Deutsche Bibelgesellschaft

1. Timotheus 4,4-5 | Erntedankfest | 06.10.2024

Einführung in den ersten Timotheusbrief

1. Zugehörigkeit des ersten Timotheusbriefes zu den „Pastoralbriefen“ und Fragen zu seiner Verfasserschaft

Der 1. Timotheusbrief gehört zu den seit dem 18. Jahrhundert als „Pastoralbriefe“ („Hirtenbriefe“) bezeichneten Schriften des NT (1Tim, 2 Tim, Tit). Sie führen in ihren Präskripten Παῦλος als Absender an (1 Tim 1,1; 2 Tim 1,1; Tit 1,1). Herkömmlich galten diese Briefe daher als Paulusbriefe. Ende des 18. Jahrhunderts wurde dies jedoch innerhalb der deutsch-sprachigen Forschung in Frage gestellt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Auffassung, dass nicht Paulus selbst der Verfasser dieser Briefe sei, sondern eine nicht näher bekannte Person aus der Paulusschule, die sich fiktiv seines Namens bediente. Die kritische Rückfrage nach der Verfasserschaft der Pastoralbriefe hatte sich vor allem an sprachlichen Beobachtungen von Friedrich Schleiermacher zum ersten Timotheusbrief entzündet. Die Abweichungen gegenüber der Ausdrucksweise der übrigen Paulusbriefe, zu denen Schleiermacher alle weiteren zwölf im Corpus Paulinum versammelten Briefe zählte, bewogen ihn dazu, 1 Tim für unpaulinisch zu halten. Dieser Brief sei eine Fälschung, schlecht kompiliert aus Stücken von 2 Tim und Tit (1807). Die anschließende Debatte führte zu der Frage, ob alle drei Briefe von ein- und demselben nicht-paulinischen Verfasser stammten und somit auch 2 Tim und Tit unpaulinisch seien (so J. G. Eichhorn 1812; F. C. Baur 1835). Durch H. J. Holtzmann wurde diese These zumindest in der deutschsprachigen evangelischen Forschung fest etabliert (1880 / 1892). Die Briefe wurden seither fast durchweg als „frühkatholisch“ bewertet: Sie zeigten eine beginnende „amtskirchliche“ Institutionalisierung der christlichen Gemeinde mit hierarchischen Strukturen. Im Vergleich mit den echten Paulusbriefen wurden sie als wenig eigenständig und minderwertig („epigonal“) eingestuft. Die neuere Forschung ist hingegen bestrebt, das differenzierte Gemeindeverständnis und den theologischen Eigenwert der Pastoralbriefe herauszuarbeiten.

2. Zur Datierung, Lokalisierung und Adressierung des ersten Timotheusbriefes

Mit der Verfasserfrage eng verknüpft ist die Frage nach der Datierung von 1 Tim. Unter der Annahme, dass Paulus diesen Brief selbst geschrieben hat, fällt die Datierung in die Mitte bzw. zweite Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts (50/60 n. Chr.). Wird 1 Tim als nicht paulinisch („pseudepigraph“), zugleich aber als Teil eines aus 1 Tim, 2 Tim und Tit bestehenden Corpus Pastorale verstanden, tendiert die Mehrheitsmeinung zu einer Entstehung um 100 n. Chr. Als pseudepigrapher Brief, der nicht Teil eines solchen Corpus Pastorale sei, wird er teilweise zeitlich noch später angesetzt (zweites Viertel des 2. Jahrhunderts). Somit könnte 1 Tim jenen Schriften des Neuen Testaments Konkurrenz machen, die bisher als potentiell jüngste Schriften galten (2Petrus: um 110 n. Chr.; Spätdatierung der Johannesapokalypse auf die Zeit des römischen Kaisers Hadrian: um 130 n. Chr.).

Wird der Brief als authentischer Paulusbrief bewertet, wird auch die Adresse als echt eingestuft (1Tim 1,2: Τιμοθέῳ γνησίῳ τέκνῳ ἐν πίστει / An Timotheus, ein rechtmäßiges Kind im Glauben). Bei Timotheus handelt es demnach um einen der beiden engsten Mitarbeiter des Paulus, der sowohl in den Paulusbriefen als auch in der Apostelgeschichte erwähnt wird (vgl. Röm 16,21; 1 Kor 4,17; 16,10f; 2 Kor 1,1; Phil 1,1; 2,20–22; 1 Thess 1,1; 3,2f; Philm 1; Apg 16,1–3; 20,4). Wird der Brief als pseudepigraph eingeschätzt, gewinnt neben dem Verfasser meist auch der Adressat fiktive Züge: Es gehe weder um den historischen Paulus noch um den historischen Timotheus („doppelte Pseudepigraphie“). Dessen Name stehe vielmehr stellvertretend für Personen, die in der frühen christlichen Kirche ein Amt bzw. eine leitende Funktion innehaben und durch den Brief instruiert werden sollen. Eine andere Forschungsmeinung nimmt an, hinter der adressierten Person stünde eine Gemeinde von Christ:innen, die pagan (heidnisch) sozialisiert worden seien. Ausgehend von der Aussage in 1 Tim 1,3, der Briefautor habe Timotheus beauftragt, in Ephesus zu bleiben, um dort die rechte Lehre zu verkündigen, wird diskutiert, ob Ephesus die reale historische Metropole oder wiederum eine fiktive Stellvertretergröße sei, die paradigmatisch für die Situation einer (kleinasiatischen?) Gemeinde und deren Probleme im zweiten nachchristlichen Jahrhundert stehe. Zu diesen Problemen könnten die Auseinandersetzungen mit „Irrlehren“ oder „Gegnern“ gehören, die immer wieder in 1Tim als „Falschlehrer“ begegnen. Erwogen wird, dass es sich bei diesen um gnostische oder prägnostische Strömungen handelt, möglicherweise auch um judaisierende Kräfte oder um innergemeindliche Gruppen, in denen von der „gesunden Lehre“ abweichende Sichtweisen vertreten werden.

3. Zur Brieflichkeit des ersten Timotheusbriefes

Ist 1Tim überhaupt ein Brief oder eher ein Traktat bzw. eine „Regel“? Eindeutig ist, dass sich das Schreiben eine briefliche Form gibt, wie sie von den Paulusbriefen her bekannt ist. 1 Tim gliedert sich in einen Briefeingang mit Präskript (1,1f.) und brieflicher Einführung (1,3-20), eine Briefmitte („Briefcorpus“, 2,1-6,2) und einen Briefschluss (6,3-21) mit Schlussparänese (6,3-21a) und Schlussgruß / Gnadenwunsch (6,21b).1Tim lässt sich als ein fingierter Brief beschreiben, der Züge eines Ermahnungs-, Erziehungs- und Lehrbriefes trägt. Der (fiktive) Adressat Timotheus soll durch das briefliche Medium und dessen paränetisch-pädagogischen Charakter zu einer vorbildlich tugendhaften Leitfigur und einem ebensolchen Lehrer erzogen werden. 1Tim leistet somit einen Beitrag zur Identitätskonstruktion frühchristlicher Lehr- und Leitungsfiguren. Zugleich lässt er sich als ein Brief „höherer Wirksamkeit“ beschreiben, der durch Timotheus vermittelt, auch Dritte zu ethischer Lebensführung erzieht. Insofern Timotheus durch die paränetische Kommunikationsstruktur des Briefes nicht nur als Empfänger, sondern auch als Vermittler von Weisungen kenntlich gemacht wird, gewinnt 1Tim den Charakter einer zweistufigen brieflichen Instruktion. Er weist damit ein gattungstypisches Element hellenistisch-römischer Mandatsschreiben von Herrschern und hohen Beamten an untergeordnete, ihrerseits weisungsbefugte Amtsträger auf.

4. Wichtige Themen und theologische Schwerpunkte

Die ethisch-moralische Integrität von Leitungsfiguren in der Gemeinde, das Verhältnis der Geschlechter zueinander und das komplexe Bild Gottes sind wichtige Themen des 1Tim. So ist der Brief z. B. in 3,1-13 darum bemüht, darzulegen, worin idealiter das ethische Profil der Lebensführung, der inneren Geisteshaltung, des sozialen Verhaltens eines Bischofs und eines Diakons bestehen. Dabei sind auch Frauen als Diakoninnen vorausgesetzt (3,11; vgl. Krauter, Genderrollen). Zu weiteren Rollen von Frauen heißt es in 1Tim 2,11f. (vermutlich auf den Gottesdienst bezogen): „Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann herrsche, sondern sie sei still.“ Eine Lehr- und Leitungsfunktion von Frauen in der Gemeinde wird somit ausgeschlossen. Allerdings wird erkennbar, dass „Witwen“ (das sind Frauen, die nicht mehr verheiratet sind oder nie verheiratet waren) gute Werke tun (5,10) und wohl in ein bezahltes „Witwenamt“ aufgenommen werden können (5,3-16). Allerdings wird davon in einer Weise gesprochen, dass der Eindruck entsteht, die Funktionsträgerinnen sollten möglichst wenig in Erscheinung treten. Das Thema „Amtsträgerinnen“ erweist sich somit als ein Spezifikum des 1Tim, und zwar in deutlich restriktiver Ausprägung. Frauen sind jedoch für den 1Tim grundsätzlich Adressatinnen von Gottes Rettungshandeln: Sie werden „durch das Kindergebären hindurch“ gerettet (2,15; die instrumentale Lesart „mittels des Kinder-gebärens“ ist nicht zwingend; vgl. Zimmermann, Gott, unser Retter, 418-421). Gott selbst sind sie darin verwandt, dass sie Leben schaffen. Indem sie Kinder zur Welt bringen, führen sie ein gottgemäßes, dem Heil entsprechendes Leben. Im 1Tim fällt die besondere Dichte an Gottesbezeichnungen auf, die zu einem komplexen Gottesbild und einer anspruchsvollen Theologie führt. Gott ist der „eine Gott“ (2,5), der „einzige Gott“ (1,17), der „selige Gott“ (1,11), der „unvergängliche Gott“ (1,17), der „unsichtbare Gott“ (1,17), der „lebendige Gott“ (3,15; 4,10), der Schöpfer, der alles Leben erschaffen hat (6,13; vgl. 4,4), der „Vater“ (1,2), der „König der Zeitalter“ (1,17), der „König der Könige“ und der „Herr der Herren“ (6,15) sowie der „Retter aller Menschen, besonders derer, die glauben“ (1,1; 2,3f; 4,10). Die Bezeichnung Gottes als Retter ist dabei eng verknüpft mit der Rede von Gott als Schöpfer und hat programmatische Funktion für die argumentative Auseinandersetzung des Briefes mit den Falschlehrern: Vor diesen wird gerade der Schöpfer- und Rettergott die Gemeinde bewahren, die ihrerseits ihre Identität aus der Bezugnahme auf das Schöpfer- und Retter-Sein Gottes gewinnt.

Literatur:

  • Weiß, B.: Die Pastoralbriefe (KEK), Göttingen 71902.
  • Herzer, J.: Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus. Studien zu den Briefen an Timotheus und Titus, hg. v. Jan Quenstedt, WUNT 476, Tübingen 2022.
  • Hoegen-Rohls, Ch.:  Art. Pastoralbrief, in: Eve-Marie Becker, Ulrike Egelhaaf-Gaiser, Alfons Fürst (Hg.), Handbuch Brief – Antike (erscheint: Berlin 2025).
  • Krauter, S.: Genderrollen in den Pastoralbriefen. Ein Experiment mit verschiedenen Lesestrategien, ThLZ 146 (2021), 374-387.
  • Priesemuth, A,; „Der ein unzugängliches Licht bewohnt“. Die Rede von Gott in 1 Tim, Diss. masch., Kiel 2023.
  • Schleiermacher, F.D.E.: Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J. C. Gaß (1807), in: ders., Schriften aus der Hallenser Zeit 1804–1807, hg. v. H. Patsch (Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Band 5), Berlin 1995, 153‒242.
  • Standhartinger, A.: Von wegen „schweigen“: Frauen in den Pastoralbriefen, https://www.katholisch.de/ artikel/45939-von-wegen-schweigen-frauen-in-den-pastoralbriefen, aufgerufen am 20.02.2024.
  • Weidemann, H.-U.: Die Pastoralbriefe, ThR 81 (2016), 353–403.
  • Zimmermann, Ch.: Gott, unser Retter – Christus, unsere Hoffnung: Soteriologische Aspekte des 1. Timotheusbriefes, in: dies., D. du Toit / Ch. Gerber (Hg.), Soteria. Salvation in Early Christianity and Antiquity, Leiden 2019, 406–426.

A) Exegese kompakt: 1. Timotheus 4,4-5

4ὅτι πᾶν κτίσμα θεοῦ καλὸν καὶ οὐδὲν ἀπόβλητον μετὰ εὐχαριστίας λαμβανόμενον· 5ἁγιάζεται γὰρ διὰ λόγου θεοῦ καὶ ἐντεύξεως.

1. Timotheus 4:4-5NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

4a        Denn jegliches von Gott Geschaffene ist gut

4b        und es ist nichts verworfen, was mit Dankbarkeit empfangen wird.

5          Denn es ist geheiligt durch Gottes Wort und Gebet.

oder:    [V. 3: die Wahrheit,] dass jegliches von Gott Geschaffene gut ist

und nichts verworfen ist, was mit Dankbarkeit empfangen wird.

Denn es ist geheiligt durch Gottes Wort und Gebet.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 4a: Lässt sich die Konjunktion ὅτι (dass, weil) als Parallele zu 1Tim 4,1 („Der Geist aber sagt ausdrücklich, dass …) verstehen? ὅτι hat dort nicht begründende, sondern redeeinleitende Funktion (sog. ὅτι recitativum). Es kann unübersetzt bleiben und als Doppelpunkt verstanden werden, nach dem dann die direkte Rede des Geistes beginnt. Das ὅτι von V. 4a scheint aber doch eher kausale oder explikative Funktion zu haben: Es begründet die Aussage von V. 3, dass Gott Speisen zum Zwecke ihrer Aufnahme geschaffen habe (ἔκτισεν εἰς μετάλημψιν) oder erläutert den Inhalt der erkannten Wahrheit, von der in V. 3 die Rede ist.

πᾶν κτίσμα θεοῦ: die Wortverbindung enthält das neutrische Adjektiv πᾶν (in Verbindung mit einem Nomen im Singular: jedes einzelne Exemplar der durch das Nomen bezeichneten Klasse hervorhebend), das neutrische Nomen κτίσμα im Singular (abgeleitet von dem Verb κτίζειν: schaffen) und das Nomen θεός (Gott).

Zu ergänzen ist nach καλόν (schön, gut, einwandfrei) das finite Hilfsverb ἐστίν (ist).

V. 4b: Das Verbaladjektiv ἀπόβλητον, von ἀποβάλλω (abwerfen, verwerfen) abgeleitet, steht in Opposition zu καλόν: nicht schön, gut, einwandfrei, sondern verworfen. Nach ἀπόβλητον ist ein ἐστίν zu ergänzen.

Wie kann μετὰ εὐχαριστίας übersetzt werden? Das Nomen kommt noch zwei Mal in 1Tim vor:

- In 2,1 ist es einer von vier semantisch eng verwandten Ausdrücken, die liturgische Formen des Betens bezeichnen: δέησις (Bitte, Gebet), προσευχή (Gebet), ἔντευξις (Gebet, Bittgebet, Fürbitte; auch: Fähigkeit zum Gebet), εὐχαριστία (Danksagung, Dankgebet).

- In 4,3 sollen die von Gott geschaffen Speisen von den Glaubenden μετὰ εὐχαριστίας angenommen werden. Die Wendung ist in V. 4b wieder aufgenommen. An beiden Stellen sind folgende Über-setzungen möglich: ‚mit dankbarer Gesinnung / Dankbarkeit‘; ‚mit Danksagung / Dankgebet‘. In welchem sozialen Kontext Gesinnung und Dankgebet erwiesen werden soll, zeigt 3,15: die brieflichen Weisungen setzen Timotheus darüber in Kenntnis, was im οἶκος θεοῦ gelten soll, d.h. in der Gemeinde/Kirche des lebendigen Gottes (ἐκκλησία θεοῦ ζῶντος).

Die auf das Neutrum οὐδέν (nichts) bezogene passivische Partizipialkonstruktion μετὰ εὐχαριστίας λαμβανόμενον (mit Dankbarkeit empfangen werdend) kann im Deutschen als Relativsatz oder Bedingungssatz aufgelöst werden: Nichts, das mit Dankbarkeit empfangen wird, ist verworfen; nichts ist verworfen, sofern es mit Dankbarkeit empfangen wird.

V. 5: ἁγιάζεται ist 3. Person Singular Passiv von ἁγιάζειν (heiligen, weihen). „Heiligen“ meint hier: als von Gott kommend bewerten, der Sphäre Gottes zugeordnet werden. διά mit Genitiv gibt an, durch welches Mittel geheiligt (dem Göttlichen zugeordnet) wird, nämlich durch „Wort Gottes“ und „Gebet“ (jeweils ohne Artikel). In der Wendung „es wird geheiligt durch Gottes Wort“ scheint das Passiv ein passivum divinum zu sein: Gott ist der Handelnde, der sein Wort als Werkzeug der Heiligung gebraucht. Aber ist auch „Gebet“ ein Werkzeug Gottes? Oder tritt hier der betende Mensch in den Blick? Wäre das Passiv „es wird geheiligt“ also ein passivum hominum? Wirken Gott und Mensch zusammen bei der Bewertung des Geschaffenen und seiner Zuordnung zur Sphäre des Göttlichen? Die Struktur der Verse legt dies aus meiner Sicht nahe. Denn „es wird geheiligt / es wird als von Gott kommend bewertet / es wird der Sphäre Gottes zugeordnet“ bezieht sich zurück auf ‚jegliches Geschaffene‘ und auf ‚nichts ist verworfen, was mit Dankbarkeit angenommen wird‘. V. 5 bringt daher nicht eigentlich einen neuen Gedanken gegenüber V. 4a und V. 4b, sondern intensiviert den dort formulierten Doppelgedanken: Jegliches von Gott Geschaffene ist gut, und es wird geheiligt durch Gottes Wort // Nichts ist verworfen, das durch die menschliche Haltung der Dankbarkeit angenommen wird, und es wird geheiligt durch menschliches Gebet.

2. Der briefliche Kontext und die literarische Gestalt von 1 Tim 4,4-5 als Gottesgeistrede

Die Predigtperikope ist eingebettet in den Abschnitt 1 Tim 4,1-16. Dieser behandelt die Frage, welche Lebensweise für Christinnen und Christen grundsätzlich angemessen sei. Anlass, diese Frage zu klären, ist, dass in der Gemeinde von Ephesus, in der Timotheus als eine Art Supervisor tätig ist, „verführerische Geister“ und „Lehren von Dämonen“ Gehör finden (Luther 2017). Wer sind diese Kräfte, die als Irrlehrer und Gegner der ephesinischen Gemeinde auftreten und sie in Bedrängnis bringen (vgl. dazu auch 1 Tim 1,4-10)? Der Text beantwortet diese Frage nicht eindeutig. Er beschreibt jedoch einerseits, wie die Irrlehrer wirken (sie tragen heuchlerische Lügen vor, verbieten zu heiraten und fordern, bestimmte Speisen zu meiden), und kennzeichnet andererseits Menschen, die den Irrlehrern folgen, als solche, die vom Glauben abfallen (1Tim 4,1-3). Der Brief will einem solchen Abfall vom christlichen Glauben entgegenwirken, indem er Timotheus möglichst genau unterweist, wie den bedrohlichen Mächten, „die der gesunden Lehre und der Gott angemessenen Lebensweise widersprechen“ (Zimmermann, Gott, unser Retter, 416), entgegenzuwirken sei.

Das Besondere an dem Unterabschnitt 1Tim 4,1-5 ist, dass er als wörtliche Rede des göttlichen Geistes gekennzeichnet ist (V. 1: „Der Geist spricht ausdrücklich, dass …“). Das heißt: Der Hinweis auf die dämonischen Lehren (V. 1-3) und genauso der in der Predigtperikope gegebene Hinweis auf das Gutsein des von Gott Geschaffenen, das durch Gott und Mensch geheiligt wird (V. 4-5), ist Rede des Gottesgeistes. Diese tritt direkt der Rede der Irrlehrer gegenüber und entkräftet sie. Der Brief bedient sich hier also einer ganz besonderen Sprachform, um der Wichtigkeit des Widerstands gegen die falsche Lehre Ausdruck zu verleihen. In 4,6-7 spricht dann wieder der Briefschreiber selbst und wendet sich mit den Worten an Timotheus: „Wenn du die Brüder und Schwestern dies (sc. was der Geist sagt) lehrst, so wirst du ein guter Diener Christi Jesu sein, genährt durch Worte des Glaubens und der guten Lehre, der du gefolgt bist. Die ungeistlichen Altweiberfabeln aber weise zurück; übe dich selbst aber in der Frömmigkeit!“ (Luther 2017)

3. Theologische Akzentuierung

Die von Gott gegebenen, von ihm geschaffenen Gaben sollen mit Dankbarkeit empfangen werden. Warum? Weil mit seiner Haltung des Dankens der Mensch in Beziehung zu Gott tritt: Er nimmt das Geschaffene nicht als selbstverständlich hin, sondern als von keinem anderen als von Gott gegeben. Mit dieser bewussten Einstellung heiligt er nicht nur das Geschaffene, sondern ehrt Gott als Schöpfer und versteht sich selbst als Gottes Geschöpf. Darin, dass εὐχαριστία nicht nur „Dankbarkeit“, sondern auch „Danksagung“ heißen kann, deutet sich der kommunikative Aspekt der Schöpfer-Geschöpf-Beziehung an: Der Mensch spricht seinen Dank Gott gegenüber aus, er tritt vernehmlich in das Gespräch mit Gott ein.

Die Predigtperikope zeichnet sich ein in das Anliegen des 1Tim, Gott als Schöpfer und Retter der Menschen ins Bewusstsein der Glaubenden zu rufen (vgl. 4,3; 1,1; 2,3; 4,10). Das schöpfungs-theologische Argument wird für den Widerstand gegen falsche Askese genutzt: Nichts, was Gott geschaffen hat, muss gemieden werden. Vielmehr ist Gott als Schöpfer gerade dadurch zu verehren, dass alles von ihm Geschaffene als gut erkannt und anerkannt wird – so wie Gott selbst seine Schöpfung als gut bewertet hat (vgl. Gen 1,31).

Die Verehrung Gottes als Schöpfer muss regelrecht eingeübt, ja wie im Sport „trainiert“ werden: Γύμναζε δὲ σεαυτὸν πρὸς εὐσέβειαν – „Übe dich in Frömmigkeit / Gottesfurcht!“, heißt es im unmittelbaren Kontext (1Tim 4,7). Möglicherweise wird mit der Wahl des Verbs „üben, trainieren“ der Aspekt des Wettkampfs zwischen Timotheus und den Irrlehrern angedeutet: So wie die Geistrede gegen die dämonische Lehre antritt, um diese im Wettstreit um die Glaubenden nicht siegen zu lassen, so soll auch Timotheus, gestärkt durch die Gottesgeistrede, gegen die Irrlehrer antreten, um gegen sie zu gewinnen – durch εὐσέβεια. Dieser Begriff, der hier nicht eine menschliche Tugend akzentuiert („Frömmigkeit“), sondern wiederum eine Haltung gegenüber Gott betont („Gottesfurcht“), tritt innerhalb des Zusammenhangs 1Tim 4,1-7 semantisch an die Seite von εὐχαριστία: Die Haltung der „Gottesfurcht“ wird greifbar in der Haltung der „Dankbarkeit“ gegenüber allem von Gott Geschaffenen. Es ist diese Haltung, mit der Christ:innen nicht nur äußerlich ins Gespräch mit Gott eintreten, sondern spirituell an Gottes Lebendigkeit und Gottes rettendem Willen Anteil gewinnen (vgl. 1 Tim 4,8-10).

Literatur

  • Christiane Zimmermann, Gott, unser Retter (siehe Einführung in den 1. Timotheusbrief)

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Einfach alles an seiner Schöpfung ist gut! Geht es noch deutlicher? Gewiss, wenn ich die Gegenprüfung mache und lese, dass rein gar nichts verworfen ist – Empfang in Dankbarkeit als einzige Bedingung. Die Exegese verdeutlicht mir, wie klar die Argumentation aufgebaut ist.   

Überhaupt finden sich deutliche Worte im Brief. Und um nicht den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, wird der Heilige Geist hinzugezogen: Er spricht die „gesunde Lehre“ aus. Gesund ist es, sich nicht in derlei Selbstbeschränkungen zu üben, denn sie betreffen dem Briefschreiber zufolge die Beziehung zu Gott nicht. Kein Verzicht auf die Ehe, keine Essensverbote – als ob Gott mit solchen zufriedengestellt werden müsste. Geheiligt hat er schließlich das, was da ist, und zwar durch ihn da ist. Nimm und iss, doch sei dankbar und gebe der Gabe als Schöpfergabe ihr Recht!  

Der Gedanke, der hier betont wird, muss immer wieder von Neuem aufgerufen werden. Der Kampf gegen „Irrlehrer“, die in einer bestimmten Gemeinde ihr Unwesen trieben, ist nicht nur ein historisch interessantes Unterfangen – so wie auch die Protestaktionen der Reformatoren nicht nur Anekdoten zum Schmunzeln sind: Als Huldrych Zwingli 1522 zu einem Wurstessen in der Fastenzeit lud, stand dieses stellvertretend für die evangelische Freiheit als Konsequenz der Gott-gewährten Möglichkeit, eine Beziehung mit ihm bestätigend zu leben, einer, in der er als Schöpfer und Retter geglaubt wird und die beständig gepflegt werden muss, nicht aber an selbstgemachten Beschränkungen hängt. Für diese Einsicht kann man nur „Danke und Amen“ sagen – buchstäblich sogar! Dankbare Annahme wird im Dankgebet eingeübt. Die Exegese verdeutlicht, dass das Wort vom Schöpfer und Retter zum Gespräch, zum echten Dialog führt und welche Kommunikationsformen dafür bereitstehen.  

2. Thematische Fokussierung

In Bezug auf die Beziehung, die keine einseitige darstellt und damit auch den Menschen motivieren soll, sich aktiv am Gespräch zu beteiligen, wird der Dank betont. Die Forderung „Sei dankbar!“ ist jedoch eine, die in jeder Beziehungskonstellation ambivalent gehört wird – wie auch der ebenso fordernde Gegenappell: „Sei nicht undankbar!“ Dankbarkeit ist nun einmal auch ein gefühltes Erleben, das sich nicht immer einstellen wird, so dass die Aufforderung zum Dank widersprüchlich erscheinen muss. Dennoch kann Dankbarkeit in gewisser Weise „trainiert“ werden. Es hat mit Respekt zu tun, in einer Beziehung für Empfangenes zu danken. Umgekehrt muss nicht jede Forderung nach Dankbarkeit eingelöst werden. Ob man z. B. den strengen Eltern tatsächlich Dank „schuldet“ oder sie diese nur fordern, ohne selbst eine respektvolle Beziehung aufzubauen, ist zu prüfen. Zu einer gesunden Beziehung gehört die gesunde Lehre echten Danks. Und ist Danksagen angebracht – ja, dann hilft auch Training! Dass es für einen selbst gut sein kann, sich in Erinnerung zu rufen, wofür man dankbar sein könnte, weiß nicht nur der Briefschreiber, so dass es inzwischen auch Notizbücher oder Timer gibt, die eine Spalte für zu Dankendes reservieren und zur Besinnung auf dasselbe ermutigen wollen.

Die Exegese zeigt jedoch, dass es hier nicht um das eigene „gute Gefühl“ geht: Es geht um eine echte Beziehung, und zwar mit dem, der nicht weniger als Himmel und Erde und eine neue Erde und einen neuen Himmel erschafft. Die Beziehungsqualität wird erhöht, wenn geheiligt wird, was bereits geheiligt ist. Wie sollte der Heilige Geist dazu nicht anspornen?

3. Theologische Aktualisierung

Der Aufruf zum Dank wird in den Versen konkret: Für den Briefschreiber gilt es, für das, was dem Erhalt des Menschen dient, dankbar zu sein: Es geht um Speisen. Anders als die irrenden Asket:innen, die Verbote aufzwingen, um lediglich zu fordern statt zum echten Gespräch mit dem erschaffenden und schenkenden Gott zu animieren, sind die Worte im 1 Tim nicht Produkt eines Schnellschusses. Die Erlaubnis zur Speise mit der Bedingung des Dankes ist vielmehr innerhalb einer ganz konsequent durchdachten Theologie aufgebaut: Schöpfungstheologisch ist sie reflektiert – der Schöpfer eröffnet die wechselseitige Beziehung. Pneumatologisch ist sie eingebettet – der Geist spricht und spricht mich an. Und ethisch wird sie ausgeführt: Solche theologischen Grundsätze haben schließlich Konsequenzen, die aber nicht in vorschnellen Verboten liegen.

Apropos Schnellschüsse: Dass die Verse den undankbaren Verzicht bestimmter Speisen in Ephesus ablehnen, wird heute nun nicht heißen können, alles gedankenlos konsumieren zu dürfen. Debatten zur Nachhaltigkeit und tierethische Fragestellungen auszublenden mit dem Verweis darauf, man müsse ja lediglich „dankbar“ für die Güter und Produkte sein, die man verzehre, kann der Beziehung, die hier beschrieben wird, nicht gerecht werden. Erneut ist zu betonen, dass die Verse in einem theologischen Gesamtentwurf zustande kommen: Es geht hier um die Beziehung mit einem Gott, der eine gute Schöpfung erschafft, dafür die dankbare Annahme erwarten kann – der soziale Kontext Gemeinde soll diese ja einüben! – und der auch seine Geschöpfe retten will. Was für Konsequenzen diese Theologie für alle Geschöpfe hat, darf sein menschliches Geschöpf daher immer von Neuem bedenken. Ethische Konsequenzen werden stets neu zu justieren sein, u. a. aufgrund neuer Bedingungen des irdischen Zustands oder auch neuer Möglichkeiten, dem Schöpfer, den Mitgeschöpfen und der gesamten Schöpfung gerecht zu werden, was sich z. B. im konsequenten Kampf gegen das Leid von Mitgeschöpfen ausdrücken muss. Vegetarismus und Veganismus als Asketentum abzutun oder Klimaschützer:innen unnötigen Rigorismus vorzuwerfen, ist hingegen nicht mit diesen Versen zu vereinbaren: Dankbarkeit kann und muss trainiert werden und in einer dynamischen, wechselseitigen, lebendigen und respektvollen Beziehung zu Gott in jeder Zeit – bis in Ewigkeit – sich verändern müssen, damit die Lehre „gesund“ bleibt – manche könnten gar sagen, damit die Beziehung eine „nachhaltige“ ist. Der Heilige Geist steht für diese Beziehung ein.

Der Hinweis der Exegetin auf die Gottesfurcht als ein Beziehungselement kann hier womöglich hilfreich sein – ob nun undankbare Askese oder undankbarer Libertinismus droht.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Wie stehen Sie zum Erntedankfest? Wie dankbar macht Sie ein Erntedankgottesdienst? Finden Sie hier das im Brief angedachte „Training“ zur Danksagung und Dankgebet gut umgesetzt und aktivierend? Gewiss, der Gottesdienstraum ist hübsch geschmückt, Ähren und Kürbisse stehen vor der Kanzel oder es lehnen – in meiner reformierten Heimat – Grünkohlpflanzen, „ostfriesische Palmen“, am Abendmahlstisch. Doch oftmals können weder Dekoration noch Lieder in mir den Dank auslösen, der doch gefordert ist. Einige sagen, es liege an dem schwächer werdenden Bezug zu dem mit eigener Hand Geernteten – die wenigsten Gottesdiensteilnehmer:innen sind schließlich in der Landwirtschaft tätig und gemeinhin erinnern sich nur die Älteren an die mühselige Arbeit im eigenen Garten – oder es liegt daran, dass die dargebrachten Gaben nicht als Mangelware wahrgenommen werden – anders als vielleicht Strom und Gas oder Medikamente für Kinder in diesen Tagen. Doch die Tradition sieht nun einmal die Feldfrüchte im Gottesdienstraum vor und mein Dank wird allzu oft zu einem Abnicken der doch – oder noch – für mich selbstverständlichen Gaben. Dass mein Gefühl gegenüber diesem Festgottesdienst – zum Glück! – nicht überall geteilt wird, höre ich aber, wenn mir Menschen erzählen, wie wunderbar es für sie als Kind war, die eigene Gabe nach vorne zum Altar – oder zum Tisch – gebracht zu haben. Was für eine Verantwortung innerhalb der Gottesbeziehung! Selbst tätig werden, Gott aktiv Dank zollen, ja, Gottes Schöpfung heiligen – und zwar vor den Augen der versammelten Gemeinde! Aktiv Dankbarkeit mitgestalten – suchen, wofür man dankbar ist, es betrachten, mitbringen und vor alle bringen – vielleicht sollte man das nicht nur den Kindern überlassen. Wie nachhaltig könnte der angemessene Dank an den Schöpfergott sein, wenn er mit allen Sinnen erlebt wird? Viele Reflexionsprozesse sind doch für solch ein „ganzheitliches Dankestraining“ notwendig, z. B. wenn ich eine gute Gabe suche und dann auch finde; wenn ich vielleicht schmunzeln muss, dass ich mich für die Süßigkeit entscheide, die ich schon als Kind geliebt habe und dann erneut lächele, wenn ich sehe, dass ich nicht die einzige bin, die sie in Gottes Haus und vor sein Angesicht gebracht hat; wenn ich dann plötzlich nicht nur für das in den Händen Gehaltene, sondern auch für das Geschöpf neben mir dankbar bin, das auch zeigt, wofür er oder sie dankbar ist. Das schafft Beziehungen. Vielleicht werde ich mich im nächsten Jahr auch für eine andere Gabe entscheiden, z. B. nicht mehr die Schokolade mitbringen, von der ich inzwischen weiß, dass ihr Entstehen für andere Mitgeschöpfe mit Leid verbunden ist und ich diese Gabe als zu selbstverständlich hingenommen habe. Das hat dann nichts mit dem moralischen Zeigefinger zu tun, der mir von irrlehrenden Verzichtenden gezeigt wird: Es ist vielmehr nur folgerichtig innerhalb einer Beziehung, in der ich mit dankbarer Gesinnung vor Gott treten, für die ich Dank sagen will und für die ich in Gemeinschaft bitten will. Mit Dank will ich mein im Gebet beschließen, denn Danksagung und Dankgebet gehen ganz zu Recht im ersten Timotheusbrief ineinander über. „Warum ist den Christen das Gebet nötig?“ fragt der Heidelberger Katechismus in Frage 116 und antwortet:

Weil es die wichtigste Gestalt der Dankbarkeit ist,
die Gott von uns fordert,
und weil Gott seine Gnade
und seinen Heiligen Geist
nur denen geben will,
die ihn herzlich und unaufhörlich
darum bitten und ihm dafür danken.
                                                                 

Autoren

  • Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls (Einführung und Exegese)
  • Dr. Sabine Joy Ihben-Bahl (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500064

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