Deutsche Bibelgesellschaft

Matthäus 11,2-10 | 3. Advent | 17.12.2023

Einführung in das Matthäusevangelium

Das MtEv gehört seit seiner Entstehung zu den wichtigsten Büchern des Neuen Testaments und hat die Geschichte der weltweiten Christenheit geprägt wie kein anderes Buch. Entsprechend anhaltend ist das Interesse daran auch in der wissenschaftlichen Forschung. Allerdings hat die Durchsetzung der Mk-Prioriät im 19. Jh. das MtEv als ältestes und apostolisches Evangelium in der historisch-kritischen Forschung zurückgestuft zu einer Parteischrift judenchristlicher Gemeinden, die gegenüber anderen frühchristlichen Milieus das Festhalten an einem wörtlichen Verständnis der Tora des Mose vertraten. Damit verbunden ist die Frage, ob sich die sog. „Gemeinde des Matthäus“ noch als Teil der jüdischen Glaubens- und Volksgemeinschaft verstand (bzw. von dieser noch als Teil derselben akzeptiert wurde) oder ob das Evangelium von einer eigenständigen Entwicklung der sich auf Jesus als Messias beziehenden Gemeinschaften ausgeht, wissend, dass dies mit einem Abweichen vom Weg der Mehrheit in Israel einhergeht. In diesem Fall wird das Evangelium als Versuch einer eigenen Orts- und Zeitbestimmung in Gottes Geschichte mit seinem Volk und den Völkern der Welt verstanden. Eine zentrale Rolle in der Entscheidung dieser Frage hat das jeweils vorausgesetzte Verhältnis des Evangelisten zur Tora. Gegen das in der gegenwärtigen Forschung vielfach vertretene Verständnis eines von Mt intendierten wörtlichen Praktizierens aller Toragebote spricht, dass die kirchliche Praxis sein Evangelium nie in dieser Weise verstanden oder praktiziert hat. Die Interpretation pro Tora würde also bedeuten, dass Mt in der Kirche von Anfang an gegen seine eigene Intention gelesen und gepredigt wurde. Die Folge ist eine weitere Aushöhlung des protestantischen sola scriptura.

1. Verfasser

Das MtEv ist, wie alle neutestamentlichen Evangelien, anonym verfasst. Die Zuschreibung an Matthäus ist handschriftlich seit dem Ende des 2./Beginn des 3. Jh.s bezeugt; die älteste patristische Bezeugung stammt aus dem weitgehend verlorenen Werk des kleinasiatischen Bischofs Papias von Hierapolis. Nach ihm „hat Matthäus die Logien (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte“ (Eusebius, h.e. III 39,16; Irenäus spricht von seinem „Evangelium in schriftlicher Form“, s. Adv. haer. III 1,1). Die Zuschreibung eines Evangeliums an den Apostel Matthäus bezieht sich in den ältesten Quellen jedoch nur auf das behauptete hebräische/aramäische Original. Für die vorhandene griechische Fassung wurde schon von Hieronymus festgehalten, dass der Übersetzer unbekannt ist (Vir.ill. III 1). Ohne auf die Übersetzungsfrage einzugehen, wurde das MtEv bis lange ins 19. Jh. hinein und mit nicht wenigen Vertretern bis heute als Werk des Apostels u. ehemaligen ‘Zöllners’ Matthäus angesehen. In der deutschsprachigen Forschung wird dagegen mehrheitlich ein unbekannter judenchristlicher Verfasser angenommen, der zwischen 80 und 100 das Evangelium auf der Grundlage älterer Quellen (Mk, Q, Sondergut) geschrieben hat. Die internationale u. nichtprotestantische Forschung ist in dieser Frage allerdings deutlich pluraler als die deutschsprachige Einleitungswissenschaft und Kommentarliteratur. Eine wichtige Rolle spielt in beiden exegetischen Traditionen die singuläre Referenz in der Jüngerliste Mt 10,3 (Matthäus der Zöllner), die erkennbar und absichtsvoll auf die Berufung des Zöllners Matthäus 9,9–13 (der in den Parallelen Mk 2,13–27; Lk 5,27–32 Levi heißt, woraus in der Tradition Matthäus-Levi wurde) zurückverweist. Dies wird weithin als Referenz auf den intendierten (oder eben tatsächlichen) Verfasser verstanden. Die Apostolizität – verstanden in einer Weise, dass wesentliche Teile des Inhalts auf Überlieferungen aus dem Zwölferkreis, repräsentiert durch Matthäus, zurückgehen – kann so in Einklang mit der frühchristlichen Tradition trotz des relativ späten Entstehungsdatums des kanonischen (= griechischen) MtEv vertreten werden.

2. Adressaten

Das Evangelium selbst enthält keine direkten Hinweise auf Adressaten, Abfassungszeit oder -ort. Alle diesbezüglichen Aussagen sind aus dem vorliegenden Text abgeleitet und angesichts deren Spärlichkeit entsprechend hypothetisch. Die patristischen Autoren berichten, dass Matthäus das Evangelium für die „Hebräer“ (d.h. die jüdischen Jesusgläubigen in Israel) schrieb, bevor er „zu den anderen Völkern“ gehen wollte (Eusebius, h.e. III 24 6). Die Annahme, dass das Evangelium ursprünglich an überwiegend judenchristliche Gemeinden gerichtet war und in deren Kontext entstanden ist, wird auch heute mehrheitlich vertreten. Nur wenige machten und machen sich für einen heidenchristlichen Ursprungskontext stark. Allerdings gibt es auch hier eine starke, insbesondere englischsprachige Forschungstradition, die solche Partikularadressierungen ablehnt und stattdessen von einer von Anfang an universalen Adressatenschaft ausgeht („The Gospel For All Christians“). In der deutschsprachigen Evangelienforschung dominiert dagegen ein Partikular- und Konfliktmodell, nach dem die einzelnen Evangelien an bestimmte Gemeindegruppen adressiert sind und sich dabei gleichzeitig von den Empfängergruppen der anderen Evangelien mehr oder weniger polemisch absondern. Der Zuweisung des MtEv an ein judenchristliches Milieu impliziert darum oft die Abgrenzung gegenüber anderen frühchristlichen Milieus (repräsentiert u.a. durch Paulus oder das MkEv, das Mt angeblich verdrängen oder ersetzen wollte). Damit wird das MtEv in erster Linie zu einem Zeugnis für die angenommene Konfliktgeschichte innerhalb des frühen Christentums zwischen 70 und 100, und die in ihm vermittelten Jesustraditionen gelten als so ausgewählt bzw. reformuliert, dass sie der Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe dienten (die manche mit den Apg 15,5 genannten christlichen Pharisäern verbinden). Alternativ kann man im MtEv, basierend u.a. auf seiner breiten Rezeptionsgeschichte seit dem 2. Jh. in den geographisch sehr verschiedenen Milieus des frühen Christentums und im Hören auf die patristischen Traditionen, ein in seinen Anfängen apostolisches Zeugnis sehen, dessen griechische Endgestalt das Mk- und möglicherweise auch das LkEv bereits voraussetzt. In diesem Fall stellt es die abschließende synoptische Stimme im neutestamentlichen Kanon dar, in der die Verkündigung von Jesus im Kontext einer „kerygmatischen Biographie“ (so Martin Hengel) einschließlich ihrer fortlaufenden Formatierung bis ungefähr zum Jahr 85–90 enthalten ist.

3. Entstehungsort

Aufgrund der judenchristlichen Charakteristika wird häufig eine Entstehung in Antiochien vermutet, was dadurch gestützt wird, dass Bischof Ignatius von Antiochien das MtEv schon im 1. Drittel des 2. Jh.s zu kennen scheint. Aber auch andere Orte in Israel bzw. Syrien werden diskutiert. Mt 4,24f. beschreibt den unmittelbaren geographischen Radius von Jesu Wirksamkeit (und damit einen möglichen ersten Adressatenkreis), aber das Evangelium selbst lässt keinen Zweifel an seiner universalen Perspektive (24,9.14; 26,13; 28,18–20), die sich zudem in der wiederholten Erwähnung von nichtjüdischen Personen als Empfängern der guten Botschaft konkretisiert (Mt 1,5; 2,1; 8,5–13.28–34; 15,21–28; 27,54).

4. Wichtige Themen

Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die Christologie (Jesus als Sohn Davids neben der Menschensohn-Christologie), Soteriologie (Vergebung der Sünden als Zielvorgabe von Jesu Wirken [1,21] und als Vollendung [26,28: nur Mt verbindet die Worte vom Bundesschluß im Abendmahl mit der Vergebung der Sünden εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν]; Gericht und Eingang ins Leben als wichtige Orientierungspunkte) und Ethik (6,1; 7,24; 25,40.45: die Betonung des Tuns/ποιέω) aus der besonderen Perspektive hinsichtlich des Verhältnisses zu den Traditionen Israels, dem jüdischen Volk in Vergangenheit und Gegenwart sowie der Tora. Das MtEv enthält einige der bekanntesten neutestamentlichen Texte, darunter die weltweit in allen Kirchen benützte Fassung des Vaterunsers und die Bergpredigt, aber auch problematische Texte wie die große Scheltrede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23), die antijüdische Voreingenommenheiten (z.B. Klischees über die Pharisäer) bis heute befeuern. Diese Gefahr bestand immer dann, wenn die Entstehungssituation des Evangeliums nicht reflektiert und die polemische Rhetorik einer Gemeinde in einer bedrängten Minderheitensituation, die gleichwohl selbstbewusst für ihre Botschaft eintrat, von einer sich über das jüdische Volk erhebenden christlichen Kirche bruchlos übernommen wurde. Das wirkte sich so unheilvoll aus, weil kein Evangelium im Lauf der Kirchengeschichte mehr gepredigt wurde als Matthäus. Dabei ist es vor allem der mt Redestoff, der für katechetische und homiletische Zwecke herangezogen wurde und wird, während im Erzählstoff die farbigeren Darstellungen bei Mk und Lk bekannter sind.

5. Besonderheiten

Das MtEv enthält eine Vielzahl klar abgrenzbarer Einheiten, die in sich deutlich strukturiert sind, insbesondere durch Dreiergruppen (vgl. 1,17, wo diese Struktur sogar benannt wird) oder „chiastische Ringkompositionen“ (U. Luz). Dagegen fehlt eine erkennbare Gesamtstruktur, indem der Aufbau insgesamt eher schlicht ist: Als Auftakt die Genealogie als Brücke in Israels Geschichte und die Kindheitsgeschichte als Erfüllungsgeschehen (vier der insgesamt 12 bzw. 13 Erfüllungszitate sind in Kapitel 1–2, beginnend mit 1,22: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllt werden würde, was gesagt worden ist durch …“, vgl. außerdem 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14.35; 21,4; 26,56; 27,9), daran anschließend das Wirken in Galiläa, und ab 16,21 eine zunehmende Fokussierung auf Jerusalem; Passionsbericht und Auferstehung bilden den Abschluss. Einzelne Perikopen werden durch Schlüsselworte und gleichartige Formulierungen zu thematischen Erzählfäden verbunden, so dass sich die Gesamtsicht der mt Botschaft am besten durch wiederholtes und zusammenhängendes Lesen erschließt. Das macht es wahrscheinlich, dass das Evangelium von Anfang an für den gottesdienstlichen Gebrauch intendiert war. Herausragendes Merkmal sind die fünf großen Reden in den Kapiteln 5–7, 10, 13, 18 und 24f., die alle nahezu identisch abgeschlossen werden (7,28; 11,1; 12,53; 19,1; 26,1). Der biographisch-historische Rahmen ist durch die gleichlautenden Einleitungen in 4,17 (Ἀπὸ τότε ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς + Infinitiv als Einleitung in das öffentliche Wirken Jesu vor allem in Galiläa) und 16,21 (als Beginn der Passionserzählung mit dem Fokus auf Jerusalem) markiert. Auch die Passionsgeschichte, die weitgehend mit Mk parallel geht, ist als Erfüllung dessen dargestellt, was der Evangelist in Israels Heiligen Schriften an Vorausverweisen auf Jesus fand (26,54.56; 27,9).

Literatur:

  • Meyers KEK: Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Matthäus. Nachgelassene Ausarbeitung und Entwürfe zur Übersetzung und Erklärung. Für den Druck erarbeitet u. hg. v. W. Schmauch, KEK-Sonderband, Göttingen 41967.
  • Aktueller Kommentar: Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015 (theologisch gehaltvolle Auslegung, aber kaum Hinweise auf Literatur; diese findet sich reichlich verarbeitet in dem Band: Matthias Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016).
  • Grundlegend: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1-4, Neukirchen-Vluyn u.a. 1985 (5., völlig neubearbeite Aufl. 2002), 1990, 1997, 2002 (umfassendster Kommentar in deutscher Sprache mit ausführlichen Hinweisen zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte).
  • Zur Diskussion um die Tora: R. Deines, Jesus and the Torah according to the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 295–327 (in diesem Band auch weitere Aufsätze zu dem Thema, so dass die verschiedenen Positionen gut erkennbar sind).
  • Angelsächsische Literatur und Auslegungsgeschichte: Ian Boxall, Matthew Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentaries, Hoboken: Wiley Blackwell, 2019.

A) Exegese kompakt: Matthäus 11,2-10

Wenn Zweifel auf Gewissheit trifft

Vom Zweifel des Johannes zur Gewissheit des Evangelisten

Matthäus 11

2Ὁ δὲ Ἰωάννης ἀκούσας ἐν τῷ δεσμωτηρίῳ τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ πέμψας διὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ 3εἶπεν αὐτῷ· σὺ εἶ ὁ ἐρχόμενος ἢ ἕτερον προσδοκῶμεν; 4Καὶ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς εἶπεν αὐτοῖς· πορευθέντες ἀπαγγείλατε Ἰωάννῃ ἃ ἀκούετε καὶ βλέπετε·

5τυφλοὶ ἀναβλέπουσιν καὶ χωλοὶ περιπατοῦσιν,

λεπροὶ καθαρίζονται καὶ κωφοὶ ἀκούουσιν,

καὶ νεκροὶ ἐγείρονται καὶ πτωχοὶ εὐαγγελίζονται·

6καὶ μακάριός ἐστιν ὃς ἐὰν μὴ σκανδαλισθῇ ἐν ἐμοί.

7Τούτων δὲ πορευομένων ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς λέγειν τοῖς ὄχλοις περὶ Ἰωάννου· τί ἐξήλθατε εἰς τὴν ἔρημον θεάσασθαι; κάλαμον ὑπὸ ἀνέμου σαλευόμενον; 8ἀλλὰ τί ἐξήλθατε ἰδεῖν; ἄνθρωπον ἐν μαλακοῖς ἠμφιεσμένον; ἰδοὺ οἱ τὰ μαλακὰ φοροῦντες ἐν τοῖς οἴκοις τῶν βασιλέων εἰσίν. 9ἀλλὰ τί ἐξήλθατε ἰδεῖν; προφήτην; ναὶ λέγω ὑμῖν, καὶ περισσότερον προφήτου. 10οὗτός ἐστιν περὶ οὗ γέγραπται·

ἰδοὺ ἐγὼ ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου πρὸ προσώπου σου,

ὃς κατασκευάσει τὴν ὁδόν σου ἔμπροσθέν σου.

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Übersetzung

Da Johannes im Gefängnis von den Werke des Messias hörte, sagte er durch seine Jünger, die er geschickt hatte: „Bist du ›der Kommende‹, oder erwarten wir einen anderen?“ 4 Als Antwort sagte Jesus zu ihnen: „Geht, berichtet Johannes, was ihr hört und seht: 5 Blinde sehen wieder und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein und Gehörlose hören und Tote wachen auf/werden auferweckt (Medium oder Passiv!) und Armen wird gute Nachricht verkündigt – 6 und selig ist. wer (wörtlich: „wenn er“) nicht durch mich/an mir zu Fall kommt. 7 Nachdem diese gegangen waren, begann Jesus zu der Menge über Johannes zu reden: „Um was zu bestaunen seid ihr in die Wüste hinausgegangen? Ein Schilfrohr, vom Wind bewegt? 8 Aber um was zu sehen seid ihr hinausgegangen? Einen Menschen eingehüllt in weiche (Kleider)? Siehe (Merkt/Wisst ihr nicht), die die weiche (Kleider) tragen sind in den Häusern der Könige. 9 Um was also zu sehen seid ihr hinausgegangen? Einen Propheten! Ja, sage ich euch, und mehr als einen Propheten. 10 Dieser ist, über welchen geschrieben worden ist: Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, welcher deinen Weg herrichten wird vor dir.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.2 „Im Gefängnis (ἐν τῷ δεσμωτηρίῳ)“: Eigentliche Gefängnisse gab es in der römischen Welt nicht, auch keine Haftstrafen. Eine Haft/Bewachung erfolgte nur bis zum Prozess, auf den dann unmittelbar die Durchführung der Strafe erfolgte (Jer 37,15–21 gibt einen guten Einblick). Kontakt mit der Außenwelt während der Haft ist darum nicht ungewöhnlich.

V.3 ὁ ἐρχόμενος/der Kommende: Über einen Kommenden nach ihm spricht der Täufer in 3,11, in 21,9 wird Jesus mit Worten aus dem messianischen Psalm 118 als „der Kommende“ bei seinem Einzug in Jerusalem begrüßt.

„Werke des Messias“ (τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ): Offenkundig sind die Anklänge der sechs Zeichen an Jes 29,18f.; 35,5f.; 26,19 und 61,1f. Dass solche messianischen Zeichenlisten auf biblischer Grundlage frühjüdisch bezeugt sind, zeigt der viel diskutierte Qumrantext 4Q521 (s. Lit.). Dennoch ist umstritten, ob es konkrete Vorstellungen über besondere Werke des Messias gab, mit denen er sich als Messias legitimieren konnte/musste.

Sprachlich fällt auf, dass die drei Paare von Aktivformen zu Passivformen wechseln, d.h. die göttliche Urheberschaft (passivum divinum) wird subtil eingeführt, erstmals beim dritten „Werk“, den Aussätzigen, die „gereinigt werden“ (vgl. 2Kön 5,7: das ist etwas, das nur Gott tun kann). Das erste Paar ist aktivisch formuliert, das zweite Paar hat ein passives und ein aktives Verb, das dritte Paar (Totenerweckung und Evangeliumsverkündigung) nur Passivformen (wobei die erste auch medial interpretiert werden kann).

ὃς ἐὰν μή („der, wenn er nicht“ oder „unter der Bedingung, dass“): das ist ein Relativsatz (eingeleitet mit dem Relativpronomen ὅς) mit konditionalem Nebensinn (ἐάν = wenn, vgl. H.v.Siebenthal, GGNT §290e), d.h. nur wenn der Inhalt des zweiten Satzteils gegeben ist (das Nichtanstoßnehmen an Jesus), dann gilt auch der Vordersatz (die Seligpreisung).

V.4 „Berichtet … was ihr hört und seht“ (ἀπαγγείλατε… ἃ ἀκούετε καὶ βλέπετε): Diese Wendung verweist auf die vorangegangenen Kapitel. Die Bergpredigt (Mt 5–7) ist das, was es zu hören, die Wunder in Kap. 8 und 9 das, was es zu sehen gibt.

V.6 Das Verb σκανδαλίζω (Anstoß/Ärgernis erregen/bereiten), eine Kausativform von τὸ σκάνδαλον (Falle, Anstoß, Ärgernis), ist in der jüdischen Literatur und der nichtbiblischen Gräzität selten. Im NT ist sie dagegen häufig, die meisten Belege finden sich bei Matthäus. Dieser führt mit σκανδαλίζειν in 11,6 ein neues semantisches Geflecht ein (vor 11,6 nur einmal in 5,29f.), indem er Jesus als den über das Heil entscheidenden Anstoß benennt. Bei Mt hat das Verb als Objekt (= das Anstoß erregende Element) die „Botschaft“ (λόγος) von Jesus (13,57; 15,12) bzw. die durch sie verursachte Verfolgungssituation (13,21; 24,10, vgl. auch 26,31.33), die verhindern, dass Menschen in das Reich Gottes eingehen; zu den „Anstößen“ (σκάνδαλα), die sich Menschen untereinander bereiten und die den Eingang ins Reich Gottes verhindern s. Mt 18,6–9. In 16,23 ist es Petrus, der für Jesus zum „Anstoß“ wird, indem er ihn vom Weg ans Kreuz abzuhalten versucht. Alle Kontexte (bis auf 17,27) verweisen damit auf das eschatologische Heil.

V.9 Die meisten Übersetzungen haben ein Fragezeichen nach Prophet, aber damit wird die Pointe verpasst. Die beiden ersten Fragen zielen auf die falsche Antwort: der Täufer ist kein Rohr im Wind (wohl metaphorisch für jemand, der den Menschen nach dem Mund redet und sich von der öffentlichen Meinung bewegen lässt) – das wussten die Menschen, genau darum kamen sie ja zu ihm; der Täufer ist auch kein Mensch in weichen Kleidern, sondern trägt die Kleidung eines Propheten, speziell die des Elias, wie in Mt 3,4 beschrieben (vgl. 2Kön 1,8; Sach 13,4). Jesus nimmt also die Antwort des Volkes bestätigend vorweg: ihr habt in ihm einen Propheten gesucht! Er ist aber nicht einfach ein Prophet, sondern „mehr als ein Prophet“ (περισσότερον προφήτου). Diese übliche Übersetzung ist nicht falsch, aber sie bringt nicht zum Ausdruck, dass bei Mt der Wortstamm περισσ*, der in seiner Grundbedeutung an Fülle und Überfluss denken lässt, als „eschatologisches Leitwort“ (ThWNT VI 59) fungiert. Damit kennzeichnet der Evangelist die Dinge, die sich dem Heilswirken und Geben Gottes verdanken und auf die Gegenwärtigkeit des Reiches Gottes verweisen.

V. 10 Das atl. Zitat findet sich fast identisch auch in Mk 1,2 (da Jesaja zugeschrieben) und Lk 7,27. Es steht allerdings in dieser Form nicht im AT:

  • der erste Teil (von ἰδοὺ bis προσώπου σου) entspricht dem exakten griech. Wortlaut von Ex 23,20 u. mit leichten Änderungen (und einer Auslassung) auch Mal 3,1.
  • Der zweite Versteil entspricht dagegen keinem dieser beiden Texte, sondern variiert das Motiv von der Vorbereitung eines Weges/einer Bahn für Gottes Kommen, das sich in Mt 3,3 bezogen auf die Aufgabe des Täufers findet (wobei Jes 40,3 zitiert wird).

Vom Kontext her ist Mal 3,1 der primäre Bezugstext: denn da geht es um das Kommen Gottes zum Gericht, das von Elia vorbereitet werden soll (Mal 3,23). Der Täufer wird hier als dieser zweite Elia vorgestellt (ausdrücklich in Mt 11,14). Seine Aufgabe ist es, das Volk zur Begegnung mit Gott vorzubereiten.

2. Literarische Gestalt und Kontext

1. Der literarische Kontext:

Mt 11 leitet im Aufbau des ersten Evangeliums eine Wende ein: seit 4,17 wirbt Jesus im Volk für seine Botschaft vom nahe gekommenen Himmelreich, indem er verkündigt (Mt 5–7) und Wunder tut (Mt 8–9; alle sechs in 11,5 beschriebenen „Werke“ finden sich zwischen 4,17 und 9,35) und dann mit Hilfe der Zwölf noch einmal ganz Israel (10,5–8; 11,1) einladen lässt. Nun steht Israel vor der Entscheidung, wie es sich als Volk zu Jesus verhält. Mt 11,2–13,58 schildert diese Situation, die am Ende dazu führt, dass Jesus mehrheitlich von seinem Volk abgelehnt wird. Gerahmt sind diese Kapitel durch die Zweifel bzw. Ablehnung von Jesus in seinem engsten Umfeld: Der Täufer ist unsicher, ob Jesus der Erwartete ist (11,3), und am Ende steht der Unglaube (ἀπιστία) in seiner eigenen Vaterstadt (13,53–58; zum Konflikt mit der eigenen Familie s. 12,46–50). Ab Kap. 14 ergeht darum die Einladung nicht mehr an Israel als Ganzes, sondern nur noch an Einzelne, und der erzählerische Schwerpunkt liegt auf dem Verhältnis von Jesus zu seinen Jüngern, die ihn vor seiner Passion als Messias (16,16) und Gottessohn (Mt 17,5) erkennen sollen.

2. Die Gestalt des Täufers bei Mt:

Mt führt den Täufer in 3,1 ohne jede Vorgeschichte ein. Seine Rolle erschließt sich allein aus seiner Jes 40,3 entnommenen Botschaft (Mt 3,3): DtJes kündigt das Kommen JHWHs an, dem der Prophet den Weg bereiten soll; in der mt Täuferdarstellung dient dieser Vers der Vorbereitung für das Kommen Jesu, womit die enge Beziehung zwischen Jesus und JHWH bereits angedeutet ist. Seine Verhaftung wird in 4,12 nur konstatiert: durch wen oder warum, wird nicht gesagt; in 11,2 wird lediglich mitgeteilt, dass er „im Gefängnis“ ist, aber es fehlen weiterhin die näheren Umstände. Erst in 14,1–12 werden diese nachgetragen. Die entscheidenden Aussagen über den Täufer finden sich dagegen in 11,2–14, wobei der Predigttext die heilsgeschichtliche Identifikation von Johannes mit Elia in 11,14 nicht mehr enthält. In der Perikope geht es einerseits um die Anfrage des Täufers aus dem Gefängnis und Jesu Antwort, aber dann auch um die Bedeutung des Täufers. Im Zentrum steht dabei das Zitat aus Mal 3,1, das Teil einer längeren Gottesrede ist (Mal 3,1–5). D.h. bei Maleachi ist es Gott, der seinen Boten vor sich (!) hersendet, um ihm (= Gott) den Weg freizuräumen. Matthäus verwendet diese Aussage in einer Weise, dass der Täufer als der Bote JHWHs erkennbar wird. Damit ist der, der nach ihm kommt, JHWH selbst. Damit gehört diese Stelle in die Immanuel-Christologie des ersten Evangeliums: in Jesus ist Gott bzw. JWHW in seinem Volk gegenwärtig.

3. Historische Einordnung

Ausgehend von der Antwort auf die Fragen Jesu, die der Text selbst gibt, ist ein Prophet (den das zu sehen gingen die Menschen „in die Wüste hinaus“) ein Mensch, der weder in Palästen lebt noch „weiche Kleider“ (als Zeichen für Luxus) trägt. Entsprechend ist der Prophet auch kein schwankendes Rohr, das sich den Launen der Mächtigen beugt. Das passt zur historischen Johannes-Gestalt, der durch Kleidung und Nahrung als Gottesmann erkennbar war und durch seine Kritik an Herodes Antipas, dem Tetrarchen über Galiläa und Peräa, Freiheit und Leben verlor. Ein vergleichbares Bild von Johannes als einem Bußprediger mit großer Wirkung, von dem sich selbst Herodes Antipas bedroht fühlte, bietet auch der jüdische Historiker Josephus (Jüd. Altertümer XVIII 116–119; zur historischen Einordnung des Täufers s. außerdem WiBiLex Johannes der Täufer). Die vielfach überlieferte Fabel (u.a. bei Äsop) über das Schilfrohr, das den Sturm im Unterschied zur Eiche (oder einem anderen ›starken‹ Baum) überlebt, ist hier konterkariert: Wer überleben will, so die Fabel, „darf sich den Mächtigen nicht widersetzen, sondern muß sich ihnen unterordnen und gehorchen“ (zit. b. Theißen, Lokalkolorit, 28). Das gilt für kluge Höflinge und Möchtegern-Karrieristen, aber eben nicht für Propheten. Das Bild des Johannes ist hier also positiv gemeint (was Mt 11,11 auch eindeutig belegt) und seine Haltung wird, wie G. Theißen in seiner materialreichen Untersuchung gezeigt hat, mit der des galiläischen Landesfürsten Herodes Antipas kontrastiert, der auf seinen Münzen u.a. ein Schilfrohr prägen ließ.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Der Text lässt sich in zwei Teile gliedern (V. 2–6 und 7–10), denen ein redaktioneller Übergangssatz voransteht, mit dem die Rede in Kap. 10 abgeschlossen und die neue Erzähleinheit vorbereitet wird.

11,2–6 ist die zweifelnde Anfrage des Täufers, ob Jesus „der Kommende“ ist. Diese Frage wird allerdings nicht einfach mit „Ja“ beantwortet, sondern mit einer impliziten Hoheitsaussage, indem am Ende der Aufzählung „der (sechs) Werke des Messias“ das Verhältnis zu diesem als die eigentliche Herausforderung (vgl. das Verb σκανδαλίζω, d.h. die Sache, an der man zu Fall kommen kann) dargestellt wird. Gerahmt wird dieser Teil durch das betonte σύ („bist du?“) in V.3 und das nicht minder prominente ἐν ἐμοί („an mir“) am Ende. Die negative formulierte Bedingung verweist darauf, dass „keinen Anstoß nehmen“ noch nicht den Eingang ins Himmelreich bedeutet (vgl. Mt 5,20). Es ist noch kein Bekenntnis zu Jesus, sondern Voraussetzung dafür, dass es zu einem solchen kommen kann. Dazu passt die Formulierung als Seligpreisung, die bei Mt an keiner Stelle eine unbedingte Heilszusage ist, sondern eine Vergewisserung, dass den damit Angesprochenen der Weg ins Himmelreich offen steht.

V.7 leitet dann einen zweiten Gesprächsgang ein, in dem Jesus sich nun ungefragt an die dabeistehende Menge wendet und sie über die Rolle des Täufers unterrichtet. Dieser zweite Gesprächsgang geht allerdings bis V.19. Die Abtrennung der Perikope mit V.10 ist zwar nachvollziehbar, sie ist aber weder bei Mt noch bei Lk der Abschluss von dem, was Jesus über den Täufer sagt. Für die Predigt hilfreich ist es, wenn man auch bei V.10 auf die Personalpronomen achtet: Welches ἐγώ spricht hier? Wen bezeichnet es als „meinen“ Boten? Und wen redet es mit dem dreimaligen σου („dein“) an? Von Mt her lassen sich die Fragen eindeutig beantworten: Gott ist das ἐγώ, das hier zu Wort kommt. Der als „mein Bote“ Bezeichnete ist der Täufer (der als Elia auch „der Kommende“ ist), der den Weg von Jesus (σου) bereiten soll. Es geht also auch im zweiten Teil darum zu erkennen, wer Jesus ist (s.o. die Erklärung zu V.10).

5. Theologische Perspektivierung

Wunder (V.5), die sich als „Werke des Messias“ prophetisch nachzeichnen lassen, und die explizite Deutung des Geschehens anhand der Schrift (V.10) sind in diesem Text als ›Erkennungszeichen‹ für Jesus genannt. Der Täufer zweifelt im Gefängnis. Er hatte „den Kommenden“ (in 3,11 ebenfalls ὁ ἐρχόμενος) als einen „Stärkeren“ angekündigt, der „mit Heiligem Geist und Feuer“ tauft und dabei Streu und Weizen scheidet (3,12). Johannes erwartete das Kommen Gottes zum Endgericht mit der Vernichtung der Frevler im Feuer. Doch obwohl Jesus die Botschaft des Täufers aufnimmt (vgl. 3,2 mit 4,17), ist seine Botschaft, wie sie in Kap. 5–9 entfaltet wird, eine ganz andere. Jesus führt nicht das Gericht an den Frevlern aus, sondern ruft sie in seine Nachfolge (den Zöllner Matthäus) und isst mit ihnen (Mt 9,9–17). Die Anfrage des Täufers ist deshalb berechtigt, weil Jesus die auf ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht.

Der Text beinhaltet eine konfessorische (Jesus ist der Messias und als solcher von Gott legitimiert) und eine kognitive Dimension, wobei letztere das erwartete Bekenntnis plausibilisieren soll. Der Evangelist will insbesondere seinen jüdischen Zeitgenossen Gründe dafür geben, dass das Bekenntnis zu Jesus als Messias und Sohn Gottes (Mt 16,16) „gerechtfertigt“ ist (vgl. 11,19, wo „die Werke“ der Weisheit eine inclusio mit den „Werken des Messias“ in 11,2 bilden); in diesem Sinn bleibt der erste Evangelist ein Evangelist für sein Volk. Die zweifelnde Anfrage des Täufers (11,3) ebenso wie die Frage der Pharisäer nach den legitimierenden Zeichen (16,1) werden nicht einfach abgewiesen, wie auch die Jüngerfrage nach dem Zeichen der Endzeit (24,3) nicht einfach abgewiesen wird. Denn Glaube bzw. Nachfolge ist für Matthäus weder grundloses, blindes Vertrauen noch ein metahistorisches Widerfahrnis senkrecht von oben, sondern Antwort und Entsprechung auf das Reden und Wirken Jesu, d.h. Antwort auf ein geschichtliches Geschehen, das verstanden werden kann, wenn es in Entsprechung und Fortsetzung von Gottes bisheriger Geschichte mit Israel (die atl. Bezüge und Zitate, der Verweis auf Elia) wahrgenommen wird (auch wenn Mt Zweifel bis zum Schluss erlaubt, vgl. 28,17).

Literatur

  • Zu den „Werken des Messias“: Karl-Wilhelm Niebuhr, Die Werke des eschatologischen Freudenboten. 4Q521 und die Jesusüberlieferung, in: ders., Tora und Weisheit. Studien zur frühjüdischen Literatur, WUNT 466, Tübingen 2021, 349–357 (vgl. im selben Band auch den Beitrag: Ein eschatologischer Psalm – 4Q521,2 II, a.a.O. 327–347) • Thomas Pola, Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6 par.) vor dem Hintergrunde der alttestamentlichen und frühjüdischen Traditionsgeschichte, in: Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus, hg. v. A. Baum, D. Häusser u. E. L. Rehfeld, WUNT II/425, Tübingen 2016, 9–47 [sehr anspruchsvoller Beitrag aus einer gesamtbiblischen Perspektive] • Hanna Stettler, Die Bedeutung der Täuferanfrage in Matthäus 11,2–6 par Lk 7,18–23 für die Christologie, Bib. 89 (2008), 173–200.
  • Zum Schilfrohr-Vergleich: Gerd Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Freiburg (CH)/Göttingen 1989, 25–44.
  • Zu Johannes und Elia: Ulrich B. Müller, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu, BG 6, Leipzig 2002; Markus Öhler, Elija und Elischa, in: ders. (Hg.), Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testament, Darmstadt 1999, 184–203.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese hat mein Verständnis dieser Perikope in mehrfacher Hinsicht vertieft. Die Episode selbst ist mir schon seit vielen Jahren lieb, weil sie mir Johannes den Täufer als Zweifler präsentiert, als jemanden der unsicher ist, was die Bedeutung Jesu angeht. 

Völlig neu war mir in diesem Zusammenhang aber zum einen, dass die skeptische Frage des Täufers „Bist du es?“ auch einen Wendepunkt innerhalb der Geschichte Jesu ankündigt.

Zum anderen war mir bis bislang auch noch nicht in aller Deutlichkeit bewusst, dass Matthäus selbst (obwohl er skeptischen Haltungen gegenüber Jesus Raum gibt, nicht nur hier sondern bis zum Ende seines Evangeliums) keinerlei Zweifel an Jesu Messianität aufkommen lässt. Roland Deines nennt die entsprechenden Argumente, etwa dass schon Vers 3 pointiert von den „Werken des Messias“ spricht oder dass Matthäus auf subtile Weise die göttliche Urheberschaft der Taten Jesu deutlich macht.

2. Thematische Fokussierung

Seinem exegetischen Gehalt nach könnte der Predigttext aus meiner Sicht auf drei verschiedene Weisen zum Ausgangsszenario einer Predigt am Dritten Advent werden:

Eine Möglichkeit besteht darin, die Predigt von der Beobachtung aus zu entwickeln, dass in der Geschichte mindestens drei unabgeschlossene Situationen zum Tragen kommen:

  • Johannes sitzt im Gefängnis. Dort verbüßt er keine Strafe (denn dazu waren – wie Roland Deines klarstellt – Gefängnisse in der Antike nicht da), sondern wartet auf sein Urteil.
  • Johannes denkt (wohl nicht zufällig) im Gefängnis über Jesus nach und damit auch, obwohl das nicht explizit gesagt wird, über sich selbst und seinen eigenen Platz in der Geschichte. Was sagt es über Johannes, wenn Jesus der „Erwartete“ ist, obwohl er anders auftritt und agiert als von Johannes angekündigt? Es bleibt offen (und zwar bis zum Ende des Evangeliums), wie Johannes diese Fragen für sich beantworten wird. Was aber nicht offen bleibt: Welche Rolle der Evangelist dem Täufer (vermittelt durch die Rede Jesu) im Heilsgeschehen zuspricht. Für ihn ist der Täufer ganz eindeutig der Wegbereiter des Messias Jesus.
  • Schließlich befindet sich auch Jesus selbst an dieser Stelle der mt Erzählung an einer Art Scheideweg. Er hat im Volk durch Wort (Mt 5–7) und Tat (Mt 8–9) für seine Botschaft vom nahe gekommenen Himmelreich geworben. Nun steht die Entscheidung an, wie sich Israel zu ihm stellt.

Die dreifache Unabgeschlossenheit, die in der Perikope zum Tragen kommt, bietet vielfache Möglichkeiten, an die Lebenswelt der Predigthörer:innen anzuknüpfen, angefangen von persönlichen Lebenssituationen (gesundheitlich, familiär oder beruflich) bis hin zu aktuellen Weichenstellungen, was bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen angeht (Asylpolitik, gesellschaftliche Teilhabe usw.). In der Predigt wäre Raum, solchen Konstellationen unter Rückgriff auf Mt 11,2-10 differenziert nachzugehen. Zweifel und Ängste könnten eine Rolle spielen; die Frage, was Menschen in Krisen hält und trägt; die Einsicht, dass Überzeugungen (auch Glaubensüberzeugungen) immer wieder auf den Prüfstand zu stellen sind. Aber auch die Erfahrung von Verheißung und Heil gegenläufig zu allen Zweifeln und Unsicherheiten wäre zur Sprache zu bringen, wie sie nicht nur bereits in Mt 11,2-10, sondern auch in anderen Texten des Dritten Advent (alttestamentliche Lesung, Evangelium) zum Tragen kommt.

Eine von Anfang an stärker theologisch fokussiert Predigt könnte bei den Zweifeln des Täufers an der Messianität Jesu ansetzen. Denn der Täufer bietet sich ja als Identifikationsfigur an, um die weit verbreitete Skepsis gegenüber einer theologisch gehaltvollen Deutung Jesu aufzugreifen. Die berechtigten neuzeitlichen Einwände gegen die traditionelle dogmatische Gestalt der Christologie, aber auch aktuelle strukturelle Missstände in den kirchlichen Institutionen hätten hier ihren Platz. Mit der Geschichte wäre dann neu nach einem (auch für die Gegenwart) tragfähigen Zugang zur heilsgeschichtlichen Bedeutung Jesu Christi zu suchen. In diesem Zuge könnte auch das Verhältnis zwischen Jesus und der Institution Kirche zu klären sein: Auf einen anderen Christus müssen wir nicht warten, auf eine andere Kirche schon bzw. immer von neuem darauf hinwirken, die Institution Kirche „christusnäher“ zu gestalten.

Drittens könnte die Predigt auch die Person des Täufers ins Zentrum stellen, der durch den neuen Zuschnitt der Perikope im Zuge der Perikopenreform viel stärker im Blick ist als zuvor. Über die schon genannten Aspekte hinaus ließe sich hier auch die asketische, unangepasste und konsequente Lebens- und Glaubenshaltung des Täufers (die im zweiten Teil des Predigttextes eine Würdigung erfährt) bedenken. Ich stelle mir vor, dass man sie in ein interessantes, wenn auch spannungsreiches Gespräch mit den Anliegen, Lebensweisen und Aktionen von Aktivist:innen bringen könnte, die sich gegenwärtig mit radikalen Mitteln für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen (z.B. im Klimaschutz).

3. Theologische Aktualisierung

Fragt man, welche Ansätze die Perikope für eine aktuelle Christologie bietet, springt vor allem Jesu Antwort an Johannes ins Auge. Jesus verweist Johannes auf das, was es von ihm zu „hören und zu sehen“ gibt. Darin steckt für mich der Impuls, zu fragen, was mir oder anderen Menschen heute helfen könnte, der besonderen Bedeutung Jesu Christi auf die Spur zu kommen. Wo müsste ich heute hinsehen, um der „Werke des Messias“ ansichtig zu werden und die Kraft und Heilsamkeit seiner besonderen Gottesbeziehung zu erfahren? Wo wird heute Armen das Evangelium gepredigt? Wo lässt der christliche Glaube heute Menschen wieder auf(er)stehen?

4. Bezug zum Kirchenjahr

Schaut man auf die Rolle des Predigttextes im Gesamtensemble des Gottesdienstes, sticht vor allem ins Auge, dass die für die Perikope so zentrale Gestalt des Täufers auch noch an anderen Stellen des Propriums eine Rolle spielt, vor allem im Lobgesang des Zacharias (optionaler Psalm und Evangelium), im Wochenlied „Mit Ernst o Menschenkinder“ (EG 10) und in der alttestamentlichen Lesung des Dritten Advent (Jes 40,1-11), also dem Text, den alle Evangelien von Anfang an mit der Gestalt des Täufers in Beziehung setzen.

5. Anregungen

Was passiert, nachdem die Johannesjünger losgezogen sind, um Jesu Auftrag „Geht hin. Seht und hört!“ auszuführen? Was hören und sehen die Johannesjünger von den Menschen, mit denen Jesus in Mt 8-9 zu tun hatte (dem Hauptmann von Kapernaum, der blutflüssigen Frau, der Mutter des auferweckten Mädchens)?

Ein anderer Impuls:  Verlegen Sie die Geschichte gedanklich in die Gegenwart und schlüpfen sie in die Rolle eines Johannesjüngers. Wo würden Sie suchen, um der „Werke des Messias“ ansichtig zu werden? Was würden Sie Johannes erzählen, das eine Antwort auf seine Frage an Jesus sein könnte: Bist Du es, der da kommen soll oder sollen wir auf einen anderen warten?

Autoren

  • Prof. Dr. Roland Deines (Einführung und Exegese)
  • Dr. Kathrin Mette (Praktisch-theologische Resonanzen)

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