Fünfter Vergleich: Finsternis – Licht und Feuersäule
1Herr, deine Strafgerichte sind groß und unbegreiflich! Deshalb fielen auch die Menschen, die nichts von dir wissen wollten, dem Irrtum zum Opfer. 2In ihrer Bosheit dachten sie, sie hätten dein Volk in ihrer Gewalt – und dann waren sie selbst die Gefangenen, gefesselt von der dichten Finsternis einer nicht enden wollenden Nacht, eingeschlossen in ihren Häusern, fern von aller göttlichen Hilfe. 3Sie glaubten, ihre geheimen Sünden würden nicht an den Tag kommen, ein dunkler Vorhang des Vergessens würde ihre Schuld verdecken; aber sie wurden aufgeschreckt und auseinandergetrieben, von Schreckensvisionen gejagt.
4Auch das Versteck, in das sie flüchteten, schützte sie nicht vor der tödlichen Angst. Ringsum schreckten sie unheimliche Geräusche, Gespenster gingen um mit drohenden Blicken. 5Das Feuer besaß keine Kraft, die Finsternis zu durchdringen, und kein Stern erhellte die grauenvolle Nacht. 6In dem Dunkel flammten Feuer auf, die sich von selbst entzündeten; aber die dichteste Finsternis erschien ihnen noch gnädiger als dieses schreckliche Licht. 7Alle Zauberer und Beschwörer waren ohnmächtig dagegen und ihr Prahlen mit den eigenen Fähigkeiten wurde schmählich zuschanden. 8Sie wollten die Schreckensbilder bannen, vor denen die verängstigten Menschen zitterten, und wurden selbst von der lächerlichsten Furcht ergriffen. 9Obwohl gar kein Grund zum Erschrecken war, jagten vorüberhuschende Tiere und das Zischen der Schlangen ihnen solche Angst ein, 10dass sie vor Entsetzen vergingen. Sie weigerten sich sogar, in die Luft zu schauen, die uns doch überall umgibt. 11Denn die Bosheit verrät sich durch Feigheit und verurteilt sich dadurch selbst. Weil sie ein schlechtes Gewissen hat, fürchtet sie immer das Schlimmste.
12Angst ist nichts anderes als Kopflosigkeit, die zu vernünftiger Überlegung unfähig macht. 13Wenn das Vertrauen auf die Kraft des Verstandes schwindet, ist die Ungewissheit über die Ursache der Schrecknisse schlimmer als diese Ursache selbst. 14In dieser Nacht, die doch machtlos und aus den Tiefen der machtlosen Totenwelt heraufgestiegen war, schliefen sie alle gleich schlecht. 15Von unheimlichen Gespenstern aufgeschreckt, verloren sie alles Selbstvertrauen und waren völlig gelähmt; plötzlich und unvorbereitet überfiel sie die nackte Angst.
16Sie sanken allesamt zu Boden, Gefangene in einem Kerker ohne Ketten und Riegel. 17Selbst der Bauer und der Hirt oder der Arbeiter, der sich irgendwo einsam plagte – sie entgingen nicht dem allgemeinen Schicksal; 18mit ein und derselben Kette der Finsternis wurden alle gefesselt. Das Säuseln des Windes, das Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Wassers, 19das Donnern stürzender Felsen, der Fußtritt unsichtbar vorbeijagender Tiere, das schreckliche Gebrüll der Raubtiere und das Echo, das die Schluchten der Berge zurückwarfen – all die Geräusche der Nacht erfüllten sie mit lähmender Furcht.
20Die ganze übrige Erde lag in strahlendem Licht und die Menschen gingen unbekümmert ihrer Arbeit nach. 21Nur über sie war tiefe Finsternis hereingebrochen, ein Bild der ewigen Nacht, die sie dereinst aufnehmen sollte. Aber schlimmer als die Finsternis quälte sie die eigene Angst.