Deutsche Bibelgesellschaft

Lukas 10,38-42 | Estomihi | 02.03.2025

Einführung in das Lukasevangelium

1. Verfasser

Das dritte Evangelium ist das einzige, dessen Verfasser in der ersten Person Singular auf sich als Autor verweist (Lk 1,3), allerdings nennt er nicht seinen Namen, sondern nur den seines Adressaten Theophilus. Er ist kein Augenzeuge, sondern in seinem Zeugnis von solchen abhängig (Lk 1,2). Der erstmals in der inscriptio von P75 ca. ein Jahrhundert nach der Abfassung des Evangeliums genannte Name Lukas, der etwa zur gleichen Zeit auch bei Irenäus bezeugt wird (Adv Haer III,1,1), könnte fiktiv sein, wenngleich er sich im Unterschied zu ‚Matthäus‘ oder ‚Johannes‘ weniger für eine Fiktion nahelegt, da sich mit ihm keine unmittelbare apostolische Autorität reklamieren lässt. Der ebenfalls in das späte zweite Jahrhundert zu datierende Kanon Muratori identifiziert den Verfasser aufgrund der „Wir-Passagen“ in der Apostelgeschichte mit dem in Phlm 24 und 2 Tim 4,11 genannten Paulusbegleiter und dem in Kol 4,14 genannten Arzt Lukas. Bleibt letzteres unsicher, so gewinnt die Annahme, dass es sich um einen Paulusbegleiter handeln könnte, wieder an Zustimmung (vgl. Wolter 8). Wurde früher oft angenommen, dass er wegen fehlender Kenntnisse Palästinas, des Vermeidens semitischer Begriffe und seiner Zurückhaltung gegenüber der Sühnevorstellung Heidenchrist gewesen sein müsse (vgl. Fitzmyer 42-47), so wird heute aufgrund der genauen Kenntnis der griechischen Übersetzung des Alten Testaments sowie jüdischer Interna (Lehrdifferenzen zwischen Sadduzäern und Pharisäern), aber auch wegen seines Interesses an der Israelfrage häufig angenommen, dass er Jude war (vgl. Smith: Luke). Die Verbindung von biblischem und hellenistischem Denken, das Desinteresse an der Gesetzesfrage und die Rolle der „Gottesfürchtigen“ in der Apostelgeschichte machen es jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich, dass Lukas aus dem Kreis der „Gottesfürchtigen“ stammt, Sympathisanten der Synagoge, die wegen des Verlustes der gesellschaftlichen Beziehungen, den Beschneidung und das Einhalten der Reinheitsgebote nach sich zogen, den Übertritt zum Judentum nicht vollziehen wollten / konnten. Damit ließe sich die „doppelte kulturelle Identität des Verfassers“ am ungezwungensten erklären (Marguerat 33; Bovon I, 22); Lukas stünde „nicht nur theologisch, sondern auch biographisch zwischen Judentum und Hellenismus“ (Kraus 244).

2. Adressaten

Die Anrede an Theophilus als einen in der christlichen Überlieferung Unterwiesenen (Lk 1,4) zeigt, dass sich Lukas an Christen richtet. Aber sein Bemühen, als „Evangelist der Griechen“ (Wiefel 4) seine Botschaft in den kulturellen Kontext der griechisch-römischen Welt zu übersetzten, lässt vermuten, dass er sein Werk auch als eine zur werbenden Weitergabe an Nichtchristen geeignete Schrift angelegt hat. Paradigmatisch dokumentiert das die - zumindest in der vorliegenden Form von Lukas verfasste - Areopagrede (Apg 17, 22–32), das „Muster einer Missionsrede an Gebildete“ (Harnack 391).

3. Datierung

Die Datierung schwankt – von einer Frühdatierung um 60 n.Chr. bis weit ins 2. Jahrhundert hinein. Die deutliche Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger nimmt als frühesten Zeitpunkt die Zerstörung Jerusalems an, auf die das Evangelium zurückblickt (vgl. Lk 21,20–24 mit Mk 13,14–20; Lk 19,43f) und bestimmt den spätesten Zeitpunkt von der Apostelgeschichte her, deren Paulusbild gegenüber dem Paulus der Briefe hagiographisch überhöht ist. Da die relativ wohlwollende Darstellung der römischen Herrschaft nicht so recht in die Spätzeit Domitians mit dessen übersteigertem Herrscherkult seit Beginn der 90er Jahre passt (vgl. Johannesoffenbarung), Lukas die Sammlung der Paulusbriefe noch nicht zu kennen scheint und die Front gegenüber dem Judentum nicht so verhärtet ist wie bei Matthäus, wird das Doppelwerk meist zwischen 75 und 90 verortet. Ein nicht allzu spätes Abfassungsdatum legt sich auch nahe, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Lukas Begleiter des Paulus gewesen sein könnte.

4. Entstehungsort

Ungenaue Kenntnis der geographischen Verhältnisse Palästinas und abnehmendes Interesse an jüdischen Bräuchen machen eine Herkunft aus dem im jüdischen Stammland unwahrscheinlich; aufgrund diverser Angaben in der Apostelgeschichte werden vor allem Antiochia, Cäsarea, Rom und Philippi vermutet; keine Annahme konnte sich bislang überzeugend durchsetzen.

5. Theologisches Zentrum: Gott

In der längsten Zusammenfassung der Jesusvita außerhalb der Evangelien Apg 10,37-43 wird Jesus einmal genannt, Gott fünfmal. Diese Theozentrik ist Programm und bestimmt das ganze Doppelwerk, wie schon die Statistik zeigt: Das Appellativum θεός (das sich jeweils bis auf wenige Ausnahmen auf den biblischen Gott bezieht) findet sich bei Markus 48mal, bei Matthäus 51mal und bei Johannes 83mal, im lukanischen Doppelwerk aber 290mal (Evangelium 122, Apostelgeschichte 168); hinzu kommt der namensäquivalente Gebrauch von Gottesepitheta wie „Herr“, „Höchster“, „Mächtiger“, „Retter“ oder „Gebieter“. Zudem wird der göttliche Machtbereich entschiedener als in den anderen Evangelien als „heilig“ abgesetzt – das Adjektiv ἅγιος findet sich 7mal bei Markus, 10mal bei Matthäus und 5mal bei Johannes, im Doppelwerk aber 73mal. Zentrales Thema des Lukasevangeliums ist also Gott – der Gott, den Jesus von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater anruft. Die göttliche Vaterschaft ist nicht nur Zentrum seines Betens (Lk 11,2-4.11-13; 22,42), sondern auch seines Selbstverständnisses (Lk 10,21f), seiner Ethik (Lk 6,35f) und seiner Verkündigung (Lk 15,11-32). Dessen Barmherzigkeit, programmatisch in den Lobgesängen des Anfangs gepriesen (Lk 1,50.54.72.78), bestimmt Jesu Worte, Werke und sein Verhalten. Weil dieser Gott als „Akteur im Hintergrund“ (Schmidt) alles durch „den festgesetzten Willen und das Vorauswissen“ lenkt (Apg 2,23), ist auch in Jesu scheinbarem Scheitern nur das geschehen, „was seine Hand und Wille zuvor festgesetzt hat“ (Apg 4,28). Indem so Gottes „mitleidende Barmherzigkeit“ denen, die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen, den Morgenglanz seiner Ewigkeit aufstrahlen ließ (Lk 1,78f) wurde inmitten allen Unheils jenseits von Eden Heilsgeschichte möglich, wurde „die Tür zum schönen Paradeis“ wieder aufgeschlossen (EG 27,6 vgl. Lk 23,43).

6. Besonderheit: Die Hermeneutik der Doppelkodierung

Lukas entstammte der gebildeten Schicht der hellenistischen Welt. Entsprechend sein Bemühen, die christliche Botschaft als ein Angebot für Gebildete darzubieten, das sich in konzentrierter Form in der bereits erwähnten Areopagrede des Paulus zeigt, in deren semantischer Ambivalenz sich wie in einem Brennglas die lukanische Hermeneutik der Doppelkodierung spiegelt: Zum einen wird das christliche Zeugnis an die biblische Überlieferung zurückgebunden und in deren Licht gedeutet, zugleich aber profiliert Lukas seinen zweigeteilten „Bericht“ im ständigen Dialog mit den Bildungstraditionen seiner Zielgruppe in der hellenistischen Welt (vgl. M.Becker: Dion). So werden gerade die markanten Besonderheiten des Doppelwerks vom Magnifikat über die Weihnachtsgeschichte, die Kindheitsgeschichte, die Darstellung des Täufers, die Ethik einer imitatio Dei, die Tischreden bis hin zu den Passions- und Ostererzählungen so dargeboten, dass sie aus doppelter Perspektive plausibilisiert werden. So verweist die auf das Leiden und Sterben erfolgende Himmelfahrt auch terminologisch auf die frühjüdische Eliatradition (vgl. 2 Kön 2,9.10.11; Sir 48,9; 1 Makk 2,58), aber mit überraschender Deutlichkeit eben auch auf Herakles, der als „Retter (σωτήρ) der Erde und der Menschen“ (Dion or. 1,84) nach seinem Sterben, bei dem er den „Vater“ gebeten hat, seinen Geist zu sich aufzunehmen (vgl. Ps._Seneca: Hercules Oeteus 1695.1703f mit Lk 23,46), vom „allmächtigen Vater“ im „Vierrossegespann“ nach oben „entrafft“ und „unter die strahlenden Sterne versetzt“ (Ovid: Met. IX,271f), also vergöttlicht wurde. Diese Doppelkodierung reicht bis in das Gottesverständnis: So wird die Verbindung von Gott und Leben als Inbegriff der biblischen Gottesoffenbarung vom lukanischen Jesus deutlicher unterstrichen als in seinen Vorlagen (Lk 20,36.38 vgl. E.-M. Becker), zugleich aber betont der lukanische Paulus im Anschluss an die stoische Religionsphilosophie dieselbe Verbindung als Charakteristikum der paganen Gottesahnung (Apg 17,25.28), wobei er sogar zustimmend einen paganen Zeushymnus zitieren kann (Apg 17,28), zugleich aber die Religiosität der gebildeten ‚Heiden‘ durch Bezug auf die Auferstehung eingemeindet (Apg 17,31 vgl. 17,18).

Literatur:

  • Eve-Marie Becker: Wie Lukas über den ‚Gott der Lebenden‘ spricht und für den sachkundigen Leser Geschichte schreibt. Lk 20,27-40 par. Mk 12,18-27 im Vergleich; in: J.Dochhorn, R.Hirsch Luipold, I.Tanaseanu Döbler: Über Gott. FS Reinhard Feldmeier, Tübingen 2022, 207-222.
  • Matthias Becker: Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse, SCCB 3, Paderborn 2020.
  • F. Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/1-3, Neukirchen-Vluyn/Zürich 20193
  • Joseph Fitzmyer: The Gospel According to Luke I-IX: Introduction, Translation, and Notes (The Anchor Bible, Vol. 28).
  • Adolf von Harnack: Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 19244.
  • Wolfgang Kraus: Lukas: Urchristlicher Schriftsteller zwischen Judentum und Hellenismus, in: Christoph Barnbrock / Werner Klän (Hgg.): Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V.Stolle, ThFW 12, Münster 2005.
  • Daniel Marguerat: Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 2022.
  • Joshua Paul Smith: Luke Was Not A Christian: Reading the Third Gospel and Acts within Judaism; BIS 218, Leiden 2023.
  • Karl Matthias Schmidt: Akteur im Hintergrund. Anmerkungen zur Anwesenheit der Erzählfigur „Gott“ in der lukanischen Kindheitserzählung, in: Eisen, U. E. / Müller, I. (Hg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016, 295-320.
  • Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig 1988.
  • M. Wolter: Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008.

A) Exegese kompakt: Lukas 10,38-42

38Ἐν δὲ τῷ πορεύεσθαι αὐτοὺς αὐτὸς εἰσῆλθεν εἰς κώμην τινά· γυνὴ δέ τις ὀνόματι Μάρθα ὑπεδέξατο αὐτόν. 39καὶ τῇδε ἦν ἀδελφὴ καλουμένη Μαριάμ, [ἣ] καὶ παρακαθεσθεῖσα πρὸς τοὺς πόδας τοῦ κυρίου ἤκουεν τὸν λόγον αὐτοῦ. 40ἡ δὲ Μάρθα περιεσπᾶτο περὶ πολλὴν διακονίαν· ἐπιστᾶσα δὲ εἶπεν· κύριε, οὐ μέλει σοι ὅτι ἡ ἀδελφή μου μόνην με κατέλιπεν διακονεῖν; εἰπὲ οὖν αὐτῇ ἵνα μοι συναντιλάβηται. 41ἀποκριθεὶς δὲ εἶπεν αὐτῇ ὁ κύριος· Μάρθα Μάρθα, μεριμνᾷς καὶ θορυβάζῃ περὶ πολλά, 42ἑνὸς δέ ἐστιν χρεία· Μαριὰμ γὰρ τὴν ἀγαθὴν μερίδα ἐξελέξατο ἥτις οὐκ ἀφαιρεθήσεται αὐτῆς.

Lukas 10:38-42NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

38. Als sie aber ihres Weges zogen, kam er in ein Dorf.

Eine Frau aber mit Namen Martha nahm ihn auf.

39. Und diese hatte eine Schwester, genannt Maria,

die sich zu den Füßen des Herrn niedersetzte

und sein Wort hörte.

40. Martha aber war sehr beschäftigt mit vielerlei Dienstleistungen.

Sie trat nun aber hinzu und sprach:

Herr, kümmert es dich gar nicht,

dass meine Schwester mich allein hat dienen lassen?

Sage ihr doch, dass sie mir zur Hand geht!

41. Jesus aber antwortete und sprach zu ihr:

Martha, Martha!

Du sorgst und bist beunruhigt um Vieles – 42. eins aber ist nötig.

Maria hat das gute Teil erwählt,

das nicht von ihr genommen werden wird.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Dass Jesus als der Kyrios, der ‚Herr‘ (dreimal wird er in dem kurzen Text so genannt), Maria als die Hörende gegenüber ihrer Schwester Martha als die verteidigt, die „das gute Teil erwählt hat“, obgleich Martha ihn nicht nur eingeladen hat, sondern auch für ihn und seine Jünger sorgt, könnte als Abwertung ihres diakonein bzw. ihrer diakonia verstanden werden, ihres Dienens bzw. ihrer Dienstleistungen. Damit aber wäre diese Erzählung missverstanden: Gerade bei Lukas verbindet Jesus das Dienen mit seinem eigenen Weg und Wesen als Kyrios (vgl. Lk 12,27; 22,26f) und wertet es so die ‚Niedrigkeit‘ des Dienens in einzigartiger Weise auf. So ist auch die doppelte Anrede „Martha, Martha“ Ausdruck gesteigerter Zuwendung (vgl. Lk 22,31; Apg 9,4; 22,7; 26,14).

2. Literarische Gestaltung

Formgeschichtlich handelt es sich um ein Apophthegma, d.h. um eine knappe, auf Jesu autoritatives Wort zulaufende Erzählung. Dieses weist das für Lukas typische Kontrastschema auf: Vom Pharisäer Simon und der stadtbekannten Sünderin über den barmherzigen Samaritaner und die unbarmherzigen Gottesmänner, die zwei Brüder im ‚verlorenen Sohn‘, den reichen Mann und den armen Lazarus, den ungerechten Richter und die hartnäckige Witwe, den selbstgerechten Pharisäer und den demütigen Zöllner, die neun undankbaren Israeliten und den dankbaren Samaritaner, die treuen Knechte und den untreue Knecht, Zachäus und das Volk bis zu den beiden Mitgekreuzigten zur Rechten und zur Linken stellt Lukas gerade in seinem Sondergut immer wieder einzelne Menschen oder Gruppen einander gegenüber, meist mit dem Ziel einer provokativen Umwertung der gängigen Beurteilungen. So ist es auch hier, wenn die Frauen in der Nachfolge Jesu nicht auf ihre traditionelle Rolle fixiert werden. Zwar erkennt Jesus Marthas Mühen an, aber er betont gleichwohl, dass das, was Maria tut, jetzt während seines Lehrens – Priorität hat.

3. Bedeutung im Kontext

In Kontext des Lukasevangeliums wird mit dieser Erzählung nicht nur ein Rollenkonflikt durchgespielt und die volle Zugehörigkeit von Frauen zu Jesu Schülerschaft unterstrichen, sondern auch das Doppelgebot der Liebe ausgelegt. Hatte der lukanische Jesus die Frage des Gesetzeskundigen, wer der von ihm zu liebende Nächste sei, in der vorigen Beispielerzählung vom barmherzigen Samaritaner beantwortet, so wird dies nun im Sinne des Doppelgebots, also im Blick auf die Gottesliebe ergänzt (s.u.).

4. Historische Einordnung

Die Geschichte handelt von zwei Frauen aus der Anhängerschaft Jesu. Bezeichnenderweise überliefert gerade Lukas diese Geschichte, bei der es um die Schülerschaft von Frauen geht. Vielleicht hat dies auch mit Missionserfahrungen zu tun: Wie Jesus hier von einer Frau aufgenommen wird, so widerfährt dies nach der Darstellung der Apostelgeschichte auch dem Paulus mit der Purpurhändlerin Lydia (Apg 16,14f.40). In Apg 21,9 berichtet Lukas von den vier Töchtern des Philippus, die Prophetinnen waren, und aus Röm 16,1-15 ist zu entnehmen, welche Bedeutung Frauen in der frühchristlichen Bewegung hatten bis hin zu Ämtern wie Diakoninnen und sogar einer Apostolin (Röm 16,7). Durch diese besondere Bedeutung von Frauen für die frühchristliche Bewegung kommt es zum Konflikt mit den traditionellen Rollenvorstellungen: Dass Frauen aber nicht nur dienende Funktion haben, sondern auch zum „Studium“ geschickt sind, ist eine in der damaligen Zeit nicht eben verbreitete Überzeugung. Daraus zu folgern, dass es „abwegig“ sei, in der Hervorhebung und Hochschätzung von Frauen bei Lukas eine historische Reminiszenz zu sehen, weil „ein jüdischer Rabbi … nicht von Frauen begleitet“ wurde, ist allerdings selbst eine abwegige Behauptung, zumal die fast schon verlegene und daher unverdächtige Notiz im markinischen Kreuzigungsbericht (Mk 15,40f) Lukas bestätigt. Weit plausibler ist es daher, in der von Lukas berichteten Aufnahme von Frauen in den Kreis derer, die Jesus nicht nur dienten, sondern auch bei ihm lernten, „die bei Jesus sichtbar werdende religiöse Gleichstellung der Frau und die damit verbundene Anziehungskraft seiner Predigt auf die Frauen in Israel“ dokumentiert zu sehen. Zugleich erhalten hier auch einen Einblick, wie der ohne Heim umherziehende Jesus und sein Gefolge gelebt (und überlebt) haben.

5. Schwerpunkt der Interpretation

Konzentrierte sich das Samaritergleichnis auf die Nächstenliebe als Inbegriff des in der Tora niedergelegten Gotteswillens, so macht Lukas hier deutlich, dass für Jesus neben das aktive Tun der Barmherzigkeit auch die scheinbar untätige vita contemplativa, das Hören als Gemeinschaft mit dem Kyrios und die Freude an seiner frohen Botschaft, zur Erfüllung des Doppelgebots gehört. Ein nur tätiger Mensch ist schnell mit der zweiten Hälfte des Liebesgebotes überfordert. Ora et labora, „bete und arbeite“ die Grundregel des benediktinischen Mönchtums, gilt auch für ‚Arbeit‘ der Liebe. In diesem Sinn hat dann Lukas in der folgenden Perikope auch noch eine Gebetsparänese angehängt; besonders das Herrengebet unterstreicht den inneren Zusammenhang einer Ausrichtung auf Gott mit dem Einsatz für den Nächsten.

6. Theologische Perspektivierung

Die Erzählung hat eine doppelte Pointe, die je nach Situation betont und weiter ausgeführt werden kann: Zum einen zeigt sich hier der egalitäre und emanzipatorische Charakter der Jesusbewegung. Zum andern betont Lukas, der zuvor so nachdrücklich das Tun der Barmherzigkeit als Folge der Nachfolge unterstrichen hat, hier zugleich, dass solches Tun seinen Grund in der Gemeinschaft mit dem Herrn und im Hören auf sein Wort hat, dass dem Geben das Empfangen vorausgeht. Diesen Vorrang der göttlichen Barmherzigkeit wird der lukanische Jesus dann in der Gleichnistrilogie vom Verlorenen Lk 15 unterstreichen und in seinem ganzen Verhalten spiegeln – bis zuletzt (Lk 23,40-43).

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Besonders interessant finde ich die Beobachtung aus der Exegese, dass Lukas mit einem „Kontrastschema“ arbeitet und die Gegenüberstellung von zwei Personengruppen zu einem Gestaltungselement seiner Erzählungen macht. Damit kann man profilieren und verdeutlichen, aber auch typisieren und provozieren. Auffällig finde ich, dass Lukas hier, ebenso wie in der Erzählung vom verlorenen Sohn, ein „typisches“, alltäglich-familiäres Rollenverhalten in Anspruch nimmt und dabei dasjenige Verhalten, das im sozialen Miteinander normalerweise weniger Anerkennung erhält, als Zeichen der Gott-Mensch-Beziehung ausweist.

Allerdings würde ich ausgehend davon das Verhalten Marthas nicht ganz so in der positiven Konnotation sehen, wie es der Exeget vorschlägt. „Martha, Martha“ – für mich „klingt“ dieser Ausruf eher wie ein kleiner Weckruf als der einer gesteigerten Zuwendung.

Und im Zusammenhang der weiteren Beschreibungen: „beschäftigt mit vielerlei Dienstleistungen“ und „du sorgst und bist beunruhigt um vieles“ erscheint es mir eher wie ein Versuch, aus dieser Sorge und Beschäftigung herauszurufen.

Aus meiner Sicht verstärkt die Tatsache, dass Jesus Marthas Bitte ablehnt, Maria zur Hilfe aufzufordern, und ihr Zuhören würdigt, die Unterscheidung, aber eben auch die eindeutige Aussage „Maria hat das gute Teil gewählt“.

In beiden „Geschwistererzählungen“ des Lukas beeindruckt mich, dass diese Deutlichkeit zwar zur Geltung kommt, das Verhalten Marthas bzw. des älteren Bruders sich aber nicht negativ auf die Beziehung zu Jesus bzw. zum Vater auswirkt.

Der so alltäglich-typische Kontext macht die Erzählung und die Botschaft Jesu sehr konkret, anschaulich, und gleichzeitig steckt darin eine umso größere Herausforderung; denn es geht ja um gewohnte sozialen Muster aus einem jedem und jeder vertrauten Nahbereich. Die Zumutung, die aus dem emanzipatorischen Charakter der Jesusbewegung folgt, wird dadurch umso stärker.

2. Thematische Fokussierung

Zunächst einmal werden aus meiner Sicht hier Haltungen einander entgegenstellt: die eines geschäftigen, eher von Sorge geleiteten Treibens und die einer Ruhe, die sich auf Wesentliches konzentriert und Hörbereitschaft ermöglicht. Dass letztere nicht nur Männern vorbehalten ist, sondern auch Frauen, erscheint mir als eine Pointe, die vielleicht auf die Selbstverständlichkeit hinweist, mit der auch Frauen selbstbestimmt in die Nachfolge Jesu getreten sind; vielleicht wird dies von Lukas aber auch gerade deshalb hervorgehoben, weil es nicht selbstverständlich war.

Von hier aus gehe ich weiter: Die Möglichkeit, sich aus sozialer Abhängigkeit und vorgegebenen und antrainierten Rollenmustern zu lösen, wurzelt in der Anrede Gottes, die aufhören und zuhören lässt. Die Verse erzählen ja von der Freiheit, die sich Maria nimmt. Mit unserer kirchlichen Sozialisation und der Bedeutung, der wir dem beimessen, anderen Gutes zu tun, ist man schnell versucht, Martha in Schutz zu nehmen und ihre Arbeit als ebenso wichtig anzuerkennen wie das Hören der Maria. Und dann mündet es darin, das Tun um das Hören (bloß) zu ergänzen. Aber damit relativiert man die Gegenüberstellung auch. Lukas geht es aus meiner Sicht nicht einfach um eine Ergänzung. „Maria hat das gute Teil gewählt“ – lese ich als eine deutliche Wertung. Und so, wie Lukas mit konkreten, wenn auch stilisierten Alltagsszenen aus der eher männlichen Lebenswelt die Bedeutung die Botschaft Jesu profiliert, tut er dies auch mit Alltagsszenen aus der Lebenswelt von Frauen.

Zwei Punkte führen mich weiter. Jesu Aussage über Maria ist eine Antwort auf Marthas Bitte, Jesus möge doch Maria zur Hilfe auffordern. Der Jesus nicht nachkommt. Er hält Maria den Raum frei, den sie sich genommen hat. Und dann begründet er das „gute Teil“: Das kann ihr nicht genommen werden. Gottes Worte zu hören ist ein Gewinn, der nicht verloren geht. Auch – vielleicht gerade – die gesellschaftlich anerkannten Formen des Handelns können dazu verführen, diesen Gewinn mit der eigenen Aktivität legitimieren zu müssen und damit die gewährte Freiheit zu verlieren. Vor allem dann, wenn dieses Handeln in der Sorge, Geschäftigkeit besteht, die aus gelernter Erwartungserfüllung kommt und in eine Erwartungshaltung an andere mündet. Dem setzt Lukas die gelassene Freiheit entgegen: Es gilt, gesellschaftliche Commitments und Erwartungshaltungen zu verlassen und den Augenblick zu ergreifen, durch das Wort Gottes selbst sein zu können.

3. Theologische Aktualisierung

Landeskirchlicher Gottesdienst zum Reformationstag. Eine Feier mit kirchlichen und politischen Würdenträgern. Lange geplant und vorbereitet. Als ich die Kirche betrete, sehe ich meine Vorgesetzte, Oberlandeskirchenrätin im Landeskirchenamt. Sie läuft im Gang etwas hektisch hin und her, begrüßt und weist auf leere Plätze. Darunter sind ihre männlichen Kollegen, die Oberlandeskirchenräte. Sie gehen gemächlich, teilweise mit ihren Ehefrauen, und lassen sich die Plätze zuweisen. Ich fühle, wie sich in meinem Inneren etwas schmerzhaft zusammenzieht, als ich sie so sehe. Warum sitzt meine Chefin nicht auch seelenruhig auf dem Stuhl und ist Teil der Gastgesellschaft? Mit mir ist eine Kollegin gekommen. Sie sieht in den Gang, wir schauen uns an und denken dasselbe. Wir gehen zu ihr: Setzen Sie sich und lassen Sie uns das machen. Sie gehören auch zu denen, die sitzen sollen.

Über die Gefühlslage von Maria wird in den wenigen Versen nichts gesagt. Der Stich, den es Frauen versetzt, wenn sie andere Frauen in der Dienstrolle sehen, während Männer diese selbstverständlich übersehen, hat keinen Anhalt am Text, aber an der Erfahrung.

Lukas stellt unsere Dienstfertigkeit infrage. Das ist in einer sozial rauher werdenden Zeit eine Herausforderung. Diese Dienstfertigkeit wird nicht per se, aber als strukturelles Problem kritisch gesehen, wenn sie – wie offenbar bei Martha – zur Belastung wird, weil sie dann eine Erwartungshaltung an andere produziert. Woher kommt die Dynamik, gesellschaftliche Verhältnisse und ihre individuelle Bewältigungsstrategien zu verändern? Nach Lukas nicht durch eine Intensivierung dessen, was ist, sei es auch noch so gut gemeint, sondern durch eine Unterbrechung. Ich verstehe die Polarisierung und Profilierung der Erzählung in dem Sinn, die Gesellschaftsstruktur in ihrer Belastung erzeugenden Form sichtbar zu machen; diese Struktur lässt sich nur durch eine Unterbrechung veränderungsfähig machen. Die Konsequenz der Unterbrechung ist es, den Erwartungen nicht zu entsprechen; Unterbrechung bietet den Freiraum Alternativen wahrzunehmen; sie ermöglicht sich in eine Situation oder ein Umfeld zu begeben, in der mir Würde und Anerkennung als Mensch zugesprochen wird und die Erfahrung zu machen „das kann mir nicht genommen werden“. Das ist jedenfalls die Verheißung, die für mich in den Versen liegt.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der Sonntag Estomihi steht unter dem Thema der Nachfolge im Vorfeld der Passion Jesu. Der Fokus der Texte richtet sich aber noch auf die Haltungen der Nachfolgenden. Alle Texte thematisieren auf ihre Weise, welche Auswirkungen die Gottesbeziehung auf ihr Leben hat und was wichtig erscheint, um gestärkt und mutig Glauben zu leben.

In dieser Hinsicht ist auch die Erzählung von Maria und Martha eine, die es ermöglichen soll, eine Haltung der Nachfolge einzunehmen und dabei nicht etwas zu verlieren, sondern Leben zu gewinnen. Die Unterbrechung gewohnter, alltäglicher Praxis und die Suche nach einer Erfahrung von Würde und Anerkennung erscheinen mir als der Auftakt. Nachfolge wird darin nicht verstanden als Weg der Entbehrung, sondern als Möglichkeit, Abhängigkeiten zu verlassen und Freiheit zu gewinnen.

Autoren

  • Prof. Dr. Reinhard Feldmeier (Einführung und Exegese)
  • Dr. Melanie Beiner (Praktisch-theologische Resonanzen)

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