4. Hiobs Antwort (zweite Gegenrede)
a) Ja, Gott hat immer recht, weil ihm, dem Allmächtigen, niemand standhalten kann
1Darauf antwortete Hiob folgendermaßen:
2»Gewiß, ich weiß, daß es sich so verhält, und wie könnte ein Mensch Gott gegenüber recht behalten? 3Wenn es ihn gelüstete, sich mit Gott in einen Rechtsstreit einzulassen, so könnte er ihm auf tausend Fragen keine einzige Antwort geben. 4Ist einer auch reich an Klugheit und stark an Kraft: wer hat ihm (Gott) je getrotzt und ist heil davongekommen? 5Er ist es ja, der Berge versetzt, ohne daß sie es merken, der sie in seinem Zorn umkehrt; 6er macht die Erde aufbeben von ihrer Stätte, daß ihre Säulen ins Wanken geraten; 7er gebietet der Sonne, so geht sie nicht auf, und legt die Sterne unter Siegel; 8er spannt das Himmelszelt aus, er allein, und schreitet hoch auf den Meereswogen einher; 9er hat das Bärengestirn und den Orion geschaffen, das Siebengestirn und die Kammern (d. h. die Sternbilder) des Südens; 10er vollführt große Dinge, daß sie nicht zu erforschen sind, und Wunderwerke, daß man sie nicht zählen kann. 11Siehe, er geht an mir vorüber, doch ich sehe ihn nicht; er schwebt dahin, doch ich nehme ihn nicht wahr. 12Wenn er hinwegrafft – wer will’s ihm wehren? Wer darf zu ihm sagen: ›Was machst du da?‹«
b) Hiob würde, selbst wenn er im Recht wäre, bei einem Rechtsstreit mit Gott als schuldig dastehen
13»Gott läßt von seinem Zorn nicht ab – unter ihn haben sich sogar die Helfer Rahabs beugen müssen –, 14geschweige denn, daß ich ihm Rede stehen könnte und ihm gegenüber die rechten Worte zu wählen wüßte. 15Wenn ich auch im Recht wäre, könnte ich ihm doch nicht antworten, sondern müßte ihn als meinen Richter noch anflehen! 16Selbst wenn ich ihn vor Gericht zöge und er mir Rede stünde, würde ich doch nicht glauben, daß er meinen Aussagen Gehör schenkte; 17nein, er würde im Sturmesbrausen mich zermalmen und meine Wunden ohne Ursache zahlreich machen; 18er würde mich nicht zu Atem kommen lassen, sondern mich mit bitteren Leiden sättigen. 19Kommt es auf die Kraft des Starken an, so würde er sagen: ›Hier bin ich!‹, und handelt es sich um ein Rechtsverfahren: ›Wer will mich vorladen?‹ 20Wäre ich auch im Recht, so müßte doch mein eigener Mund mich verdammen, und wäre ich schuldlos, so würde er mich doch als schuldig erscheinen lassen.«
c) Um das qualvolle Leben mit dem Tode zu vertauschen, spricht Hiob bewußt die Lästerung aus, Gott verfahre willkürlich gegen Fromme wie gegen Sünder
21»Schuldlos bin ich! Mir liegt nichts an meinem Leben; ich achte mein Dasein für nichts! 22Es kommt auf eins heraus, darum spreche ich es frei aus: Den Unschuldigen vernichtet er wie den Bösewicht. 23Wenn die Geißel (schwerer Volksplagen) jähen Tod bringt, so lacht er über die Verzweiflung der Unschuldigen. 24Ist ein Land in die Hand eines Frevlers gegeben, so verhüllt er die Augen seiner Richter; wenn er es nicht tut – wer denn sonst? 25Und meine Tage eilen schneller dahin als ein Läufer, sind entschwunden, ohne das Glück gesehen zu haben; 26sie sind dahingeschossen wie Rohrkähne, wie ein Adler, der auf seine Beute stößt. 27Wenn ich mir vornehme: ›Ich will meinen Jammer vergessen, will mein finsteres Aussehen abtun und heiter blicken!‹, 28so faßt mich doch immer wieder ein Schauder vor allen meinen Schmerzen; ich weiß ja, daß du (o Gott) mich nicht für schuldlos erklären wirst.«
d) Gott will nun einmal Hiobs Recht nicht gelten lassen, sonst würde Hiob ihm gern Rede stehen
29»Ich muß nun einmal als schuldig gelten: wozu soll ich mich da noch vergebens mühen? 30Wenn ich mich auch mit Schnee wüsche und meine Hände mit Lauge reinigte, 31so würdest du mich doch in die schlammgefüllte Grube eintauchen, so daß meine eigenen Kleider sich vor mir ekelten. 32Denn Gott ist nicht ein Mann wie ich, daß ich ihm Rede stünde, daß wir zusammen vor Gericht treten könnten; 33es gibt zwischen uns keinen Schiedsmann, der seine Hand auf uns beide legen könnte. 34Er nehme seine Rute von mir weg und lasse seinen Schrecken mich nicht mehr ängstigen: 35so will ich reden, ohne mich vor ihm zu fürchten; denn nicht also (= solcher Dinge) bin ich’s mir bewußt (daß ich ihn fürchten müßte).«