Sprüche 8,22-36 | Jubilate | 11.05.2025
Einführung in das Sprüchebuch
Das Sprüchebuch
Die Gottesfurcht wird ganz zu Beginn im Prolog des Sprüchebuches genannt (Spr 1,7) und auf die Gebote wird in verschiedenen Kapiteln angespielt (vor allem Spr 6,20–35 und 30). Allerdings rückt die theologische Dimension der Weisheit im Sprüchebuch erst nach und nach in den Vordergrund. Sie ist letztlich Teil eines gelehrten Diskurses über unterschiedliche Weisheitskonzepte, die von einer allgemeinen Erfahrungsweisheit bis zur Vorstellung einer personifizierten, fast göttlichen Weisheit reichen. Letztere ist in dem großen Gedicht über die personifizierte Weisheit in Spr 8 zu finden, das „Frau Weisheit“ als erstes Schöpfungswerk so dicht an Gott heranrückt wie sonst niemand anderen im Alten Testament. Erfahrungsweisheit hingegen findet sich in Spr 10,1–22,16
Die Folge dieser grundlegenden Erkenntnis ist biblisch gesprochen eine Haltung der Gottesfurcht. Das Motto des Sprüchebuches in Spr 1,7, demzufolge aller Anfang weisheitlichen Lernens und Lehrens die Gottesfurcht ist, verweist darauf, dass auch noch so gelehrte Spekulationen über den Menschen in seinen Lebenszusammenhängen nicht dazu verhelfen können, das Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Gott zu erfassen. Etwas pointiert formuliert könnte man sagen, dass die Beschäftigung mit der Philosophie – denn nichts anderes findet sich im Sprüchebuch – zur Theologie führt: Was ist der Mensch, wenn man ihn im Kontext von Mitmensch, Welt und Gott betrachtet?
Während die ältere Weisheit meint, den Lebensbereich des Menschen allein von allgemeinem Erfahrungswissen her bestimmen zu können, arbeiten sich die Gelehrten der jüngeren Weisheit an großen Themen ab, wie beispielsweise dem Verhältnis von Weisheit und Gottes Gesetz
Literatur:
- Schipper, B.U., 2021, Hermeneutik der Tora. Studien zur Traditionsgeschichte von Prov 2 und zur Komposition von Prov 1–9 (BZAW 432), Berlin.
- Scoralick, R., 2006, Art. Sprüche Salomos, in: WiBiLex https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/sprueche-salomos
[abgerufen: 7. August 2024]. - Weeks, S., 2007, Instruction and Imaginary in Proverbs 1–9, Oxford.
- Witte, M., 2019, Das Sprüchebuch (Die Sprüche Salomos/Proverbien), in: J.C. Gertz u.a., Grundinformation Altes Testament. 6. Auflage, Göttingen, 445–458.
Kommentare
- O’Dowd, R., 2017, Proverbs (The Story of God Bible Commentary), Grand Rapids/MI.
- Meinhold, A., 1991, Die Sprüche (ZBK 16/1-2), Zürich.
- Sæbø, M., 2012, Sprüche (ATD 16/1), Göttingen.
- Schipper, B.U., 2018, Sprüche (Proverbia) 1–15 (BK.AT XVII/1), Neukirchen-Vluyn.
A) Exegese kompakt: Sprüche 8,22–36
Was tun, wenn Gott fern ist? – Frau Weisheit zwischen Gott und Mensch
Übersetzung
22 JHWH hat mich erschaffen am Anfang seines Weges,
am Anbruch seiner Werke, voreinst.
23 Von uralters her wurde ich gewobena,
am Anfang, von Urzeiten der Erde.
24 Als es noch keine Urfluten gab, wurde ich hervorgebracht
als es noch keine Quellen, schwera von Wasser, gab.
25 Bevor die Berge eingesenkt wurden,
vor den Hügeln wurde ich hervorgebracht.
26 Als er noch nicht gemacht hatte Land und Ackerfluren,
und die ersten Erdkrumen des Festlandes.
27 Als er den Himmel bestimmte, war ich da,
als er den Horizont auf der Oberfläche der Urflut einritzte.
28 Als er festigte die Wolken von oben,
als stark wurdena die Quellen der Urflut.
29 Als er dem Meer seine Grenze setzte, so dass die Wasser seinen Befehl nicht übertreten.
Als er einritzte die Grundfesten der Erde.
30 Da war ich beständiga neben ihm,
und ich war Entzücken Tag für Tag,
frohlockend vor ihm die ganze Zeit;
31 frohlockend auf dem Festland seiner Erde,
und mein Entzücken war bei den Menschen.
32 Und nun, Söhne, hört auf mich!
Glücklich diejenigen, die meine Wege bewahren!a
33 Hört die Zucht und werdet weise
und lasst (sie) nicht unbeachtet!
34 Glücklich der Mensch, der auf mich hört,
indema er an meinen Türen Tag für Tag wacht,
indem er die Türpfosten meiner Eingänge behütet!
35 Denn awer mich findeta, hat Leben gefunden,
und hat Wohlgefallen erlangt von JHWH.
36 Wer mich aber verfehlt, ist einer, der sich selbst gewalttätig behandelt; alle, die mich hassen, lieben den Tod.
1. Textanmerkungen
23a Die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, ändert das Verb vom Passiv ins Aktiv und liest ἐθεμελίωσέν με („hat mich befestigt“). Diese Änderung entspricht dem inhaltlichen Anliegen der Septuaginta, die Rolle der Weisheit bei der Schöpfung aktiver darzustellen. Luther übersetzt noch freier, was sich in der revidierten Lutherbibel 2017 zeigt.
24a Die Septuaginta liest πρὸ τοῦ προελθεῖν τὰς πηγὰς τῶν ὑδάτων („bevor die Quellen der Wasser hervorgingen“).
28a Bleibt man beim Masoretischen Text, so ergibt sich ein inhaltlich interessanter Subjektwechsel (die „Quellen der Urflut“ sind in Versteil b Subjekt). Die Septuaginta gleicht hingegen die zweite an die erste Vershälfte an und liest καὶ ὡς ἀσφαλεῖς ἐτίθει („und als er festmachte“).
32a Die Septuaginta hat V. 32b zwischen die zwei Vershälften von V. 34 gestellt.
34a Die Infinitivkonstruktion kann mit „indem“ übersetzt werden
35a–a Der hebräische Text zeigt eine Variante (Qere und Ketib). Ich folge der Version mit der Singularform (Qere) und nicht der mit dem Plural (Ketib; „die mich finden“), da erstere besser passt und auch von den antiken Übersetzungen bezeugt wird.
2. Kontexte / Abgrenzung
Innerhalb des gelehrten Diskurses im Sprüchebuch über Möglichkeiten und Grenzen einer weisheitlichen Weltsicht kommt dem Hymnus auf die personifizierte Weisheit in Spr 8 eine besondere Bedeutung zu. Es ist der einzige Text im Alten Testament, bei dem womöglich eine ägyptische Gottheit Pate gestanden hat. Vermutlich handelt es sich dabei um die Göttin Isis
- 1.die Ich-Rede (Spr 8,4),
- 2.die Botschaft an alle Menschen (Spr 8,4–5),
- 3.die Bedeutung von Recht und Gesetz (Spr 8,8.15),
- 4.der Vergleich mit Silber und Gold (Spr 8,19) und die Verbindung mit der Wahrheit (Spr 8,7).
Insofern spricht einiges dafür, in Spr 8 nicht nur eine alttestamentliche Stimme zu sehen, sondern in der personifizierten Weisheit auch Anklänge an eine Göttin zu finden, die im perserzeitlichen und griechischen Ägypten von besonderer Bedeutung war. Vielleicht hat gerade dieser Bezug dazu geführt, dass das Gedicht über „Frau Weisheit“ so anders ist als die anderen Passagen des Sprüchebuches.
Spr 8 kann grob in zwei Teile untergliedert werden, von denen sich der zweite in vier Abschnitte aufspaltet. V. 1–3 bildet die Einleitung (Teil 1) und V. 4–36 die Rede der Weisheit (Teil 2). Diese weist eine kunstvoll komponierte Gesamtstruktur auf, welche aus vier Abschnitten besteht:
- In Abschnitt A (V. 4–11) werden die Adressaten direkt angesprochen (V. 4: „euch, Menschen“),
- Abschnitt B (V. 12–21) enthält die Selbstvorstellung von „Frau Weisheit“ (V. 12: „Ich, die Weisheit“),
- Abschnitt C (V. 22–31) thematisiert die Schöpfung (V. 22: „JHWH hat mich erschaffen“) und
- Abschnitt D (V. 32–36) bündelt abschließend die Aussage (V. 32: „Und nun, Söhne, hört auf mich!“).
Auch wenn die vier Abschnitte unterschiedliche inhaltliche Akzente setzen, geht es doch in allen um die personifizierte Weisheit und um das, was sie zu leisten vermag:
Zu Beginn (V. 4–11) wird „Frau Weisheit“ als Weisheitslehrerin für alle Menschen vorgestellt, darauf folgen Aussagen zu den Qualitäten, die „Frau Weisheit“ in sich vereint (V. 12–21) und zu ihrer besondere Stellung gegenüber Gott und Mensch liegt (V. 22–31), um abschließend ein Fazit zu ziehen (V. 32–36), das eine klare Alternative beschreibt: Wer die personifizierte Weisheit sucht, wird leben, wer sich hingegen von ihrer Botschaft nicht ansprechen lässt, wird sterben (V. 35–36).
Die für heutige Leser:innen befremdliche Aussage in V. 35–36 speist sich aus zwei Sachverhalten. Zum einen bedeutet „leben“ oder „sterben“ in der Welt der Weisheit nicht etwa, dass ein Mensch unmittelbar vom Blitz getroffen würde, sondern vielmehr, dass die Person bereits im Leben den Kräften des Todes anheimfällt. Ein Mensch kann leben, aber vom Tod umfangen sein, da er oder sie ihr Leben verfehlt. Insofern will die Aussage in V. 35 verdeutlichen, dass nur derjenige, der die Weisheit gefunden hat, Leben findet, d.h. ein Leben führt, das gelingt und über dem der Segen Gottes liegt.
Der zweite Sachverhalt, der bei Spr 8 zu bedenken ist, betrifft den Adressatenkreis. Die personifizierte Weisheit kann so exklusiv formulieren, da sie sich an den größtmöglichen Adressatenkreis wendet, der im Sprüchebuch denkbar ist. Sie spricht schlichtweg „alle“ an. Diese Besonderheit des Gedichts über „Frau Weisheit“ wird deutlich, wenn man es in den Kontext der Lehrreden von Spr 1–7
3. Aufbau und Traditionsgeschichte
Im Gesamtaufbau von Spr 8 nimmt der dritte Abschnitt (8,22–31) eine Sonderstellung ein. Er unterscheidet sich sprachlich und inhaltlich von den beiden vorausgehenden (8,4–11 und 8,12–21), so dass manche Ausleger vermuteten, der Abschnitt sei erst nachträglich dem Kapitel hinzugefügt worden. Spr 8,22–31 ist jedoch ein genuiner Bestandteil des Gedichts über die personifizierte Weisheit, der in 8,32–36 sinnvoll fortgeführt wird.
Der Abschnitt 8,22-31 weist vier formale Merkmale auf:
- 1.die viermalige Verwendung der Präposition „in“ in V. 22–23,
- 2.die Kette von Infinitivkonstruktionen in V. 27–31,
- 3.die zahlreichen Zeitbestimmungen in V. 22–26 und
- 4.die verschiedenen Schöpfungsverben in V. 22–29.
Bei letzteren fällt auf, dass in V. 22–25 lediglich die erste Verbalform aktivisch formuliert ist („JHWH hat mich erschaffen“, V. 22a), während alle anderen passivisch sind („ich wurde gewoben“, V. 23a; „ich wurde hervorgebracht“, V. 24a und 25a). Nimmt man die unterschiedlichen Zeitbestimmungen hinzu („voreinst“, „am Anfang“, „von den Urzeiten der Erde“, V. 22 und 23), dann ergibt sich folgende Struktur:
- 1.V. 22–23: Die Vorgeschöpflichkeit der personifizierten Weisheit, die von Gott geschaffen wurde
- 2.V. 24–26: Die Vorzeitigkeit der personifizierten Weisheit, die vor allen anderen Schöpfungswerken geboren wurde
- 3.V. 27–29b: Das Schöpfungshandeln JHWHs in Anwesenheit der personifizierten Weisheit
- 4.V. 29c–31: Die Weisheit als Mittlerin zwischen Schöpfer und Menschen
Die vier Abschnitte betonen unterschiedliche Aspekte von „Frau Weisheit“. Alle vier enthalten deutliche Anklänge an den sogenannten priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in 1. Mose 1,1–2,4a
4. Theologische Themen
Das Gedicht über die personifizierte Weisheit in Spr 8 formuliert einen geradezu unerhörten Anspruch. „Frau Weisheit“ wird als vorweltliche, urzeitliche Größe vorgestellt, die so dicht an Gott herangerückt ist, dass sie als die alleinige Vermittlungsinstanz erscheint, zu der sich der Mensch verhalten muss, will er vor Gott bestehen. Wie im Hiobbuch wird in Spr 8 Gott als von der Welt entfernt gedacht, wodurch gleichsam ein Raum zwischen Gott und Mensch entsteht, der gefüllt werden muss. Während in Hiob 33,23 ein Deuteengel diese Funktion wahrnimmt, spricht Spr 8 der personifizierten Weisheit diese Rolle zu. Sie erscheint wie ein Zwischenwesen, Gott untergeordnet, aber den Menschen und – durch den Bezug zu 1. Mose 1 – der Welt insgesamt übergeordnet. Gerade durch die Schöpfungsaussagen in Spr 8,22-31 wird „Frau Weisheit“ so dicht an Gott herangerückt, wie im Rahmen eines monotheistischen Weltbildes mit dem Glauben an den einen Gott überhaupt möglich. Bedenkt man, dass Spr 8 womöglich vor dem Hintergrund spätperserzeitlicher Hymnen als Loblied auf die Göttin Isis verfasst wurde, so wird deutlich, dass „Frau Weisheit“ hier fast wie eine Göttin porträtiert wird: deutlich über den Menschen stehend und gerade noch unterhalb von JHWH.
Im Kontext des Sprüchebuches ist genau dies wichtig, denn die Bestimmung der personifizierten Weisheit zwischen Gott und Welt führt dazu, dass sie mit einer Autorität spricht, die kein menschlicher Weisheitslehrer haben kann. Sie erscheint als die Quelle weisheitlichen Wissens und formuliert im Konzert der Weisheitskonzepte des Sprüchebuches eine Position, die gänzlich ohne Bezüge auf das göttliche Gesetz – die Tora – auskommt. Gerade dies lässt den Predigttext als eine Alternative zu traditionellen theologischen Ansätzen im Alten Testament erscheinen. Er formuliert die Idee einer weiblichen Weisheit, die gänzlich anders agiert als die männlichen Weisheitslehrer im Sprüchebuch. Sie präsentiert einen Zugang zu Gott, der ganz auf Vernunft, Weisheit und ein gelingendes Leben setzt. Dabei ist entscheidend, dass Gott als der Welt fern vorgestellt wird, was der Lebenserfahrung vieler Menschen heutzutage entspricht. Gerade weil Gott fern ist und eine Distanz zwischen Gott und Mensch besteht, bietet die Idee einer „Frau Weisheit“, die im Auftrag Gottes handelt, die uns nahekommt und lehrt, wie wir leben sollen, ein Gegenbild zu traditionellen theologischen Aussagen, das in einer Predigt über Spr 8,22–36 starkgemacht werden kann. Wer mag, kann auf die besondere Wirkungsgeschichte des Gedichts über „Frau Weisheit“ in Spr 8 hinweisen, die über Ps 19 und Ps 119 sowie Sirach 24 bis zum Prolog des Johannesevangeliums führt und von dort zur Aussage über Jesus Christus „gezeugt, nicht geschaffen“ (γεννηθέντα οὐ ποιηθέντα) des Konzils von Nizäa (325 n. Chr.).
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die Exegese macht darauf aufmerksam, dass der in Spr 8, 22-36 vorliegende Hymnus „Frau Weisheit“ als erstes Schöpfungswerk an Gott heranrückt. Die Perikope bringt innerhalb des Sprüchebuchs ein spezifisches Weisheitskonzept zur Sprache, das einer allgemeinen Erfahrungsweisheit gegenüber steht, die in anderen Kapiteln (Spr 10,1–22,16 und Spr 25–29) emergiert. Während diese z.T. in (anti-) thetischen Gesprächsformen auf Potential und Grenzen eines weisheitlichen Weltbildes hinweisen, thematisiert der Hymnus die Stellung der Weisheit im engen Geflecht von Welt und Gott. Die Weisheit ist nicht nur Gottes erstes Schöpfungswerk, sondern auch – gewissermaßen jenseits der Tora – Weisheitslehrerin. Dadurch wird dem Mensch, der mit ihr in Verbindung tritt, ein anderes Verhältnis zu Gott eröffnet. Das Sprüchebuch macht eine zunehmend theologische Dimension der Weisheit sichtbar, die sich schließlich auch dem Menschen in den Makarismen in V. 32b und V. 34 a übereignet.
2. Thematische Fokussierung
Insofern die personifizierte Weisheit einfach „alle“ anspricht, also auch die „Toren“ (V. 5) als „diejenigen, die nicht mehr unterwiesen werden können“ (Spr 13,16), ist zu fragen, in welchen Situationen sich aktuell ein Rekurs auf die „zeitlose Botschaft“ des Textes nahelegt. Vor dem Hintergrund der Friedens-Diskussionen könnten etwa mit den Toren jene Personen gemeint sein, die seit Beginn des Ukraine-Krieges z.T. auch unter Rekurs auf das Evangelium für einen mehr oder weniger ungerechten, da einseitigen Frieden der Ukraine mit Putin werben. – Nur, würde man damit nicht den Hörer:innenkreis unzulässig verengen? Würde man sich nicht – auch als Prediger:in – an die Stelle der Weisheit setzen? Es könnte diese Einsicht sein, auf die es dem Text ankommt, dass man seine eigenen Zugänge zu den von der Weisheit gewiesenen Wegen suchen muss. Ein derartiges Phänomen sehe ich im Umgang mit der AfD (und auch dem BSW). So ließen sich etwa deren Wählerinnen als „Toren“ ansprechen. Aber diese Gleichsetzung wäre in einer Predigt – anders als im politischen Kommentar – übergriffig. Die Suche nach der Aktualisierung der zeitlosen Botschaft der Weisheit führt auch in diesem Fall ins Frage stellen hinein: Wie verhält man sich als Christ gegenüber populistischen Parteien? Wie verhält man sich, wenn die Demokratie so wie wir sie kennen zu unterlaufen werden droht? Welche Verantwortung kann der oder die Einzelne für die Gesellschaft übernehmen?
Und noch ein zweiter Aspekt wird beim Nachdenken über die zeitlose Botschaft der Weisheit relevant: Setzt man mit dem Ende des Hymnus (V. 35.36) voraus, dass es schon jetzt, in dieser durch Gott geschaffenen und von der Weisheit mit getragenen Welt, um die Einschärfung der Erkenntnis geht, dass eine Person bereits im „Leben den Kräften des Todes anheimgefallen ist“, dann kann das, was selbst die Toren bewachen können, der Eingang zu einer von der Weisheit vermittelten Erkenntnis sein: Das Leben kann nur dann gelingen, wenn über dem Menschen der Segen Gottes liegt. Der Mensch aber, dem der Segen durch die Weisheit angeboten wird, muss sich zu dieser Offerte verhalten, indem er sich auf den ihm durch die Weisheit vermittelten Segen Gottes einlässt.
3. Theologische Aktualisierung
Indem der Text zwei Makarismen (V. 32b.34a) exponiert, in denen die Weisheit jene glücklich preist, die sich an ihren Wegen und an ihren Worten orientieren, öffnet sich seine Perspektive auf die von der Weisheit erzählte und als Hymnus vorgetragene Vorgeschichte. Die Weisheit nimmt den Menschen mit in ihre Erinnerungen hinein, indem sie ihm in anschaulichen, wunderbar plastischen, der Genesis entnommenen (Sprach-)Bildern vor Augen führt, was Gott seiner Schöpfung – durch ihre Vorgeschöpflichkeit, ihre Vorzeitigkeit, vor allem aber sein Schöpfungshandeln – an Wohltaten zukommen lässt. Die Weisheit wird zur Zeugin von Gottes schöpferischem Handeln, über das sie gleichzeitig – noch während er dabei ist – jubilieren, jauchzen und frohlocken kann. Als Mittlerin lässt sie uns an ihrem Erinnern teilhaben, auf dass wir – auch in komplexen, verwirrenden Zeitläufen – mit ihr frohlocken.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Der sich auf die Weisheit fokussierende Text ist für den Sonntag Jubilate gut geeignet, insofern die Gestalt der Frau Weisheit den Weg im Raum zwischen Ostern und Pfingsten überbrückt. Zwischen Auferstehung und Pfingsten eröffnen ihre Erinnerungen Gelegenheit sich Gottes Wohltaten an seiner Schöpfung zu vergewissern. Dieses Erinnern passt zum Charakter des Sonntags, der im Rückgriff auf den 66. Psalm dem Sonntag seinen Namen gibt: Jauchzet Gott, alle Lande! An diesem Sonntag soll es um Schöpfung und neues Leben gehen. Die Predigt an Jubilate, dem dritten Sonntag nach Ostern kann darauf abheben, den Raum zwischen Ostern und Pfingsten im Konzept der personifizierten, aber wirkmächtigen Weisheit für den Menschen auszuloten. Dabei erweist sich die Weisheit für die Adressaten als eine Gestalt, die sie von der Auferstehung Jesu an Ostern her kommend auf den Geistempfang an Pfingsten zurüstet.
5. Anregungen
Angesichts der dominanten Stellung der Frau Weisheit legt sich eine dialogische Predigt nahe, in der Frau Weisheit über ihre Erfahrungen und Erinnerungen befragt wird. Diese Befragung kann an verschiedenen Stellen des Textes ansetzen, sie sollte aber reflektieren, dass konkrete Handlungsanweisungen nicht gegeben werden. Was der Einzelne tun kann oder sollte, muss er letztlich selbst entdecken. Daher ließe sich etwa fragen: Was braucht man eigentlich, um den „Tod im Leben“ (V. 35.36) zu überwinden?
Denkbar wäre auch ein Zugang, der danach fragt, wie wir eigentlich konkret (V. 32b.34a) glücklich werden können. In diesem zweiten Fall könnte ein Schreibimpuls beispielsweise lauten: Glücklich diejenigen, die meine Wege bewahren - Wie geht das? Welche Schritte muss ich dafür gehen? Was ist damit überhaupt gemeint?
Autoren
- Prof. Dr. Dr. Bernd U. Schipper (Einführung und Exegese)
- Prof. Dr. Antje Roggenkamp (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500115
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