Deutsche Bibelgesellschaft

4. Mose 21,4-9 | Reminiszere | 25.02.2024

Einführung in das 4. Buch Mose

Der vierte Teil des Pentateuch wird im Hebräischen nach Num 1,1 kurz ba-midbar genannt, in der Wüste. Seine Texte beziehen sich auf die Existenz des wandernden Gottesvolkes Israel auf dem Weg zwischen der heilvollen Rettungserfahrung des Exodus und in Erwartung der Erfüllung seiner Hoffnungen auf ein von Gott verheißenes Land. Die ältesten Stücke der vorexilischen Erzählungen berichten, wie das Volk mit Hilfe des Midianiters Hobab seinen Weg vom Gottesberg antritt (Num 10,29-32), und wie nach einer ersten Erkundung des Landes von der Oase Kadesch aus das Volk Angst vor den Kämpfen mit den Völkern im Lande hat und den Verheißungen Gottes nicht vertraut (Num 13–14*). Es irrt 40 Jahre in der Wüste umher, bis die ältere Generation vollständig ausgestorben ist und wagt erst dann, den Weg ins gelobte Land anzutreten. Als ihm das Brudervolk der Edomiter den Durchzug durch sein Gebiet verweigert (Num 20,14-21), umgeht es das Land der Brudervölker (Num 21,4-20) und erobert die Gebirge des Baschan und des Gilead von den Königen Sihon und Og (Num 21,21-33). Nachdem Mose dieses Gebiet an einen Teil der Stämme verteilt hat (Num 32*) ist er zu alt, um das verheißene Land westlich des Jordans noch zu erobern. Die Texte werden von den Deuteronomisten in Form einer Moserede in Dtn 1-3 interpretiert; der Wüstenweg erscheint hierin als eine Zeit der Glaubensprüfung (Dtn 1,26-33), die Erzählungen werden zu Parabeln für die Zeit des Exils und des Harrens auf eine Erneuerung des Bundes und der Verheißungen Gottes.

Eine Priesterschriftliche Erzählung über die Wanderung vom Sinai durch die Wüste und den Einzug ins Land Kanaan ist nicht überliefert. Die noch durch Martin Noth vertretene Quellentheorie, wonach die Texte einem Jahwisten, Elohisten oder der Priesterschrift zugewiesen wurden, ist in der Forschung weitgehend aufgegeben worden. In nach-exilischer Zeit verbinden Schriftgelehrte des Zweiten Tempels die alten Erzählungen von der Theophanie am Gottesberg mit der deuteronomistischen Tradition vom Bund und Bundesbruch am Horeb und der priesterschriftlichen Parabel von dem Bau eines Wüstenheiligtums und der Gotteslade am Sinai und der Einwohnung der Herrlichkeit (kabôd) Jhwhs inmitten des erwählten Volkes. Im Rahmen der Komposition des Hexateuchs (Gen–Jos) werden die Wüstenwanderungserzählungen erweitert. Das Volk bricht auf und folgt der Gotteslade (Num 10,33.35-36). Es beginnt sogleich, gegen Gott zu murren (11,1-3). Mit ihm unterwegs sind zahlreiche Angehörige anderer Völker, darunter solche, die sich dem Murren anschließen und mit den Israeliten nach Fleischnahrung verlangen und sich an den Wachteln zu Tode fressen (11,4-15.31-35). Es kommt zum Streit über die Mischehe des Mose mit einer Kuschitin, in welchem Jhwh die Partei für Mose und seine äthiopische Frau ergreift (Num 12,1-3.10b-16). In Kadesch ist es ausgerechnet der Keniziter Kaleb, der sich als glaubensstärker erweist als die Kundschafter der Israeliten (Num 13,30; 14,24). Als der Moabiterkönig Balak den berühmten Propheten Bileam aus dem Zweistromland holt, um die Israeliten durch einen Fluch an dem weiteren Vordringen zu hindern, wird diesem durch Jhwh selbst solches verwehrt und er muss sie segnen (Num 22–24*). Die Israeliten selbst brechen mit dem moabitschen Baal von Peor den Bund erneut (Num 25,1-5) – so wird die Bundeserneuerung im Lande Moab nötig, von der das deuteronomistisch gerahmte Deuteronomium erzählt (Dtn 3,29; 28,69).

In einer Neubearbeitung des Pentateuch wird das Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) in die Sinaiperikope eingefügt, welches auf die Sakralisierung des Lebens im Gottesvolk zielt und dabei die Bedeutung eines heiligen Lebens und der strikten Einhaltung des Sabbat besonders betont. Jhwh ist hiernach von Beginn des Exodus an in Feuer- und Wolkensäule in seinem Volk präsent (Ex 13,21-22). Er selbst ist es, der in der Feuersäule sein Volk durch die Wüste führt (Num 10,11-12.14). Mose führt ein Zelt der Begegnung mit sich (Ex 33,7-11), und dort erscheint Jhwh ihm in Krisensituationen und tut ihm seine Entscheidungen kund: Er beauftragt ihn, einen Ältestenrat zu seiner Entlastung zu berufen (Num 11,16f.), er bestätigt Moses oberste Autorität über den Prophetinnen und Propheten (Num 12,4-8) und dem Volk (Num 14,10-12) und Aarons hohepriesterliche Autorität über die Fürsten des Volkes und die Leviten (Num 16,18f.; 17,6–18,32), hier bestimmt er Josua zu Moses Nachfolger (Dtn 31,14). Diese Bearbeitung könnte mit dem Wirken Esras in Verbindung stehen und um 400 v. Chr. erfolgt sein, denn hier wird besonderer Wert auf die Unterscheidung des Heiligen Volkes von den anderen Völkern gelegt. 

In der späten Epoche des Zweiten Tempels (im 4./3. Jh.) nimmt das Numeribuch durch priesterliche Bearbeitungen seine endgültige Gestalt an. Die Erzählung vom Bau des Wüstenheiligtums (Luther übersetzt „Stiftshütte“), seiner Gerätschaften und des priesterlichen Ornats in Ex 25-31; 35-40 wird prunkvoll ausgeschmückt und angereichert. Jhwh herrscht als König über sein Volk. Diese priesterliche, von theokratischen Überzeugungen geleitete Bearbeitung umfasst Num 1-10; 15-19; 25; 26-31; 33-36; die Theokratische Bearbeitung gibt den 5 Schriftrollen des Pentateuch ihre jeweils eigene Form. Aaron und seine Nachkommen gelten als diejenigen, die das Privileg des erblichen Amts des Hohepriesters innehaben und das Wächteramt über die Tora wahrnehmen. Sie verkörpern die Autorität des Klerus, dem die weiteren Levitengeschlechter als clerus minor untertan sind. Das Heiligtum ist zugleich „Zelt der Begegnung“, um welche die Stämme Israels sich lagern. Ihre weit über 600 000 Geschlechter, auf deren Zählungen (Num 1; 26) sich der lateinische Name des Buches bezieht, werden das verheißene Land besitzen, das sich vom Eufrat bis zum Bach Ägyptens erstreckt. Schon während der Wüstenzeit lebt Israel nach den Torot, den heiligen Ordnungen Gottes. In der Wüste wird Mose auch das einzige gesprochene Wort offenbart, das aus dem Kontext der Liturgie am Heiligtum überliefert ist: der Priesterliche Segen der Aaroniden (Num 6,22-27), durch den der Heilige Name Jhwh auf das Volk Israel gelegt wird. Durch diesen Segen wird die Tora des Pentateuch vollendet.

Literatur:

  • Achenbach, R., 2003, Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch (BZAR 3), Wiesbaden.
  • Bührer, W., 2021, Schriftgelehrtes Murren. Schriftgelehrte Fortschreibungs- und Auslegungsprozesse in den Murrerzählungen in Exodus und Numeri (FAT 152), Tübingen.
  • Frey, J., 1994, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat…“. Zur frühjüdischen Deutung der „ehernen Schlange“ und ihrer christologischen Rezeption in Johannes 3,14f., in: M. Hengel / H. Löhr (Hgg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum (WUNT 73), Tübingen, 153–205.
  • Römer, Th., 2014, Das Buch Numeri, in: W. Dietrich u.a. (Hgg.), Die Entstehung des Alten Testaments. Neuausgabe (ThW 1), Stuttgart, 135–149.

A) Exegese kompakt: Numeri 21,4-9

4וַיִּסְע֞וּ מֵהֹ֤ר הָהָר֙ דֶּ֣רֶךְ יַם־ס֔וּף לִסְבֹ֖ב אֶת־אֶ֣רֶץ אֱד֑וֹם וַתִּקְצַ֥ר נֶֽפֶשׁ־הָעָ֖ם בַּדָּֽרֶךְ׃ 5וַיְדַבֵּ֣ר הָעָ֗ם בֵּֽאלֹהִים֮ וּבְמֹשֶׁה֒ לָמָ֤ה הֶֽעֱלִיתֻ֨נוּ֙ מִמִּצְרַ֔יִם לָמ֨וּת בַּמִּדְבָּ֑ר כִּ֣י אֵ֥ין לֶ֨חֶם֙ וְאֵ֣ין מַ֔יִם וְנַפְשֵׁ֣נוּ קָ֔צָה בַּלֶּ֖חֶם הַקְּלֹקֵֽל׃ 6וַיְשַׁלַּ֨ח יְהוָ֜ה בָּעָ֗ם אֵ֚ת הַנְּחָשִׁ֣ים הַשְּׂרָפִ֔ים וַֽיְנַשְּׁכ֖וּ אֶת־הָעָ֑ם וַיָּ֥מָת עַם־רָ֖ב מִיִּשְׂרָאֵֽל׃ 7וַיָּבֹא֩ הָעָ֨ם אֶל־מֹשֶׁ֜ה וַיֹּאמְר֣וּ חָטָ֗אנוּ כִּֽי־דִבַּ֤רְנוּ בַֽיהוָה֙ וָבָ֔ךְ הִתְפַּלֵּל֙ אֶל־יְהוָ֔ה וְיָסֵ֥ר מֵעָלֵ֖ינוּ אֶת־הַנָּחָ֑שׁ וַיִּתְפַּלֵּ֥ל מֹשֶׁ֖ה בְּעַ֥ד הָעָֽם׃ 8וַיֹּ֨אמֶר יְהוָ֜ה אֶל־מֹשֶׁ֗ה עֲשֵׂ֤ה לְךָ֙ שָׂרָ֔ף וְשִׂ֥ים אֹת֖וֹ עַל־נֵ֑ס וְהָיָה֙ כָּל־הַנָּשׁ֔וּךְ וְרָאָ֥ה אֹת֖וֹ וָחָֽי׃ 9וַיַּ֤עַשׂ מֹשֶׁה֙ נְחַ֣שׁ נְחֹ֔שֶׁת וַיְשִׂמֵ֖הוּ עַל־הַנֵּ֑ס וְהָיָ֗ה אִם־נָשַׁ֤ךְ הַנָּחָשׁ֙ אֶת־אִ֔ישׁ וְהִבִּ֛יט אֶל־נְחַ֥שׁ הַנְּחֹ֖שֶׁת וָחָֽי׃

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Übersetzung

4 Dann brachen sie auf vom Berg Hor auf dem Weg zum Schilfmeer, um das Land Edom zu umgehen. Und das Volk verlor die Geduld auf dem Wege;

5 und das Volk redete gegen Gott und gegen Mose: „Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt, damit wir in der Wüste sterben? Denn es gibt kein Brot und kein Wasser, und es ekelt uns vor der elenden Speise!“

6 Da sandte Jhwh die Serafim-Schlangen gegen das Volk, und sie bissen das Volk, und viel Volk aus Israel starb.

7 Da kam das Volk zu Mose, und sie sprachen: „Wir haben gesündigt, dass wir gegen Jhwh und gegen dich geredet haben. Bete zu Jhwh, damit er uns von den Schlangen befreit!“ Und Mose betete für das Volk.

8 Und Jhwh sprach zu Mose: „Mache dir einen Serafen und befestige ihn an einer Panierstange, und jeder, der gebissen wird und ihn ansieht, wird am Leben bleiben.“

9 Da machte Mose eine Schlange aus Bronze und befestigte sie an einer Panierstange. Wenn nun die Schlangen jemanden gebissen hatten, so blickte er auf zu der Bronzeschlange und blieb am Leben.

Auslegung

(V. 4a). Das Itinerar ist Teil der redaktionellen Verknüpfung der Erzählstoffe durch die Schriftgelehrten, welche aus vorexilischen Erzählungen, priesterlichen und deuteronomistischen Überlieferungen eine große Komposition des Hexateuch (Gen-Jos) erstellt haben. Die Umgehung Edoms (Num 21,4a) ist eine Folge der Durchzugsverweigerung durch das Brudervolk (Num 20,14–21). Die zweite Episode, die später hinter 20,22a eingeschoben wird, ist die Erzählung vom Tode des Hohepriesters Aaron am Berge Hor. An der Schwelle des verheißenen Landes angelangt, muss das Volk weiter in der Wüste umherirren.

(V. 4b) Der Anlass des Murrens wird als kurz werden der næfæš, also der Verlust eines langen Atems, des Lebensmutes und der Geduld beschrieben (vgl. ähnlich Ri 10,16; 16,16; Sach 11,8). Nach den 40 Jahren des Wüstenweges ist die Nötigung, auf dem Weg in das verheißene Land noch einmal einen Umweg zu gehen, eine Zumutung, zumal dieser Weg durch die heiße Wüstengegend der Araba, südlich des Negev, führt. Das Verbum qṣr wird im Pentateuch nur noch in Num 11,23 verwendet in der Sentenz, die den Zweifel Moses an der Reichweite der Hand Gottes tadelt: „Ist denn die Hand Jhwhs zu kurz?!“ (vgl. Jes 50,2; 59,1). Soeben hat Gott seine Vollmacht dadurch erwiesen, dass Israel einem ersten heftigen Kriegsangriff der Kanaanäer siegreich widerstehen konnte (Num 21,1-3). Trotzdem verliert das Volk schon kurz danach wieder sein Vertrauen.

(V. 5) Auch die Wendung dbr be i.S.v. „Rede gegen jemanden führen“ ist im Pentateuch noch in Num 12,1 belegt, da Miriam das Wort gegen Mose erhebt (vgl. 12,8). Gegenüber Num 12,1 enthält 21,5a eine Steigerung: Die Reden des Volkes richten sich nicht nur gegen Mose, sondern auch gegen Gott, sind also blasphemisch. Die Formulierung des Vorwurfs klingt an Ex 17,3 an. Sie stellt den Sinn der heilvollen Befreiung durch den Exodus grundsätzlich in Frage und verbindet dies mit dem Vorwurf der tödlichen Gefährdung, hervorgerufen durch den Mangel an Nahrung und Wasser. Die von Gott gewährte wunderbare Ernährung durch Manna (vgl. Num 11,6) wird als Übelkeit erregend und armselige Speise diffamiert (belæḥæm haqqelōqēl v. 5bβ, das Adjektiv ist als Reduplikationsform abzuleiten von qll leicht sein, viel zu leicht, nicht nahrhaft genug).

(V. 6) In den Murrgeschichten vor der Offenbarung am Sinai im Buche Exodus antwortet Gott auf die Nöte des Volkes mit Wundertaten, nun, nach der Offenbarung, ist das Murren Ausdruck tiefen Unglaubens, welcher die Wirklichkeit Gottes schlechterdings bestreitet (vgl. Num 11; 13-14; Dtn 1,32). Jhwh lässt Saraf-Schlangen los, giftige Speikobras. Der Negev gilt bis heute als schlangenreiches Gebiet, in dem zahlreiche Vipernarten, Nattern und Kobras vorkommen. Sie werden in Num 21,6 taxonomisch nur grob unterschieden, die LXX nennt sie schlicht „tödliche Schlangen“. Zahlreiche Menschen sterben durch Schlangenbisse (v. 6b). Die himmlischen Serafim-Schlangen haben die Gestalt einer solchen Kobra, sind aber geflügelt; sie schützen die Heiligkeit um Gottes Thron und künden seine Ehre auf der ganzen Erde (Jes 6,2-3). Nun werden die Serafen-Schlangen zu einer Todesgefahr für die Ungläubigen.

(V. 7) Erschrocken werden sich die Israeliten ihrer Schuld bewusst, wagen es, sie zu benennen und zu bekennen und bitten Mose, durch seine große Fürbittenkraft bei Gott für sie einzutreten damit der Schlangenplage Einhalt geboten werde (v.7 aβγ).

(V. 8) Jhwh gebietet Mose, eine Saraf-Schlange aus Bronze anzufertigen, und sie auf ein Panier aufzustecken. Wer gebissen wird und auf sie schaut, soll am Leben bleiben.

(V. 9) Mose fertigt die Schlange aus Bronze an, steckt sie auf eine Stange und das Symbol tut seine Wirkung. Die Episode wird in ihrem jetzigen Kontext mit der Landschaft Edoms assoziiert, wo sich seit alters her große Kupfervorkommen befanden, die die Herstellung von Bronze ermöglichten, so in den Minen von Timna.

Die Geschichte ist sehr ungewöhnlich. Das Bild von einer magisch-beschwörenden Macht der ehernen Schlange ist von großer symbolischer Deutungskraft, ein Sinnbild für den Glauben, dass Jhwh der Herr auch der so gefährlichen und lebensbedrohlichen Macht der Schlangen ist. So scheint die Nachricht von der Existenz einer bronzenen Schlange, genannt Nehuschtan (von nḥš– Schlange, oder nḥšt– Bronze, Kupfer) im Tempel Jerusalems noch zur Zeit des Hiskia (2 Kön 18,4ba) darauf hinzuweisen, dass die heilende Kraft Jhwhs (Ex 15,26b) und der Glaube an seine Herrschaft über die totgiftigen Schlangen möglicherweise einmal ihren Ausdruck in diesem Symbol gefunden hat. Die Deuteronomisten haben an die Bewahrung Gottes vor Schlangen und Skorpionen in der Wüste als Zeichen seiner gütigen Führung erinnert (Dtn 8,15; SapSal 16,5-11; 1 Kor 10,9). Wer an Gott glaubt, wird nicht verloren werden, sondern das Leben haben! Diese Botschaft nimmt Joh 3,14-17 auf und deutet Num 21 auf das Christusereignis am Kreuz hin. Aber wie soll man diese paradoxale Verflechtung der Texte verstehen?

Nach dem Mythos vom Paradies hat der Schlang (naḥaš÷ ist masculinum, verbal nḥš  zischen, zuflüstern) der Urmutter Eva verraten, dass mit dem Griff nach der Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse der Mensch wie Gott sein werde und beides zu erkennen und zu unterscheiden wisse. Jedoch erweist die weitere Menschheitsgeschichte, dass der Mensch eben dieses Wissen nicht dazu nutzt, das Gute zu tun, sondern stets auf Böses sinnt und darum nicht zum ewigen Leben gelangen kann. Daraufhin beschließt Gott, den Fluch von der Menschheit zu nehmen (Gen 8,21-22). Mit dem Zeichen seiner Herrschaft über die Serafen-Schlangen wird er von Israel als der Herr erkannt, der Leben schenkt und den Tod überwindet (Num 21,9).

Nach christlicher Perspektive wird in der Hingabe seines Sohnes am Kreuz aller Welt sichtbar, dass Gott den Tod an sich selbst erleidet und überwindet. Er wird Mensch, auf dass das Böse des Menschen überwunden werde. Im Glauben an dieses Symbol wird ewiges Leben möglich: Menschen werden Gottes Kinder (Joh 1,12) und die trügerische Hoffnung der Eva wird in eine verlässliche Gewissheit des Glaubens gewandelt – eine mythisch-mystische Glaubensbotschaft biblischer Theologie.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Ich stelle mir die Wüstenwanderung des Volkes Israel vor und die Wüste als Raum völliger Ungewissheit, in dem die Existenz auf dem Spiel steht. Es geht um Leben und Tod, Glaube und Unglaube. Die Leute wissen nicht, wie weit der Weg ist. Sie wissen nicht, ob sie je das Ziel erreichen, und wann das sein wird. Da wird ein Lebensweg mit unerfüllten Hoffnungen sichtbar, die durch lange Jahre enttäuscht werden, ein Weg, auf dem man den Lebensmut und alles Gottvertrauen endgültig verliert. Es bricht aus den Leuten heraus. In ihrer Verzweiflung machen sie Gott Vorwürfe. Er hat versagt, er ist nicht wirklich der Gott, der sie ins verheißene Land führen kann.

In der Erzählung reagiert Gott auf die Klage keineswegs harmlos. Er beschwichtigt und vertröstet die Menschen nicht, sondern lässt giftige Schlangen los, die beißen und töten. Damit zerbricht der Erzähler alle banalen Gottesbilder. Die Erwartung, Gott habe so zu sein, wie ich ihn mir wünsche, wird enttäuscht. Die Erfahrung, dem tödlichen Biss des Übels ausgeliefert zu sein, gibt nun erst recht theologisch zu denken: Wenn ein Gott mich dies erfahren lässt, dann muss ich ihn verfluchen und sterben. Oder ich muss ihm meine Wut und Verzweiflung entgegenschreien – im Gebetsschrei. Und dann ist der erste verfluchte Gedanke, dass Gott selbst die tödlichen Schlangen schickt. Gott ist tödlicher als mein eigener Tod! Aber dieser Gedanke rettet mich nicht, sondern treibt mich nur noch weiter in die Verzweiflung und in den Hass auf Gott und in die Sprachlosigkeit.

Aus dieser ‚Krankheit zum Tode‘ weist die Erzählung den Weg zur Rettung. In der Bronzeschlange ist das Unheimliche fixiert. Sie zwingt mich, das Dilemma des Bösen – der Vergiftung, der Schlange, des Todes – anzusehen! Erst dann gewinne ich mich selbst wieder, bleibe nicht Opfer, sondern stelle mich dem, was mich ängstigt. Das Böse wird gebannt in eine Anschauung, die mir hilft, meine eigene Endlichkeit zu erfassen. Sie hilft mir auch, meine Resilienz dadurch wiederzugewinnen, dass ich in Gott auch den sehe, der die Schlange, den Tod, beherrscht. So kommt es auf der Wüstenwanderung zu vertiefter Gottesbegegnung und Selbsterkenntnis. Die Hilfe in Gestalt der auf einem Stab erhöhten Schlange wird nicht unmittelbar gegeben, sondern nur denen, die zu ihr aufschauen. Die Erkenntnis, dass Gott Herr ist über Tod und Leben, erschließt sich erst auf einem Weg, der durch eine Krise hindurchführt.

2. Thematische Fokussierung

Der Text erzählt von Menschen in einer existentiellen Krisensituation, die ihre Geduld und ihren Lebensmut verlieren. Das kann ein Lebensweg sein, auf dem langgehegte Hoffnungen auf familiäres Glück oder beruflichen Erfolg enttäuscht werden. Es kann auch der Weg einer schwierigen, durch Konflikte belasteten Partnerschaft oder der Weg endlos langer Krankheit sein, auf dem man die Erfahrung macht, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Der Eindruck entsteht: Das halte ich nicht länger durch, das ist unerträglich. Verdrossenheit bis zum Lebensüberdruss macht sich breit. Was hilft, wer hilft dann, dem Unfasslichen standzuhalten, was mein Leben zu vergiften droht und mir Angst macht? Die Predigt kann Situationen beschreiben, die Menschen so erleben. Sie sollte dabei der Radikalität der Fragen, die Numeri 21 in Bezug auf heute vorhandene Gottesbilder aufwirft, nicht ausweichen. Die Herausforderung der Predigt besteht darin, sich diesen Fragen zu stellen und ihnen von Joh 3,14-17 her in einer christlichen Perspektive standzuhalten.

3. Theologische Aktualisierung

Numeri 21 stellt Lebensbedrohung und Heilung in Zusammenhang mit Gott. Die Begegnung mit ihm kann also gefährlich, sogar tödlich sein, und sie kann heilen und lebendig machen. Von Gottes Wirken und von Christus zur Gemeinde zu sprechen ist möglich, wenn das alte Sinnbild für Gottes Herr-Sein über die lebensbedrohenden Mächte mit Joh 3 weitergedeutet wird. Die Gemeinde wäre dann so ins Bild zu setzen, dass sie Christus am Kreuz als den Retter und Heiler („Heiland“) sehen kann, der die alte, das Leben vergiftende Schlange besiegt bzw. das Böse des Menschen überwunden hat. „Der Erlöser ist ein Verwundeter, ist selbst ein ‚Gebissener‘“ (Perikopenbuch, 170). In der Gestalt seines Sohnes stirbt Gott selbst am Kreuz. Erst als er den Tod überwindet, erfüllt sich das lügenhafte Versprechen des Schlangs: Wir werden wie Gott, aber gegen die Absicht des Versuchers in Gen 3 nicht durch Misstrauen gegen ihn, sondern gestärkt in einem Selbstbewusstsein, das seine Freiheit und Autonomie aus dem Glauben heraus gewinnt.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Am Sonntag Reminiscere wird Gott dazu aufgerufen, seiner Barmherzigkeit zu gedenken (Ps 25,6). Das entspricht dem Kyrie-Ruf: Herr, erbarme dich! Im Ensemble des Gottesdienstes bringt der Text szenisch-bildhaft zur Sprache, wie Gottes heilende Kraft Menschen aus dem Volk Israel vor der lebensfeindlichen, das Leben vergiftenden Macht des Bösen bewahrt. Das Bild der erhöhten Bronzeschlange wird im Evangelium Joh 3,14-17 aufgenommen und mit dem gekreuzigten Christus verbunden. Seine Kreuzigung wird als ‚Erhöhung‘ gedeutet (Joh 8,28; 12,32). In christlicher Perspektive wird der Gekreuzigte zum Zeichen des Heils: Wer Christus ansieht, wer zu ihm aufblickt, wird leben.

Gott erweist sich in Num 21 als „der Gott, der mir hilft“ (Ps 25,5) und Sündern den Weg weist (Ps 25,8). Das Stichwort ‚Geduld‘ verweist auf die Epistel Röm 5,1-11. In mehreren Liedern begegnen Motive des Textes. „Du schöner Lebensbaum“ (EG 96) spricht Jesus als „Retter unsres Lebens“ (Str. 1) an. „Bewahre uns, Gott“ (EG 171) bittet um Gottes Beistand „auf unseren Wegen … in Wüstennot“ (Str. 1), „Der Weg ist so lang“ (EG Hessen 544) bringt die Erfahrung des langen Weges „durch Wüsten“ (Str. 2) zum Ausdruck. Ein Osterlied sagt, dass der Gekreuzigte die alte Schlange – und mit ihr Hölle, Sünde und Tod (EG 106,2) – besiegt hat, indem er von den Toten auferstand. Das Weihnachtslied „Uns ist ein Kindlein heut geborn“ (aus dem Wittenberger Gesangbuch 1560, vierstimmiger Satz von Johann Sebastian Bach in: Gölz, 76) nimmt den Motivkomplex von Schlange, Heil und Heilung auf. Es bekennt von Christus: „Er hat erlöset uns vom Tod und wieder bracht zu Gnad bei Gott; er heilt der gift’gen Schlangen Biss, den wir bekam‘n im Paradies. Lob Preis und Dank sei Gott bereit‘ für solche Gnad in Ewigkeit“ (Str. 2).

5. Anregungen

Dem Sprachstil des Predigttextes entspricht am ehesten eine erzählende Predigt. Sie könnte zeigen, wie der Glaube widerstandsfähig macht, dem unfassbar Bedrohlichen standzuhalten. Denkbar ist auch eine Bildmeditation, die von der szenischen Typologie (Aufrichtung der Bronzeschlange und Kreuzigung Jesu) des Jüngeren Bibelfensters im Kölner Dom ausgeht. Eine Liedpredigt könnte evtl. den Hymnus As Moses raised the serpent up (Text von Marie J. Post, 1985, trad. englische Melodie. In: Sing to the Lord). aus der reformierten Kirche heranziehen. Das vierstrophige Lied beruht auf Joh 3,14-17.

Literatur

  • Gölz, R., 1975, Chorgesangbuch, Kassel.
  • Nach der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder, hg. Liturgische Konferenz für die EKD (Hg.), 2018, Perikopenbuch. Nach der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder, Leipzig / Bielefeld.
  • O.V., Sing to the Lord. RCNZ provisional hymnal [https://hymnal.rcnz.org.nz/Hymns].

Autoren

  • Prof. Dr. Reinhard Achenbach (Einführung und Exegese)
  • Dr. Michael Heymel (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500024

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