Deutsche Bibelgesellschaft

Lukas 13,10-17 | 12. Sonntag nach Trinitatis | 18.08.2024

Einführung in das Lukasevangelium

1. Verfasser

Das dritte Evangelium ist das einzige, dessen Verfasser in der ersten Person Singular auf sich als Autor verweist (Lk 1,3), allerdings nennt er nicht seinen Namen, sondern nur den seines Adressaten Theophilus. Er ist kein Augenzeuge, sondern in seinem Zeugnis von solchen abhängig (Lk 1,2). Der erstmals in der inscriptio von P75 ca. ein Jahrhundert nach der Abfassung des Evangeliums genannte Name Lukas, der etwa zur gleichen Zeit auch bei Irenäus bezeugt wird (Adv Haer III,1,1), könnte fiktiv sein, wenngleich er sich im Unterschied zu ‚Matthäus‘ oder ‚Johannes‘ weniger für eine Fiktion nahelegt, da sich mit ihm keine unmittelbare apostolische Autorität reklamieren lässt. Der ebenfalls in das späte zweite Jahrhundert zu datierende Kanon Muratori identifiziert den Verfasser aufgrund der „Wir-Passagen“ in der Apostelgeschichte mit dem in Phlm 24 und 2 Tim 4,11 genannten Paulusbegleiter und dem in Kol 4,14 genannten Arzt Lukas. Bleibt letzteres unsicher, so gewinnt die Annahme, dass es sich um einen Paulusbegleiter handeln könnte, wieder an Zustimmung (vgl. Wolter 8). Wurde früher oft angenommen, dass er wegen fehlender Kenntnisse Palästinas, des Vermeidens semitischer Begriffe und seiner Zurückhaltung gegenüber der Sühnevorstellung Heidenchrist gewesen sein müsse (vgl. Fitzmyer 42-47), so wird heute aufgrund der genauen Kenntnis der griechischen Übersetzung des Alten Testaments sowie jüdischer Interna (Lehrdifferenzen zwischen Sadduzäern und Pharisäern), aber auch wegen seines Interesses an der Israelfrage häufig angenommen, dass er Jude war (vgl. Smith: Luke). Die Verbindung von biblischem und hellenistischem Denken, das Desinteresse an der Gesetzesfrage und die Rolle der „Gottesfürchtigen“ in der Apostelgeschichte machen es jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich, dass Lukas aus dem Kreis der „Gottesfürchtigen“ stammt, Sympathisanten der Synagoge, die wegen des Verlustes der gesellschaftlichen Beziehungen, den Beschneidung und das Einhalten der Reinheitsgebote nach sich zogen, den Übertritt zum Judentum nicht vollziehen wollten / konnten. Damit ließe sich die „doppelte kulturelle Identität des Verfassers“ am ungezwungensten erklären (Marguerat 33; Bovon I, 22); Lukas stünde „nicht nur theologisch, sondern auch biographisch zwischen Judentum und Hellenismus“ (Kraus 244).

2. Adressaten

Die Anrede an Theophilus als einen in der christlichen Überlieferung Unterwiesenen (Lk 1,4) zeigt, dass sich Lukas an Christen richtet. Aber sein Bemühen, als „Evangelist der Griechen“ (Wiefel 4) seine Botschaft in den kulturellen Kontext der griechisch-römischen Welt zu übersetzten, lässt vermuten, dass er sein Werk auch als eine zur werbenden Weitergabe an Nichtchristen geeignete Schrift angelegt hat. Paradigmatisch dokumentiert das die - zumindest in der vorliegenden Form von Lukas verfasste - Areopagrede (Apg 17, 22–32), das „Muster einer Missionsrede an Gebildete“ (Harnack 391).

3. Datierung

Die Datierung schwankt – von einer Frühdatierung um 60 n.Chr. bis weit ins 2. Jahrhundert hinein. Die deutliche Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger nimmt als frühesten Zeitpunkt die Zerstörung Jerusalems an, auf die das Evangelium zurückblickt (vgl. Lk 21,20–24 mit Mk 13,14–20; Lk 19,43f) und bestimmt den spätesten Zeitpunkt von der Apostelgeschichte her, deren Paulusbild gegenüber dem Paulus der Briefe hagiographisch überhöht ist. Da die relativ wohlwollende Darstellung der römischen Herrschaft nicht so recht in die Spätzeit Domitians mit dessen übersteigertem Herrscherkult seit Beginn der 90er Jahre passt (vgl. Johannesoffenbarung), Lukas die Sammlung der Paulusbriefe noch nicht zu kennen scheint und die Front gegenüber dem Judentum nicht so verhärtet ist wie bei Matthäus, wird das Doppelwerk meist zwischen 75 und 90 verortet. Ein nicht allzu spätes Abfassungsdatum legt sich auch nahe, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Lukas Begleiter des Paulus gewesen sein könnte.

4. Entstehungsort

Ungenaue Kenntnis der geographischen Verhältnisse Palästinas und abnehmendes Interesse an jüdischen Bräuchen machen eine Herkunft aus dem im jüdischen Stammland unwahrscheinlich; aufgrund diverser Angaben in der Apostelgeschichte werden vor allem Antiochia, Cäsarea, Rom und Philippi vermutet; keine Annahme konnte sich bislang überzeugend durchsetzen.

5. Theologisches Zentrum: Gott

In der längsten Zusammenfassung der Jesusvita außerhalb der Evangelien Apg 10,37-43 wird Jesus einmal genannt, Gott fünfmal. Diese Theozentrik ist Programm und bestimmt das ganze Doppelwerk, wie schon die Statistik zeigt: Das Appellativum θεός (das sich jeweils bis auf wenige Ausnahmen auf den biblischen Gott bezieht) findet sich bei Markus 48mal, bei Matthäus 51mal und bei Johannes 83mal, im lukanischen Doppelwerk aber 290mal (Evangelium 122, Apostelgeschichte 168); hinzu kommt der namensäquivalente Gebrauch von Gottesepitheta wie „Herr“, „Höchster“, „Mächtiger“, „Retter“ oder „Gebieter“. Zudem wird der göttliche Machtbereich entschiedener als in den anderen Evangelien als „heilig“ abgesetzt – das Adjektiv ἅγιος findet sich 7mal bei Markus, 10mal bei Matthäus und 5mal bei Johannes, im Doppelwerk aber 73mal. Zentrales Thema des Lukasevangeliums ist also Gott – der Gott, den Jesus von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater anruft. Die göttliche Vaterschaft ist nicht nur Zentrum seines Betens (Lk 11,2-4.11-13; 22,42), sondern auch seines Selbstverständnisses (Lk 10,21f), seiner Ethik (Lk 6,35f) und seiner Verkündigung (Lk 15,11-32). Dessen Barmherzigkeit, programmatisch in den Lobgesängen des Anfangs gepriesen (Lk 1,50.54.72.78), bestimmt Jesu Worte, Werke und sein Verhalten. Weil dieser Gott als „Akteur im Hintergrund“ (Schmidt) alles durch „den festgesetzten Willen und das Vorauswissen“ lenkt (Apg 2,23), ist auch in Jesu scheinbarem Scheitern nur das geschehen, „was seine Hand und Wille zuvor festgesetzt hat“ (Apg 4,28). Indem so Gottes „mitleidende Barmherzigkeit“ denen, die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen, den Morgenglanz seiner Ewigkeit aufstrahlen ließ (Lk 1,78f) wurde inmitten allen Unheils jenseits von Eden Heilsgeschichte möglich, wurde „die Tür zum schönen Paradeis“ wieder aufgeschlossen (EG 27,6 vgl. Lk 23,43).

6. Besonderheit: Die Hermeneutik der Doppelkodierung

Lukas entstammte der gebildeten Schicht der hellenistischen Welt. Entsprechend sein Bemühen, die christliche Botschaft als ein Angebot für Gebildete darzubieten, das sich in konzentrierter Form in der bereits erwähnten Areopagrede des Paulus zeigt, in deren semantischer Ambivalenz sich wie in einem Brennglas die lukanische Hermeneutik der Doppelkodierung spiegelt: Zum einen wird das christliche Zeugnis an die biblische Überlieferung zurückgebunden und in deren Licht gedeutet, zugleich aber profiliert Lukas seinen zweigeteilten „Bericht“ im ständigen Dialog mit den Bildungstraditionen seiner Zielgruppe in der hellenistischen Welt (vgl. M.Becker: Dion). So werden gerade die markanten Besonderheiten des Doppelwerks vom Magnifikat über die Weihnachtsgeschichte, die Kindheitsgeschichte, die Darstellung des Täufers, die Ethik einer imitatio Dei, die Tischreden bis hin zu den Passions- und Ostererzählungen so dargeboten, dass sie aus doppelter Perspektive plausibilisiert werden. So verweist die auf das Leiden und Sterben erfolgende Himmelfahrt auch terminologisch auf die frühjüdische Eliatradition (vgl. 2 Kön 2,9.10.11; Sir 48,9; 1 Makk 2,58), aber mit überraschender Deutlichkeit eben auch auf Herakles, der als „Retter (σωτήρ) der Erde und der Menschen“ (Dion or. 1,84) nach seinem Sterben, bei dem er den „Vater“ gebeten hat, seinen Geist zu sich aufzunehmen (vgl. Ps._Seneca: Hercules Oeteus 1695.1703f mit Lk 23,46), vom „allmächtigen Vater“ im „Vierrossegespann“ nach oben „entrafft“ und „unter die strahlenden Sterne versetzt“ (Ovid: Met. IX,271f), also vergöttlicht wurde. Diese Doppelkodierung reicht bis in das Gottesverständnis: So wird die Verbindung von Gott und Leben als Inbegriff der biblischen Gottesoffenbarung vom lukanischen Jesus deutlicher unterstrichen als in seinen Vorlagen (Lk 20,36.38 vgl. E.-M. Becker), zugleich aber betont der lukanische Paulus im Anschluss an die stoische Religionsphilosophie dieselbe Verbindung als Charakteristikum der paganen Gottesahnung (Apg 17,25.28), wobei er sogar zustimmend einen paganen Zeushymnus zitieren kann (Apg 17,28), zugleich aber die Religiosität der gebildeten ‚Heiden‘ durch Bezug auf die Auferstehung eingemeindet (Apg 17,31 vgl. 17,18).

Literatur:

  • Eve-Marie Becker: Wie Lukas über den ‚Gott der Lebenden‘ spricht und für den sachkundigen Leser Geschichte schreibt. Lk 20,27-40 par. Mk 12,18-27 im Vergleich; in: J.Dochhorn, R.Hirsch Luipold, I.Tanaseanu Döbler: Über Gott. FS Reinhard Feldmeier, Tübingen 2022, 207-222.
  • Matthias Becker: Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse, SCCB 3, Paderborn 2020.
  • F. Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/1-3, Neukirchen-Vluyn/Zürich 20193
  • Joseph Fitzmyer: The Gospel According to Luke I-IX: Introduction, Translation, and Notes (The Anchor Bible, Vol. 28).
  • Adolf von Harnack: Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 19244.
  • Wolfgang Kraus: Lukas: Urchristlicher Schriftsteller zwischen Judentum und Hellenismus, in: Christoph Barnbrock / Werner Klän (Hgg.): Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V.Stolle, ThFW 12, Münster 2005.
  • Daniel Marguerat: Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 2022.
  • Joshua Paul Smith: Luke Was Not A Christian: Reading the Third Gospel and Acts within Judaism; BIS 218, Leiden 2023.
  • Karl Matthias Schmidt: Akteur im Hintergrund. Anmerkungen zur Anwesenheit der Erzählfigur „Gott“ in der lukanischen Kindheitserzählung, in: Eisen, U. E. / Müller, I. (Hg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016, 295-320.
  • Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig 1988.
  • M. Wolter: Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008.

A) Exegese kompakt: Lukas 13,10-17

10Ἦν δὲ διδάσκων ἐν μιᾷ τῶν συναγωγῶν ἐν τοῖς σάββασιν. 11καὶ ἰδοὺ γυνὴ πνεῦμα ἔχουσα ἀσθενείας ἔτη δεκαοκτὼ καὶ ἦν συγκύπτουσα καὶ μὴ δυναμένη ἀνακύψαι εἰς τὸ παντελές. 12ἰδὼν δὲ αὐτὴν ὁ Ἰησοῦς προσεφώνησεν καὶ εἶπεν αὐτῇ· γύναι, ἀπολέλυσαι τῆς ἀσθενείας σου, 13καὶ ἐπέθηκεν αὐτῇ τὰς χεῖρας· καὶ παραχρῆμα ἀνωρθώθη καὶ ἐδόξαζεν τὸν θεόν. 14Ἀποκριθεὶς δὲ ὁ ἀρχισυνάγωγος, ἀγανακτῶν ὅτι τῷ σαββάτῳ ἐθεράπευσεν ὁ Ἰησοῦς, ἔλεγεν τῷ ὄχλῳ ὅτι ἓξ ἡμέραι εἰσὶν ἐν αἷς δεῖ ἐργάζεσθαι· ἐν αὐταῖς οὖν ἐρχόμενοι θεραπεύεσθε καὶ μὴ τῇ ἡμέρᾳ τοῦ σαββάτου. 15ἀπεκρίθη δὲ αὐτῷ ὁ κύριος καὶ εἶπεν· ὑποκριταί, ἕκαστος ὑμῶν τῷ σαββάτῳ οὐ λύει τὸν βοῦν αὐτοῦ ἢ τὸν ὄνον ἀπὸ τῆς φάτνης καὶ ἀπαγαγὼν ποτίζει; 16ταύτην δὲ θυγατέρα Ἀβραὰμ οὖσαν, ἣν ἔδησεν ὁ σατανᾶς ἰδοὺ δέκα καὶ ὀκτὼ ἔτη, οὐκ ἔδει λυθῆναι ἀπὸ τοῦ δεσμοῦ τούτου τῇ ἡμέρᾳ τοῦ σαββάτου; 17καὶ ταῦτα λέγοντος αὐτοῦ κατῃσχύνοντο πάντες οἱ ἀντικείμενοι αὐτῷ, καὶ πᾶς ὁ ὄχλος ἔχαιρεν ἐπὶ πᾶσιν τοῖς ἐνδόξοις τοῖς γινομένοις ὑπ’ αὐτοῦ.

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Übersetzung

10. Er lehrte aber an einem der Sabbate in den Synagogen 11. und siehe:

Eine Frau hatte achtzehn Jahre einen Krankheitsgeist

und war zusammengekrümmt und vermochte sich überhaupt nicht aufzurichten.

12. Als aber Jesus sie sah, rief er ihr zu und sprach zu ihr:

„Frau, du bist befreit von deiner Schwäche!“

13. Und er legte ihr die Hände auf.

Und sofort richtete sie sich auf und gab Gott die Ehre.

14. Der Synagogenvorsteher aber ergriff das Wort,

aufgebracht darüber, dass Jesus am Sabbat heilte,

und sagte zu der Volksmenge:

„Sechs Tage gibt es, an denen man arbeiten soll;

an diesen also kommt und lasst euch heilen und nicht am Sabbattag.“

15. Der Herr aber entgegnete ihm und sprach:

„[Ihr] Heuchler!

Bindet nicht jeder von euch am Sabbat sein Rind oder den Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke?

16. Diese aber, die eine Tochter Abrahams ist, welche der Satan gebunden hat

- und das achtzehn Jahre lang! -

musste sie nicht von dieser Fessel befreit werden, [gerade] am Sabbattag?“

17. Und als er dies sagte, wurden alle seine Widersacher beschämt;

und die ganze Volksmenge freute sich über alle herrlichen Taten,

die durch ihn geschahen.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Einzigartig im Neuen Testament und befremdlich ist die Rede vom „Krankheitsgeist“. Lukas, der wie kein anderer Evangelist den Heiligen Geist als die machtvolle Gegenwart Gottes in Jesus und dann in der Kirche bezeugt, macht mit der Verwendung desselben Begriffs πνεῦμα deutlich, dass hinter Krankheiten eine zerstörerische Macht steht, die hier als „Satan“ bezeichnet wird. So wie Gott und sein Geist aufs engste mit dem Leben verbunden sind und daher auch der Sabbat von Jesus von daher verstanden wird, so verkörpern der Satan / Teufel und die „unreinen / bösen Geister“ bzw. Dämonen lebensfeindliche Gegenmächte.

2. Literarische Gattung und Kontext

Vom Kontext her handelt es sich um eines der wenigen Wunder im Reisebericht: Nach der Zeit der großen Wunder, die im heimatlichen Galiläa die Macht der Gottesherrschaft zeigen, ist nun die Zeit der heimatlosen Wanderung zum Ort der Passion, bei der Jesus seine Nachfolgerinnen und Nachfolger durch seine Lehren, allen voran die berühmten Gleichnisse, auf die Zukunft nach seinem Weggang vorbereitet. Entsprechend steht auch in unserer Erzählung nicht das Wunder im Zentrum. Formgeschichtlich handelt es sich um eine Mischgattung aus Wunder und Streitgespräch, bei der das das Wunder dem Streitgespräch untergeordnet ist, indem es am Anfang den Anlass für die Auseinandersetzung liefert und am Ende die Autorität dessen bestätigt, der Gottes Herrschaft gegen die widergöttlichen Mächte in Wort und Wirken durchsetzt, was der Chorschluss in V.17 mit der Beschämung der Gegner und der Freude der Volksmenge noch unterstreicht.

3. Historische Einordnung

Als Bestandteil des Evangeliums, dass Gott in seinem Sohn endgültig die Macht des Bösen und des Todes gebrochen hat, sind Jesu Wunder Manifestationen der auch in der Leiblichkeit des Menschen anbrechenden Herrschaft Gottes (vgl. Apg 10,38). So sind sie nicht Mirakel der Vergangenheit, sondern Unterpfand der Hoffnung auf die Vollendung der Schöpfung. Entsprechend finden sich bei Jesus (anders als in der Magie) keine Straf- und Schadenswunder; vielmehr geht es um die Einheit von Heil und Heilung. Dass der historische Jesus über außerordentliche Heilungskräfte verfügte und damit Dinge vollbringen konnte, die als Wunder erscheinen, sollte man nicht bestreiten. Andernfalls wäre überhaupt nicht verständlich, wo die Fülle von Heilungserzählungen herkommen soll – von keiner Gestalt der Antike gibt es so viele wie von Jesus. Allerdings zeigt schon der synoptische Vergleich, dass die Wunder gesteigert und legendarisch übermalt werden konnten.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Jesu lehrt zum letzten Mal am Sabbat in einer Synagoge und begegnet dort einer Frau, die seit 18 Jahren an einem gekrümmten Rücken leidet. Wie öfters stellt er durch Berührung einen körperlichen Kontakt zu der Kranken her und spricht ihr zugleich (im resultativen Perfekt) die Heilung zu, worauf sie sich aufrichtet. Ihre Reaktion ist bezeichnenderweise nicht die Bewunderung des Wundertäters, sondern der Preis Gottes, den sie in Jesu Handeln erfahren hat (vgl. Lk 7,16 u.ö.). Der Synagogenvorsteher dagegen verurteilt Jesu Tat als Bruch des Sabbatgebotes, also im Namen des Gottes, den die Geheilte eben gepriesen hat. Als Kyrios, als der in Gottes Namen auftretende „Herr“, weist Jesus die Anklage zurück: Als Fluchtpunkt des göttlichen Schöpfungswerks (Gen 2,1-3) entspricht es dessen Intention, das Leben der Geschöpfe zu bewahren und zu fördern, der Sabbat ist der Tag des Lebens. Wer dem entspricht, gibt Gott in Wahrheit die Ehre, wie der Lobpreis der Frau in V.13 und die Freude des Volkes in V.17 zeigen. Daher richtet sich Jesus hier gegen eine Interpretation des dritten Gebots, die an diesem Tag (durchaus zu Recht) die Bedürfnisse des Viehs berücksichtigt, aber einer Kranken die Heilung verweigern möchte.

Bezeichnend für die dramatische Theologie des Lukas ist die Deutung der Heilung als Befreiung aus der Unterdrückung durch den Satan (vgl. Apg 10,38), die auch am Sabbat geboten ist, wie Jesus hier noch durch das göttliche „musste“ (ἔδει) unterstreicht, das er dem „muss“ (δεῖ) des Synagogenvorstehers entgegenstellt. Wenn sich die Volksmenge daraufhin über „alle herrlichen Taten“ freut, so verwendet Lukas hier ebenso wie beim Lobpreis der Geheilten ein Wort, das von δόξα abgeleitet ist und im biblischen Griechisch und so auch bei Lukas für die Herrlichkeit Gottes steht (vgl. Lk 2,9.14; 9,26.31f u.ö.), die hier bei der Befreiung aus dem Machtbereich des Bösen durch Jesus erfahrbaren wird.

5. Theologische Perspektivierung

Eine explizit dämonologische Interpretation von Krankheiten findet sich in unseren Breiten nur noch in sprachlichen Restbeständen (‚Hexenschuss‘). Aber auch uns wird zunehmend bewusst, dass Krankheiten mehr sind als nur körperliche Defekte. Dieser Zusammenhang von Heil und Heilung wird in der Begegnung mit Jesus Wirklichkeit, weil er im Gegensatz zu seinen Widersachern das Sabbatgebot von Gottes Lebenswillen her deutet. Seine Sabbatheilung will also nicht das dritte Gebot abschaffen (etwa zugunsten der Sonntagsarbeit), sondern dessen ursprünglicher Intention gerecht werden. Weil der Gott der Lebendigen nicht für Zwang steht, sondern für Befreiung, deshalb richtet sich Jesus gegen jede Vereinnahmung des Religiösen durch Autoritäten, die zwar die eigenen Interessen wahren, solches aber anderen verweigern (vgl. den Vorwurf der Heuchelei in V.15).

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Schon wieder ein Wunder! Nach all den Heilungen und Wandlungen in den Lesungstexten, die an diesem Sonntag Gehör finden werden (Jes 29,17-24; Apg 9,1-20; Mk 7,31-37), reiht sich das Heilungswunder vermeintlich nahtlos ein. Doch die Exegese des Textes hilft, den Blick zu weiten und die Wunderhandlung im Kontext des Streitgesprächs zur Sabbatruhe als Heilsanbruch zu identifizieren, dem zu jeder Zeit – auch und gerade am lebensbejahenden Sabbat – nicht anders als mit offenen Armen begegnet werden kann und soll.

Die explizite Rede von Krankheit als Satanswerk markiert den Heilsanbruch durch Jesu Wunderheilung umso deutlicher. Die lebensverneinende Gegenmacht wird gebrochen und alle Helfershelfer der Gegenmacht als Heuchler entlarvt. Also doch alles andere als „schon wieder ein Wunder“.

2. Thematische Fokussierung

Mein Blick bleibt an demjenigen hängen, der eigentlich alles richtig macht – dem Synagogenvorsteher. Er kennt die Gebote und weiß sie anzuwenden, ist geradlinig und eloquent, dabei keineswegs hartherzig. Morgen darf die arme Frau sich gerne heilen lassen. Aber nicht heute! Heute ist der siebte Tag, und am siebten Tag ruhte Gott. Und wir ruhen ihm zur Ehre!

Der Vorwurf, ein Heuchler zu sein, muss ihn direkt in die Magengrube getroffen haben. Der Gegensatz zwischen Abrahamsbund und Satansbund (V.16) ebenso. Auf welcher Seite findet er selbst sich wieder? Steht er nicht mit beiden Beinen im altbewährten, gottgegebenen Gesetz? Wie kann das falsch sein?

Die Abrahamstochter gibt Gott die Ehre (V. 13). Sie erkennt, dass von Gott her etwas Neues anfängt – in diesem Augenblick.

Er selbst hat es nicht gesehen, nicht erkannt. Das wiederum zu erkennen, tut weh und beschämt. Von einem Moment zum anderen ist er zum „Widersacher“ (V.17) geworden.

3. Theologische Aktualisierung

Regeln sind da, um zu schützen und zu bewahren. Per Definition dienen sie nicht dem Selbstzweck! Sofort fallen mir allerdings dutzende Gegenbeispiele ein, die mich wahlweise schmunzeln oder verzweifeln lassen.

Mein Blick bleibt an der Institution Kirche hängen, die eigentlich alles richtig macht. Sie kennt die Gebote und weiß sie anzuwenden, ist geradlinig und eloquent, dabei keineswegs hartherzig. Sie handelt zu Gottes Ehre. Meistens.

Erkennt sie auch, wenn von Gott her etwas Neues anfängt – in diesem Augenblick?

Vor ca. 20 Jahren waren W.W.J.D.-Armbänder in der christlichen Jugendarbeit beliebt. Ich hatte auch eins. Der Slogan „What would Jesus do?“ gab Orientierung und Gemeinschaftsgefühl. Diese Armbänder gibt es noch. Jederzeit lieferbar. Die Perikope reizt mich, eine Großbestellung zu tätigen.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der 12. Sonntag nach Trinitatis inmitten der „festfreien“ Sommerzeit ist geprägt von Wunder- und Wandlungstexten. Die Heilung eines Tauben (Mk 7,31-37), die Bekehrung des Saulus (Apg 9,1-20) und die große Wandlungsverheißung (Jes 29,17-24) schließen einen Bogen zum Wochenspruch aus Jes 42,3: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Das Wochenlied EG 289 „Nun lob, mein Seel, den Herren“ preist Gott für die bereits angeklungene Sündenvergebung und Heilung. Die Perikope Lk 13, 10-17 setzt durch die in Jesu Gegenwart eintretende Übereinstimmung von Heilung und Heil und den deutlichen Verweis auf die ursprüngliche Intention des Sabbats als Tag des Lebens einen neuen Akzent, der sich m.E. gut in Liedern wie EG 66 „Jesus ist kommen“ oder LW 33 „Wir strecken uns nach dir“ wiederfinden lässt.

5. Anregungen

„Oh nein, heute ist ja Sonntag. Da dürfen wir nicht Fussballspielen!“ Mit diesen Worten weckt mich mein kleiner Sohn am Sonntagmorgen und setzt sich auf meine Bettdecke. Ich brauche einen Moment, bis die Worte bei mir ankommen. Ich richte mich auf und sehe ihn traurig vor mir. „Mag Gott das nicht? Fussballspielen?“ fragt er. „Wie kommst du denn darauf?“ frage ich verschlafen und stelle den Wecker aus, der fünf Minuten später geklingelt hätte. Ich bin heute dran mit dem Gottesdienst und will die Predigt noch mal durchgehen.

„Die Nachbarin hat gesagt: Nicht kicken am Sonntag! Das ist ein Feiertag! Das macht man da nicht! Frag die Mama, die weiß das, hat sie gesagt“. Während mein Sohn mich mit großen Augen ansieht, steigt Ärger in mir auf. So so, die Mama weiß das. Pastorinnen wissen also, weshalb Kinder am Sonntag nicht kicken dürfen.

Als ich nach dem Gottesdienst nach Hause komme, nehme ich mir den Ball und schieße mehrere Male mit Schwung aufs Tor. Aus dem Nachbargarten ruft es herüber: „Heute ist Sonntag!“ Ich rufe zurück: „Ich habe Gott heute schon die Ehre gegeben. Sie auch?“

Mein Sohn winkt mir aus dem Fenster und grinst sein schönstes Zahnlückengrinsen. Heute hat er Zeit. Keine Verpflichtungen. Heute ist Sonntag! Zeit zum Denken und Danken, zum Loben und Lachen, zum Sortieren und Spielen.

Danach Lesung des Predigttextes.

Autoren

  • Prof. Dr. Reinhard Feldmeier (Einführung und Exegese)
  • Angelika Ohlemacher (Praktisch-theologische Resonanzen)

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