Jesaja 35,3-10 | 2. Sonntag im Advent | 08.12.2024
Einführung in das Buch Jesaja
1. Endgestalt des Buches
Das Jesajabuch
Das gesamte Buch wird laut Jes 1,1 dem Propheten Jesaja, Sohn des Amoz (wohl nicht zu verwechseln mit dem Propheten Amos), zugeschrieben. Selbst die Texte ab Jes 40 und Jes 56, die man gemeinhin Deutero- bzw. Tritojesaja zuweist, stehen den Redaktoren der Bibel zufolge in der Autorität oder in der „Nachfolge“ des Propheten Jesaja.
2. Kompositions- und Redaktionsgeschichte
Der Kern des Jesajabuches geht auf den gleichnamigen Propheten zurück, der im 8. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem wirkte. Spätestens die Kapitel ab Jes 40 werden aber einem zweiten Propheten zugerechnet, den man Deuterojesaja nennt. Bernhard Duhm hat in seinem Kommentar von 1892 alle Kapitel ab Jes 56 einem dritten Propheten, also Tritojesaja, zugeschrieben. Die klassische Jesajathese geht also von Protojesaja oder Erstem Jesaja (Jes 1–39), Deuterojesaja oder Zweitem Jesaja (Jes 40–55) und Tritojesaja oder Drittem Jesaja (Jes 56–66) aus.
Im Zuge der redaktionsgeschichtlichen Forschung des 20. Jahrhunderts ist der Kernbestand bei allen drei Teilen teilweise auf wenige Kapitel geschrumpft. Der Großteil wird späteren Ergänzern, Fortschreibern oder Redaktoren zugewiesen. Das hat zwei Folgen: Zum einen kann man nur einen kleinen Teil der Schrift „mit Sicherheit“ dem Propheten Jesaja oder Deuterojesaja zuweisen, während der überwiegende Teil des Buches Jesaja von unbekannten Redaktoren etc. verfasst wurde. Zum anderen gibt es eine stärkere Orientierung am „Sitz im Buch“, d.h. man kann die Texte meist nicht einem ganz bestimmten Zeitpunkt zuweisen, dafür aber die Stelle, in der der Text vorkommt, aus dem Buch heraus begründen. Die Texte des Jesajabuches sind keine zufällige Sammlung von Einzelworten, sondern eine – wie auch immer geartete – Komposition oder bewusste Gestaltung. Auf diese Weise kann man die theologischen Debatten, die Aktualisierungen und Anpassung der alten Prophetenworte an die jeweils neue Zeit nachvollziehen.
Allerdings gibt es bis heute die Ansicht, ein Großteil der Texte ginge auf den historischen Propheten Jesaja zurück und man könne die unterschiedlichen, teils auch widersprüchlichen Texte auf Verkündigungsphasen des Propheten zurückführen. Aber auch hierbei gilt, dass diese Forschungsrichtung im Jesajabuch eine bewusste und absichtliche Gestaltung des Buches erkennt.
3. Historischer Kontext
Das Jesajabuch beinhaltet in den Kapiteln 1–39 unter anderem die Worte des historischen Jesajas, der zur Zeit des sogenannten syrisch-ephraimitischen Krieges (734–732 v. Chr.) zu wirken begann. Die Wirkungszeit des historischen Propheten lässt man mindestens bis 701 v. Chr. laufen, als Jerusalem
Allerdings dürfte der Großteil der Texte nicht auf den historischen Propheten Jesaja zurückgehen, sondern sich späteren exilischen und nachexilischen Fortschreibern verdanken, die ihre eigenen Ansichten und die ihrer Zeit über die Zukunft des Königtums und der Gottesherrschaft
Der hintere Teil des Jesajabuches (ab Jes 40) wird der exilischen, mittlerweile sogar der nachexilischen Zeit zugerechnet. Die Rückkehr Jhwhs zum Zion (Jes 40,1–11; 52,1–10) ermöglicht die Rückkehr des Volkes, womit eine Diaspora angesprochen werden soll, die noch nicht zurückgekehrt ist oder nicht zurückkehren will.
4. Wichtige Themen
Zion
5. Besonderheiten
Im Jesajabuch begegnen mit Jes 7; 9 und 11 und dann vor allen Dingen mit den Texten in Jes 40–62
Die sogenannten Gottesknechtslieder, die Bernhard Duhm „entdeckt“ hat, sind im Neuen Testament aufgenommen worden Jes 42,1–7; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12
Literatur:
- Becker, U., 2022, The Book of Isaiah. Its Composition History, in: Lena-Sofie Tiemeyer (Hg.), The Oxford Handbook of Isaiah, Oxford, 37–56.
- Kaiser, O., 19792, Der Prophet Jesaja. Kapitel 13–39 (ATD 18), Göttingen.
- Steck, O.H., 1985, Bereitete Heimkehr. Jesaja 35 als redaktionelle Brücke zwischen dem 1. u. dem 2. Jesaja (StBib 121), Stuttgart,
A) Exegese kompakt: Jesaja 35,3-10
Übersetzung
3 Macht stark die entmutigten Hände,
und die strauchelnden Knie mach fest.
4 Sagt zu denen, die verzagt (in ihrem Herzen) sind:
Seid stark, fürchtet euch nicht!
Siehe, euer Gott!
Die Vergeltung kommt, die Vergeltung Gottes,
er kommt und wird euch erretten.
5 Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden,
und die Ohren der Tauben werden aufgetan.
6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,
und es wird jubeln die Zunge des Stummen,
denn in der Wüste ist Wasser hervorgebrochen
und Flüsse in der Araba.
7 Und das ausgedörrte Land wird zum Sumpf werden
und das dürre Land zu Wasserquellen.
Auf der Flur der Schakale ist die Lagerstätte,
ein Ort des Schilfrohrs und des Papyrus.
8 Und es wird dort eine Straße sein und ein Weg,
und ein heiliger Weg wird er genannt werden.
Und ein Unreiner wird nicht darauf gehen,
und er ist für denjenigen da, der den Weg betritt.
Und Narren werden nicht in die Irre gehen.
9 Dort wird kein Löwe sein,
ein reißendes Tier wird nicht hinaufgehen,
man findet es dort nicht.
Und es werden hinziehen die Erlösten.
10 Und die Befreiten Jhwhs werden zurückkehren,
und sie werden zu Zion mit Freude kommen,
und ewige Fröhlichkeit wird über ihren Häuptern sein,
Freude und Fröhlichkeit werden sich einstellen.
Und sie werden Kummer und Seufzen entkommen.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V.4: נָקָם: Rache, Vergeltung; גְמוּל: Vergeltung
V.5: וְתָרֹן von רנן: sich freuen, jubeln, rufen
V.7: בִּנְוֵה תַנִּים: auf der Flur der Schakale; für חָצִיר(Gras) hat man mit den Übersetzungen חַצֵר (Platz) konjiziert.
V.9: וּפְרִיץ חַיּוֹת: ein reißendes Tier (Gesenius18 z. St.)
2. Literarische Gestalt und Kontext
Jes 35 gehen der sogenannte „Assyrische Zyklus“ in Jes 28–32
3. Textgenese und Redaktionsgeschichte
Am Text lassen sich eine Reihe an kleinen Zusätzen erkennen, die glossenartig einige Gedanken erläutern (vgl. z.B. das Ende von V.8 oder in V.9a „man findet es nicht“).
In der zweiten Vershälfte von V.4 ist davon die Rede, dass die Rache komme, die Vergeltung Gottes. Aus dem gesamten Textzusammenhang wird aber deutlich, dass die Rache und die Vergeltung Gottes nicht den Erlösten bzw. dem Gottesvolk gelten, sondern anderen widerfahren werden. Jedenfalls widerspricht dieser Einwurf der wohlgemuten Stimmung des restlichen Textes.
Die zweite Vershälfte von V.7, in der es um die Lagerstätte der Schakale geht, unterbricht den Gedankengang von V.7a und V.8. In V.7a ist vom Wasser in der Wüste die Rede und in V.8a vom Weg, der sich dort befindet. Das Nebeneinander von der Lagerstätte der Schakale und des wundersamen Oasenortes passt nicht ohne Weiteres zusammen, zumal in V.9 die Anwesenheit gefährlicher Wildtiere bestritten wird.
4. Historische Einordnung
Jes 35 leitet von Protojesaja zu Deuterojesaja über. Es ist umstritten, ob Jes 35 älter oder jünger als Jes 36–39 ist. Die sprachlichen Bezugnahmen zu Deuterojesaja sind überall mit Händen zu greifen. Während aber anfangs in Deuterojesaja die Rückkehr Jhwhs zum Zion angekündigt wurde und später erst die Rückkehr der Exilierten, geht es in Jes 35 nur um die Rückkehr der Erlösten und Befreiten. Jes 35 ist in seinem Kern demzufolge jünger als der Grundbestand von Deuterojesaja. Die Bezugnahmen, die sich zudem zu Jes 34 finden lassen (vgl. z.B. Jes 35,4 mit 34,8 oder 35,6 mit 32,4 und 33,23), deuten an, dass Jes 35 ein redaktionelles Scharnierstück bei der Verbindung von Proto- und Deuterojesaja darstellt. Eine genaue Zeitangabe, wann beide Teile zusammengefügt worden, ist kaum möglich. Odil Hannes Steck hat diesen Text in die Zeit der Diadochenkämpfe eingeordnet und damit in die Zeit nach 323 v. Chr. (vgl. Steck,102). Als untere Grenze muss die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. gelten, da spätestens dann die griechische Übersetzung des gesamten Jesajabuches fertiggestellt wird.
Die kleineren Zusätze können zeitlich überhaupt nicht eingeordnet werden.
5. Schwerpunkte der Interpretation
Dieser Text verkündet die Rückkehr der Erlösten zu(m) Zion. Mit dieser Rückkehr gehen wundersame Geschehnisse einher: Wasserquellen in der Wüste, ein Weg, auf dem man gefahrlos ziehen kann, Lahme gehen, Blinde sehen, Taube hören, Stumme reden (vgl. Mt 11,5 || Lk 7,22). Die Rückkehr der Erlösten ist also etwas gänzlich Ungewohntes, etwas Unerhörtes und Ungesehenes. Es ist aber auch nicht die Beschreibung oder Protokollmitschrift, wie die Exilierten aus dem babylonischen Exil zurückgekehrt sind. Dieser Text ist deutlich jünger als das Ende des Exils, ist aber im Buch dem Propheten Jesaja als Zukunftsgeschehen in den Mund gelegt. Der Buchprophet Jesaja verkündet, was dereinst geschehen wird.
Von Gott ist nur am Anfang in V.4 die Rede „Siehe, euer Gott!“ und in der Wendung „Die Befreiten Jhwhs“ (V.10). Die Wunder in der Mitte, werden aber dennoch Gott zugerechnet: So sagt z.B. Gott in Jes 41,18, dass er Flüsse entspringen lässt und das trockene Land zu Wasserquellen macht. Auch den Weg durch die Wüste legt Gott selbst (vgl. Jes 43,19).
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Unerwartet ist da eine ganze Menge Happy End im Protojesaja! Doch die Exegese löst meine Irritation auf. Jesaja 35,3–10 ist ein junger Textblock und sehr spät erst zwischen den Wehe-Rufen und den Fremdberichten eingefügt worden. Vielleicht war die Trostlosigkeit des Vorangegangenen nicht auszuhalten und ein Ausblick auf kommendes Heil nötig geworden?
Wichtig wird mir auch die Bedeutung Zions für das ganze Prophetenbuch. Zion ist Zielort des wundervollen Weges aus Jesaja 35. Und eben diese Tochter Zion soll sich in der Weihnachtszeit freuen, dass der König (wieder-)kommt. Hier überschneiden sich die eschatologischen Wegmotive – die des Alten Testaments mit der Christuswirklichkeit sowie der Kirchenjahreszeit Advent, die ebenfalls mit Wegmotiven spielt.
Und es kollidieren der sehnsuchtsvolle, jeder weltlichen Realität enthobene Zion mit der brutalen Realität in Jerusalem, Israel und Palästina. Hier jauchzt Zion nicht. Zion weint.
2. Thematische Fokussierung
So bildreich und plastisch beschrieben liest sich Jesaja 35 wie eine heilvolle Kamerafahrt. Die Farben, die der Kameramann eingestellt hat, sind warm, voll und bergend. Denn V3+4 machen klar: Jetzt wird es schön.
Selbst die anfängliche Irritation über die Vergeltung fügt sich harmonisch ein (Siehe 3.)
Der Zuschauer verfolgt gebannt, wie die Kamera auf diesem Weg an Heilung (V5+6.), Lebensspende (V6–7a), Unbefleckbarkeit (V8b) und Frieden (V9) entlangfährt, sich dann nach oben erhebt und das Bild jubelnder Menschen zeigt, denen es nur noch unendlich gut geht. (V10). Steht dieses Kamerafahrt nun am Ende eines Films, ist sie unendliches Happy End. Es werden nur noch die Namen aller Mitspielenden eingeblendet und dann ist es zu Ende. So schön sollte sich die Adventszeit (Kamerafahrt V3–9) und dann Weihnachten (V10) für mich auch mal wieder anfühlen!
Steht diese Szene aber am Anfang eines Films, so wirkt sie wie eine Verheißung, die sich aber nun an der Realität stellen muss. Und der Zuschauer ahnt, dass das Leben so vollkommen nicht ist. So kommt zumindest bei mir das nagende Gefühl auf, dass das Bild aus dem Prophetetenbuch zu schön ist, um stabil und tragend zu sein.
Mit dieser Spannung aus Abspann und/oder Vorspann muss ich leben. Denn beides zugleich ist der Predigttext als Scharnierstück zwischen Proto- (Wehe-Rufen) und Deuterojesaja. Er ist damit nämlich Ende und Anfang zugleich. Er ist sehr spät in die fertige Textgestalt eingefügt worden und markiert auch zeitlich einen Endpunkt. Im Horizont von Weihnachten aber ist er kein Ende, sondern heilgeschichtlich ein „Da kommt noch mehr!“
3. Theologische Aktualisierung
Ich stolpere über V4b: Die Vergeltung kommt, die Vergeltung Gottes, er kommt und wird euch erretten. Ganz so harmonisch und glatt ist der Text nicht wie anfangs gedacht. Der Trost für die im Herz Verzagten ist nicht der vollendete Heilsweg zum Zion, sondern schlicht Vergeltung durch Gott. Die Vergeltung ist dabei vielleicht der zentralste Begriff des Textes. Er ist nämlich Voraussetzung für den kommenden Heilswegs. V5+6 beginnen mit אָ֥ז – „Dann…“ – wenn Vergeltung Gottes sich ereignet hat – dann erst beginnt alles andere.
Hier lohnt sich ein genauer Blick in die Begriffsbedeutung von Vergeltung im AT. Denn in unserem deutschen Sprachgebrauch klingt Vergeltung nach fragwürdig unverhältnismäßiger Rache. Auch im AT umfasst Vergeltung das Begriffsfeld Rache und Strafe, aber ebenso Lohn/Entlohnung/Belohnung sowie Wiederherstellung von Recht (vgl. Freuling, 2–5).) Die Vergeltung Gottes zielt also auf das notwendige Zurechtrücken zwischenmenschlicher Schieflagen ab. Dies umfasst Strafe, wo Strafe nötig ist, ebenso wie Entlohnung, wo Lohn angemessen ist. Ganz unbekannt ist diese Ausdifferenzierung der deutschen Sprache nicht. Spuren eines positiven Verständnisses von Vergeltung finden sich auch noch heute z.B. in der Dankformel “Vergelt´s Gott!”.
Ich denke weiter. Die Vergeltung Gottes als notwendiges Zurechtrücken von Schieflagen zwischen Menschen und Mensch und Gott ist eines von Jesu Kerngeschäften. Auch Begriffe wie Sünde, Gerechtigkeit, Buße, Vergebung, etc. liegen bereits mit in der Krippe. Dort im Stall liegt natürlich ein kleines Kind, eine Selbsterniedrigung Gottes aus Liebe zum Menschen – aber eben auch der Weltenrichter der Endzeit. Und dabei ist das Gericht für mich weniger ein Furchtinstrument als Erlösung. Ich brauche vor der Ewigkeit einen Moment des inneren Aufräumens mit Gott, ein Sichten meiner Fehler, ein Ahnden meiner Vergehen, ein Gutheißen meiner gelungenen Momente und ein Versöhnen mit Gott, mit den Menschen meiner Biographie und mit mir. Ich möchte als homo incurvatus in me ipsum aus meinen Schieflagen zum recht sein gerückt werden.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Jesaja 35,3-10 ist nachexilisch. Die im Text verheißene Heimkehr der Exilierten nach Jerusalem hat bereits stattgefunden. Die Zukunftsverheißung hat ein reales Fundament in der Vergangenheit. Doch die Heimkehr nach Zion ist so viel mehr als das irdische Jerusalem. So bleibt es Verheißung.
Schon da gewesen, aber wir verkünden euch die große Freude als Horizont der Zukunft – ein Schema, das sich für mich in der Advents- und Weihnachtszeit wiederholt. Das kommende Fest der Geburt Jesu Christi hat sein Fundament in der Vergangenheit. Die Erinnerung an Gottes Menschwerdung und Hiersein wird zum Ausgangspunkt für die christliche Verheißung kommenden Heils. Präsentische und futurische Eschatologie lassen grüßen.
5. Anregungen
Für mich liest sich Jesaja 35 wie eine Kamerafahrt zum Heil hin. Der Weg der Adventszeit kann ähnlich gedacht werden. Warum also nicht als Predigt oder zur Vorbereitung wie ein Filmschaffender eine Kamerafahrt zur Krippe hin durchdenken? Dabei geht es mir nicht um die biblische Geschichte – die wurde vielfach mehr oder weniger gelungen auf Kamera gebannt –, sondern um meine Adventszeit und die Verheißung, die mich am Ende erwartet. Und auch hier pendeln wir am 2. Advent zwischen „Advent 2024 ist schon gewesen“ und „Advent 2024 kommt noch“.
Ich muss gestehen, dass meine Kamerafahrt wenig von der Harmonie und Glückseligkeit hat, die Jesaja 35,3-10 bietet. Meine Adventszeit-Szene ist diffus ausgeleuchtet – sicher warm und geborgen durch familiäre Stunden und geistliche Momente, aber ebenso kalt und grau durch Hektik, Pflichten, Weltgeschehen und enttäuschte Hoffnungen.
Meine Kamerafahrt wird nicht wie Jesaja 35 fließend und elegant sein, sondern ruckelig, unruhig, ungenau. Manches, was schön in dieser Adventszeit wäre, bleibt zu kurz im Bild. Manches wird unkenntlich, weil das Tempo zu hoch und die Kamerahaltung zu instabil ist. Und oft verweilt die Kamera auf viel zu Banalem, Alltäglichem. Der Soundtrack ist kein durchkomponiertes Spiel mit meinen Hochgefühlen wie in einem Blockbuster-Soundtrack. Mein „Jauchzet, frohlocket“ und „Tochter Zion“ werden durch Hupgeräusche, harsche Worte, „Last Christmas“, etc. übertönt.
Aber in meiner brüchigen Kamerafahrt bliebe Zeit für die Spannungen und Fragen aus dem Predigttext. Für die Sehnsucht nach kurzen Momenten des Heils, die den Alltag durchbricht – wie die Einfügung des Textes als Scharnierstelle vielleicht zeigt. Für das resignierte Achselzucken gegenüber dem Jauchzen der Welt, die im Krieg liegt und den Friedefürst dringend braucht. Für den Wunsch nach einem, der die Schieflagen zurechtrückt und Recht schafft, bevor alles shiney wird und wir die Ewigkeit Gottes betreten mit eben dem strahlenden Staunen, das Kinder beim Betreten des Weihnachtszimmers haben. Für meine Frage, wie glaubwürdig und tragfähig Verheißung von ewiger Fröhlichkeit und der Abwesenheit jedweden Kummers und Seufzen sind (V10.), solange die Welt noch nicht verwandelt ist?
In diesem Fragen berührt mich die Vorstellung eines Gottes, der schutzlos in einem Stall Mensch wird, damit er mir nahe sein kann. Da trägt es mich, dass dieser Gott nicht in die verheißene Zukunft vertröstet, sondern im Hier und Jetzt tröstet – z.B. als mein bester Freund unvermittelt gestorben ist. Ich hoffe, dass unsere Freundschaft irgendwo und irgendwann, wenn auch ganz verändert, so doch ein Wieder haben wird. Da erfüllt es mich mit Zuversicht, dass dieser Gott sein Gericht nicht als Rache, sondern als Werkzeug des Heils und Heilwerdens versteht. Denn ginge es nach dem Tod ungebrochen so weiter mit mir, ich könnte so mit mir selbst nicht gut ewig leben!
Diese Verheißung besteht den Kontakt mit der Realität.
Literatur
- Freuling, G., Art. Vergeltung (AT), WiBiLex, https://bibelwissenschaft.de/stichwort/34047/
[20.09.2024].
Autoren
- Dr. Alexander Weidner (Einführung und Exegese)
- Christoph Maser (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500077
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