21), aber nicht fehlerfreie (z. B. Mk 5,1) Kenntnis der Orte und Landschaften Galiläas. Dies könnte auf eine Komposition seiner Evangelienschrift im benachbarten syrischen Raum hinweisen, vielleicht sogar auf Pella, wohin die Jerusalemer Gemeinde nach 70 floh (Eusebius h e 3,5). Die Rom-Hypothese kann sich u.a. auf die patristische Tradition über Petrus und Markus stützen (s.o.), lässt aber offen, warum Markus z.B. bei römischen numismatischen Daten (Mk 12,42) ungenau ist (G. Theißen).

4. Wichtige Themen

In der synoptischen Forschung der letzten Jahre wurden besonders

  1. 1. Gattungsfragen (Mythos, aitiologische Erzählung, Biographie, personenzentrierte Historiographie: s. ZNT [2021]) diskutiert. In diesem Zusammenhang wurden der sprachliche und literarische Gestaltungswille des Markus herausgestellt sowie
  2. 2.Fragen zu seiner Erzähltechnik („episodischer Erzählstil“: G. Guttenberger; C. Breytenbach) erörtert.
  3. 3.Bei der theologischen Erschließung der frühesten Evangelienschrift stehen die Themen Nachfolge bzw. Jüngerschaft, Eschatologie und christologische Identitätsdiskurse im Vordergrund.
  4. 4.Umstritten bleibt die Frage, ob Markus ein „‚Antievangelium‘ zum Aufstieg der Flavier“ konzipierte (z.B. G. Theißen, S. 69; ZNT) oder einen von der Weltpolitik weitgehend unabhängigen Entwurf einer Zeitgeschichtsschreibung bietet (E.-M. Becker).

5. Besonderheiten

Markus erzählt eilig (Καὶ εὐθὺς: Mk 1,10.12 etc.). Er schafft eine Ereignisgeschichte (ἐγένετο: Mk 1,4 etc.), die nur wenige Wochen an erzählter Zeit umfasst (Mk 2,23; 14,1) und immer wieder Züge eines proklamatorischen Textes trägt, also nicht nur über die Verkündigung Jesu berichtet, sondern selbst auch verkündigt (Mk 1,1.14f.; 4,3ff.; 13,5bff.). Die Erzählung reicht vom erfolgreichen Wirken Jesu in Galiläa in Worten und Taten (bes. Exorzismen und Wundergeschichten) bis zu dessen augenscheinlichem Scheitern als Gekreuzigtem in Jerusalem. Obwohl Markus die Ostererscheinungen im Modus einer Ankündigung belässt – Jesus wird erst noch Petrus und den anderen Jüngern in Galiläa erscheinen (Mk 16,7) –, ist seine Evangelienerzählung von Anfang an eine Jesus-Christus-Geschichte (Mk 1,1; 8,29). Die Jesus-Christus-Erzählung wird in einer andauernden Spannung von Offenbarmachung und Verborgenheit Jesu (z.B. Mk 4,10-12), Verstehen und Missverstehen, Nachfolge und Verrat vorangetrieben, in die alle Erzählfiguren einbezogen sind (Jünger, Kranke, Dämonen, König Herodes, Kenturio etc.). Fand die ältere Forschung im MkEv eine „Messiasgeheimnistheorie“ (W. Wrede), führt die gegenwärtige Exegese die Spannung, in der die Identität Jesu enthüllt oder verhüllt wird, auf unterschiedliche christologische Vorstellungen und Titel zurück, die Markus der Tradition entnimmt und miteinander verknüpft. So liegt im christologischen Diskurs („Wer ist dieser?“ z.B. Mk 4,41) das Gravitationszentrum markinischer Theologie.

Literatur

  • Alkier, S./Paulsen, T. (2021), Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu übersetzt. Frankfurter Neues Testament Bd. 2. Paderborn: Brill/Schöningh. (Zur Sprache und zum Stil des MkEv).
  • Becker, E.-M. (2017), Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium. WUNT 380. Tübingen: Mohr Siebeck. (Zu Fragen von Gattung und Geschichtskonstruktion).
  • Guttenberger, G. (2017), Das Evangelium nach Markus. ZBK.NT 2. Zürich: Theologischer Verlag. (Neuerer Kommentar)
  • Mortensen, J.P.B., ed. (2023), Genres of Mark. Reading Mark’s Gospel from Micro and Macro Perspectives. SANt 9. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (Beiträge zu Markus im Rahmen der antiken Progymnasmata).
  • Strutwolf, H. et al. 2021. Editio Critica Maior (ECM) I. The Synoptic Gospels. 2 The Gospel According to Mark. Vol. 1–3. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. (Große Ausgabe zur Texterforschung).
  • Theißen, G. (2002), Das Neue Testament. München: C.H. Beck. (Knappe Einführung in die Entstehung der Evangelien).
  • Themenheft Markusevangelium, in: ZNT 24, Heft 47 (2021). (Fragen zur gegenwärtigen Markusforschung).

A) Exegese kompakt: Markus 4,26-29

26Καὶ ἔλεγεν· οὕτως ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ὡς ἄνθρωπος βάλῃ τὸν σπόρον ἐπὶ τῆς γῆς 27καὶ καθεύδῃ καὶ ἐγείρηται νύκτα καὶ ἡμέραν, καὶ ὁ σπόρος βλαστᾷ καὶ μηκύνηται ὡς οὐκ οἶδεν αὐτός. 28αὐτομάτη ἡ γῆ καρποφορεῖ, πρῶτον χόρτον εἶτα στάχυν εἶτα πλήρη[ς] σῖτον ἐν τῷ στάχυϊ. 29ὅταν δὲ παραδοῖ ὁ καρπός, εὐθὺς ἀποστέλλει τὸ δρέπανον, ὅτι παρέστηκεν ὁ θερισμός.

Markus 4:26-29NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

26 Und er sprach: „So ist die Königsherrschaft Gottes: wie, wenn ein Mensch Samen auf die Erde wirft, 27 und er schläft und steht auf Nacht und Tag, und der Same geht auf und wächst – wie, weiß er selbst nicht. 28 Ganz von selbst bringt die Erde Frucht: zuerst einen Getreidehalm, dann eine Ähre, dann volles Getreide in der Ähre. 29 Wenn es aber die Frucht zulässt, sendet er sogleich die Sichel, weil die Erntezeit da ist.“

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.26 ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ: die „Königsherrschaft Gottes“ ist das Grundkonzept der Verkündigung Jesu (s. Mk 1,14f.). Mit οὕτως ἐστὶν… wird eine vergleichende Gleichsetzung angezeigt.

V.26 ὡς steht hier mit einem (prospektiven) Konjunktiv, der bis Ende V.27 reicht: „wie, wenn…“.

V.28 αὐτομάτη ist ein adverbial gebrauchtes Adjektiv; αὐτόματος begegnet im NT sonst nur noch einmal in Apg 12,10.

V.29 bei παραδοῖ handelt es um eine Nebenform zum eher klassischen Aorist Konjunktiv παραδῷ, der in Abhängigkeit von ὅταν gefordert ist.

V.29 εὐθύς: Vorzugsadverb des Markus, das die Beschleunigung der von Markus erzählten Ereignisgeschichte seit Mk 1,10 anzeigt.

V.29 zu beachten ist der doppelte Subjektwechsel von ὁ καρπός („die Frucht“) zum impliziten Subjekt ἄνθρωπος („Mensch“) von V.26 in ἀποστέλλει („sendet er“) und zu ὁ θερισμός („die Ernte“).

2. Literarische Gestalt und Kontext

In Mk 4,26-29 spricht Jesus in einem leicht verständlichen, in eine allgemeine Bildsprache gefassten Gleichnis über die „Königsherrschaft Gottes“ – das Thema seines Auftretens und Wirkens (seit 1,14f.) schlechthin. Markus platziert den ἐν παραβολαῖς („in Gleichnissen“) sprechenden Jesus am Galiläischen Meer (4,1), genauer: in einem Boot, in das Jesus steigen muss, weil der Andrang der Volksmenge so groß ist (4,1). In seiner Gleichnisrede verwendet Jesus überwiegend bäuerliche Motivik („Sämann“, „Same“, „Ähre“ etc.), die den Hörerinnen und Hörern in Galiläa – der Kornkammer Israels – bestens vertraut ist. Nach Markus haben die „Gleichnisse“ die Funktion zu „lehren“ (διδάσκειν etc. begegnet dreimal in Mk 4,1-2). Jesu Lehre über die βασιλεία τοῦ θεοῦ („Königsherrschaft Gottes“, s. 4,11.26.30) richtet sich zunächst an das Volk (4,1-9). Nach Mk 4,10-12 legt Jesus den eigentlichen Sinn der Gleichnisrede jedoch allein seinem Zwölferkreis aus, den er kurz zuvor eingesetzt hatte (3,13-19). Offen bleibt, ob die folgenden Gleichnisse (4,13-32) – und damit auch 4,26-29 – wiederum dem Volk (4,1f.) oder in Weiterführung von 4,10-12 weiterhin nur dem engsten Jüngerkreis gelten. Der redaktionelle Abschluss der Gleichnisrede in 4,33f. lässt beide Deutungen zu. Die Allgemeinverständlichkeit der Gleichniserzählung spricht dafür, das Volk von 4,1f. als Adressatengruppe anzusehen.

3. Historische Einordnung

Mk 4,26-29 gehört zu einer Reihe von Gleichnissen über die Königsherrschaft Gottes, die Jesus im MkEv in Kap. 4,1-32/34 zusammenhängend und mit nur wenigen redeeinleitenden Unterbrechungen (4,10.13.21.26.30) erzählt. Kap. 3 hatte mit einem Jesus-Wort über die eigentliche Familie Jesu geendet (3,35), 4,35 berichtet dann vom ersten Naturwunder Jesu (Sturmstillung), das sich direkt im Anschluss an die Gleichnisrede auf dem Galiläischen Meer ereignet. In den deutschen Bibelübersetzungen wird der Textabschnitt in 4,26-29, den die Seitenreferenten Matthäus und Lukas nicht kennen und der zum sog. markinischen Sondergut gehört, zuweilen „Gleichnis von der selbstwachsenden Saat“ genannt. Zwei Begriffe stehen im Vordergrund der insgesamt äußerst kurz und sparsam gehaltenen Gleichniserzählung: die βασιλεία τοῦ θεοῦ („Königsherrschaft Gottes“) (V.26) und das αὐτομάτη („ganz von selbst“). Im vorliegenden Gleichnis richtet Jesus seine Aufmerksamkeit auf den für den Menschen unsichtbaren Wachstumsprozess der Königsherrschaft Gottes, den er bildhaft mit dem „automatischen“ Wachsen des auf die Erde geworfenen Samens (V.26) vergleicht. Dem Gleichnis geht es dabei weder um die Identifikation des „Menschen“ (V.26), der den Samen wirft, noch um die Deutung der Frucht (V.29) oder um die generelle Erklärung, was die „Königsherrschaft Gottes“ sei. Diese ist vielmehr als Thema gesetzt und vorausgesetzt.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Jesus von Nazareth sagt in Wort und Tat die Königsherrschaft Gottes an. Zu seiner Lehre (Mk 4,1f.) gehören Gleichnisse, in denen sich „Jesus, der Dichter“ (G. Theißen) zumeist an das Volk, aber auch an den engsten Jüngerkreis wendet. Markus zeigt, dass und wie Jesus die βασιλεία τοῦ θεοῦ in Teilen unerklärlich, ja geheimnisvoll ansagt, deutet (4,10-12) und selbst realisiert. Denn mit der Königsherrschaft Gottes ist ein vielfaches Geheimnis (μυστήριον: 4,11) verbunden, das der Evangelist selbst in Mk 1-16 nachzeichnet: Jesus lehrt und handelt in Vollmacht (z.B. 1,27), bezwingt den Satan (1,12f.) und besiegt Dämonen, Krankheiten und Naturgewalten und muss doch leiden und getötet werden (8,31); die Jünger beginnen allmählich zu verstehen, wer Jesus ist – der Christus – und müssen doch darüber schweigen (8,29f.); die Erfahrung des leeren Grabes und die Botschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten verbreitet keine Freude, sondern Furcht, Schrecken und Schweigen bei denen, die Jesus nahestehen (16,1-8). Zu diesen Geheimnissen um die βασιλεία τοῦ θεοῦ gehört, wie das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat illustriert, auch deren Wachstumsprozess selbst: nicht ohne menschliches Säen zwar, aber ohne weitere menschliche Beeinflussung und Beschleunigung wächst das Getreide. In der Saat selbst – der Verkündigung der Gottesnähe – liegt das Potential von Frucht, die alsbald „von selbst“ wächst und reift. Und allein die Reife der Frucht bestimmt schließlich die Erntezeit. Anders als in bildhaften Redeabschnitten der Bergpredigt (Mt 6,25-34) legt Jesus in Mk 4,26-29 das Augenmerk nicht auf die menschliche Sorge für das Leben im Horizont des Gottesreiches, sondern auf dessen geheimnisvoll verborgenes Wachsen und Wirken, das die verbleibende Zeit – bis zur Ernte – bestimmt.

5. Theologische Perspektivierung

Das Gleichnis erzählt in allgemeinverständlicher Bildersprache von der Königsherrschaft Gottes und einem ihrer ihr innewohnenden Geheimnisse: dem für den Menschen uneinsichtigen Wachstumsprozess der ausgestreuten Saat bis zum Tag der Ernte. Der Mensch sät die Ansage der Gottesnähe, das Getreide wächst indes von selbst. In Mk 13 – unmittelbar vor dem Tötungsbeschluss und dem Beginn der Passionsereignisse (Mk 14,1ff.) – wird Jesus in einer Endzeitrede allein vor seinem engsten Jüngerkreis (13,3) exklusives Wissen darüber darlegen, was noch alles bis zur Wiederkunft Christi geschehen muss. Die Zeiten und Abläufe sind von Gott bestimmt. In Mk 4,26-29 dagegen wendet sich Jesus an alle, die von der Vollmacht seines gegenwärtigen Wirkens begeistert sind:

  • Der Mensch (4,26) – und hier ist letztlich jeder und jede gemeint, der und die in der Nachfolge Jesu steht – sät, wartet und wacht bis zur Erntezeit.
  • Der Same ist die verkündigende Ansage der Gottesnähe (Mk 1,14f.).
  • Die Frucht wächst schließlich im Verborgenen und ganz von selbst heran.

Gott setzt die Zeiten – sie sind weder dem Menschen, den Engeln im Himmel, ja noch nicht einmal dem Sohn bekannt (13,32): „Nicht wisst ihr nämlich, wann der Zeitpunkt da ist“ (13,33). Die Zeit bis zur Ernte oder bis zum Wiederkommen des Menschensohns (13,24-27) ist eine Zeit des Wartens und automatischen Wachsens, die – in den alltäglichen Lebenslauf des Menschen gefasst (4,27) – beständig eine Zeit des aufmerksamen Wachens bleibt (13,34). Denn – aber an dieser Stelle endet das Gleichnis! – die Erntezeit als frohe Zeit des Einholens der Frucht könnte auch verpasst werden. So ist nach markinischem Verständnis das wachende Beobachten und Warten, das Jesus einfordert, eine aktive Lebenshaltung derer, die im Horizont der „Königsherrschaft Gottes“ Jesus Christus nachfolgen.

Literatur

  • G. Theißen/A. Merz, Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht. Ein Lehrbuch (UTB 6108; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023), § 12.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Königsherrschaft in Verben: Behutsam, ja, zurückhaltend behandelt die Exegese die Frage: Was geht eigentlich vor, wenn Jesus spricht? Markus kündigt eine παραβολή an, eine Parabel (Mk 4,1). Einen Vergleich oder ein Gleichnis also, so wird das im Deutschen gewohnheitsmäßig übersetzt. „Gleichnisrede“, „vergleichende Gleichsetzung“ oder „Gleichniserzählung“ präzisiert die Exegese. Und widersteht über weite Strecken der Versuchung, eindeutige Zuordnungen zwischen vermeintlichen Bild- und Bedeutungsebenen zu suchen, im Sinne von „der Mensch ist a“, „die Frucht steht für b“, „der Text sagt c“. Ob diese gut begründete exegetische Vorsicht eine eigenständige Antwort auf die Ausgangsfrage („Was geht da vor?“) liefert? Ja, meine ich – und werde im Kommentar zur Übersetzung fündig: Da taucht das vergleichende ὡς [wie wenn] mit dem prospektiven Konjunktiv auf, da geht es um das adverbial gebrauchte Adjektiv αὐτομάτη, da finden überhaupt Verben und Adverbien große Aufmerksamkeit. Mindestens diese παραβολή, dieses Gleichnis Mk 4,26-29 lebt erst in zweiter Linie von Dingen und ihrer Konstellation. Und vor allem davon, was geschieht und wie sich das vollzieht. Einer sät, schläft, erntet etc. Ein wichtiger Merkposten fürs Predigen, vielleicht auch für die Predigtform: Jesu Lehre liefert keine Feststellungen. Sie sagt die Königsherrschaft als Geschehen an.

Einfach geheimnisvoll: Die Exegese betont, wie leicht und allgemein verständlich die Verse klingen. Das bäuerliche Inventar und Geschehen haben alle sofort vor Augen. Intendierte Leserinnen und Leser sowieso. Und nicht nur die: Das Bewusstsein fürs Elementare hat sich bis in unsere arbeitsteilige Hochproduktionsgesellschaft hinein erhalten. Als Faszination mit dem Säen, Wachsen, Ernten. Das Gleichnis präsentiert diese Prozesse samt einprägsamen Details in Großaufnahme. Dennoch, nein: gerade deshalb stellt sich der Effekt ein, den die Exegese mit dem Begriff „Geheimnis“ belegt: Ein mehrdeutiger, assoziativer Texteindruck, der sich nicht (wie ein Rätsel) auflöst, sondern in das Mysterium der Königsherrschaft Gottes verwickelt. Die Pointe, der Effekt von Einfachheit und Geheimnis: Den Hörerinnen und Hörern geht’s wie dem Sämann. Wie geschieht, was geschieht, „das weiß er selbst nicht“ (V.27).

Eindeutig mehrdeutig: Warum wählt Jesus das bäuerliche Alltagsgeschäft, um unverstandenes, unkontrolliertes Fruchtbringen ins Spiel zu bringen? Klar: Jesus rechnet nicht mit unserer modernen naturwissenschaftlichen Entschlüsselung, biotechnischen Vernutzung und agrarökonomischen Codierung der Landwirtschaft. Andererseits: Jesu Zeitgenossen wussten doch mindestens um den strategischen Umgang mit Saat und Ernte, um Zeiten und Böden, erst recht um Arbeit und Mühsal, die damit einhergehen. Das ist das lebensnotwendige Know-How, das unersetzbare Einmaleins der Subsistenzwirtschaft! Wenn es Jesus „nur“ ums wachsame Staunen, um die gespannte Erwartung göttlich entzogener Wundererscheinungen ginge – das wäre doch von der Rizinus-Staude bis zum Gestirnten Himmel in viel romantischeren, in viel überzeugenderen Zusammenhängen zu finden. Also frage ich an die Exegese zurück: Liegt der Akzent ‚nur‘ darauf, zu wachen und auf Erntezeit zu warten? Oder – viel weniger klar sortiert – darauf, dass Menschen von Saat bis Ernte auf ihre Teilhabe am schweiß- wie fruchttreibenden, aktiven wie passiven Ineinander von Gott und Welt setzen sollen? Lässt sich die ziemlich anspruchsvolle exegetische Deutung des Samens als „verkündigende Ansage der Gottesnähe“ so verstehen: als Indiz für schillernde Kooperationsrollen?

2. Thematische Fokussierung

Tun, wovon man spricht: Der übersichtliche, einfache Gleichnistext verwickelt in mehrdeutige Geheimnis-Gedanken: Die Königsherrschaft Gottes entpuppt sich in soteriologischer Hinsicht als Geschehen (als Sache der Verben). Und mit Blick auf individuelle Teilhabe als eine Weise, zu verstehen (als Sache der Interpretation). Anders und allgemeiner gesagt: Der Perikopentext tut, wovon er spricht – und spricht, indem er etwas tut.

Damit befindet er sich im Gleichnis-Kapitel Mk 4 in bester Gesellschaft: Da führen Texte Mühe, Fallen und Bandbreite des Verstehens vor Augen. Als Prozess mit Haut und Haaren, der sich ums Elementarste im Leben dreht. Dies alles angesichts der Möglichkeit der Gegenwart Gottes, der Jesus sein Gesicht und eine Geschichte gibt. Indem er nahekommt, mitlebt, erzählt, erklärt, teilt und selbst Anteil nimmt.

Verstehen predigen: Homiletisch empfiehlt sich der bedachtsame Umgang mit der wechselseitigen Auslegung dieser Aspekte, auch von Gleichnis, Kontext und Evangelium. Gottes Königsherrschaft wahrnehmen und Jesu Wirken verstehen gehen Hand in Hand. ‚Unsere‘ Haltung zur Christus-Geschichte und ‚unsere‘ Aufgeschlossenheit fürs Gleichnis gehen Hand in Hand. Wenn das denn zusammenfindet. Auch im Mk-Evangelium als Ganzem. Das seine Spuren so legt, dass entscheidende Einsichten (Jesus als ‚königlicher Herrscher‘, über Grab und Furcht hinaus) nur als Lese-Glaubens-Früchte zu haben sind. Aufs Predigen gewendet könnte es darum gehen, das nicht bloß zu sagen, sondern auch zu zeigen: Jesus verstehen und das Gleichnis verstehen – das sind die beiden Seiten einer Medaille.

3. Theologische Aktualisierung

Bei aller Freude an Jesu mehrdeutiger Rede, bildstark und lebendig: Aufgeklärte, moderne Ohren buchen die Perikope leicht als naiven Text ab. Der die Sache Gottes mit dem Naturprozess aufgehender Saat verbindet, an dem ‚doch schon lange‘ nichts mehr wunderbar sei. Was dort als unberechenbar-geheimnisvoll-automatisches Wachstum erscheint, nach verborgenem Fahrplan, ist schließlich so gut analysiert wie alle Weltprozesse – mit tausend Daten und Dünger und komplexem Timing. Das weiß im Allgemeinen jedes Kind, selbst wenn es im Speziellen nur die Agrarexpertinnen und -experten verstehen.

Bloß: Diese oberflächlich-eilige ‚Aktualisierung‘, die vermeintlich aufgeklärte Interpretation verpasst am Ende die theologische Pointe des Textes. Wenn er bzw. wenn Jesus wollte, könnte das Gleichnis (auch im ntl. Zeithorizont) eine Menge erklären: zur Sorge um Wachstum, über die rechte Zeit der Aussaat. Glaubwürdiger und kundiger als weltbildhaft abgebrühte Durchschnittshörerinnen und -hörer unserer Tage. Das Gleichnis legt es aber offensichtlich gar nicht darauf an, Lücken im allgemeinen Weltwissen zu annoncieren. Sondern darauf, eine Welthaltung zu skizzieren. Zwischen uns, unserer Auffassung von Jesus und Jesu Gottesbezug. Eine Welthaltung, die der Erfahrung Raum gibt, aktiv Teil dieser Welt zu sein, ohne die volle Kontrolle zu haben. Zu säen – und dann in erster Linie zu wachen und zu warten. Ja, gerade die elementarsten Dinge am wenigsten unter Kontrolle zu haben. Auch wenn es sich manche Menschheitsphantasien anders erträumen: Naturwissenschaft, Künstliche Intelligenz oder Technik verändern letztlich höchstens die Dimension, in der sich Kontrolle und Unkontrollierbarkeit abspielen. Und machen es deshalb umso nötiger, das Gleichnis zu erzählen, vom Gleichnis zu predigen. Zu predigen, dass Jesus dies als potenzielle Manifestationen der Königsherrschaft Gottes ausweist und würdigt: Was wir erhoffen, aber nicht erzwingen. Worum wir uns sorgen, ohne es garantieren zu können. Leben. Lebens-Mittel. Liebe. Sinn. Geheimnisse des Lebens. Wohlergehen.

Das Geheimnis der Herrschaft Gottes liegt (wächst und gedeiht) demnach da, wo alles Erklären am Kern der Sache vorbeiginge. Wo nur noch Gleichnisse ziehen. Präzisiert durch die Erzählung von Jesus und durch Jesu Art, seine sehr verständlichen und sehr geheimnisvollen Worte ins Leben hinein auszulegen. Als Momente reinen Staunens über die (Un-)Möglichkeit: Die Welt wird im Leben gehalten. Des Staunens über die Möglichkeit, dass guter Wille attraktiver, fruchtbringender wirkt als eigene Machtausdehnung. Denn das ist die Rede von Gottes Königsherrschaft ja auch: beißende Kritik an anderen, mensch- und kontrollfixierten Formen von Aktionismus und Herrschaft.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Nebensaison: Sexagesimä gehört zu den Sonntags-Exoten: Ein Name, der nur Theologinnen und Theologen geläufig ist. Als Sonntag der sogenannnten Vorpassionszeit gehört er zur kirchlichen Nebensaison. Das Kirchenjahr holt Atem, zwischen der spät-nach-weihnachtlichen Epiphaniaszeit, die verebbt, und der wuchtigen Passionszeit, die vorausliegt. Man kann sagen: Eine gute Zeit für das erzählerische Programm von Mk, das sich zwischen Jesu Vollmacht und seinem gähnend leeren Grab abspielt.

Zeugniszeit: Im Jahreskalender trifft Sexagesimä 2024 auf den Schulhalbjahreswechsel. Mit Zeugnissen und allem, was dann zwischen Freude und Verzweiflung erwacht. Angesichts der Erwartung, diese oder jene Leistungsfrucht hervorzubringen – und angesichts der Tatsache, dass das nun wirklich nicht fair und automatisch mit eigenem Können und Wollen gekoppelt ist. Eine Miniatur der conditio humana.

Der Textraum: Die übrigen Texte des Sonntags wurden von der Perikopenordnung auf einen thematischen Zusammnenhang hin kompiliert, obwohl sie krass unterschiedlicher Herkunft und Machart sind, von Jes 55 bis Hebr 4. Klassische Schlagworte für diesen Zusammenhang heißen „Wort Gottes“, „Verkündigung“, „Gehorsam und Glauben“. Diese Großworte protestantischer Identität führen in Versuchung – in die Versuchung einseitiger Textauslegung und eines eher magischen Verständnisses von Kanzelwörtern und ihrer Autorität. Mk 4 liefert eine rettende Idee: Alle Bilder und Vergleiche, Kraftworte und Worte über Worte sind fürs Königreich Gottes nur dann gut, wenn sie ins unberechenbare Geschehen verwickeln.

5. Anregungen

a) Wo und vor allem wie geschieht das: „von selbst Frucht bringen“? Vor allem: Wo und wie geschieht das hier, in meiner kirchlichen, gottesdienstlichen Gemeinschaft und ihrem Umfeld? Schreiben Sie dazu ausschließlich Verben und Adverbien auf!

b) Die Gleichniseinleitung lautet: „So ist die Königsherrschaft Gottes wie, wenn ein Mensch…“ (Mk 4,26). Dann folgen nur drei Sätze. Sie beschreiben:

  1. 1.Das macht der Mensch, Vv. 26f.
  2. 2.Das geschieht dann von selbst, V. 28.
  3. 3.Das ergibt sich daraus für den Menschen, V. 29.

Legen Sie für den Moment alle Angst davor ab, naiv zu wirken. Begeben Sie sich ganz ins Staunen – Natur, Kultur, was auch immer Ihnen einfällt. Schreiben Sie dann in so einfacher Form wie das Gleichnis zwei Geschehnisse auf, die als alternatives Gleichnismaterial für die Königsherrschaft Gottes taugen könnten.

Literatur

  • Jim Holt, Why does the world exist. An Existential Detective Story (Liveright Publishing Corporation, 2013)
  • Paul Ricœur, Die lebendige Metapher. Aus dem Französischen übersetzt von Rainer Rochlitz (Fink, 1986)

Autoren

  • Prof. Dr. Eve-Marie Becker (Einführung und Exegese)
  • Dr. Peter Meyer (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500020

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