Deutsche Bibelgesellschaft

Ibn Esra, Abraham

(ca. 1089-1164)

Andere Schreibweise: Avraham Ibn Ezra

(erstellt: Mai 2009)

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Andere Schreibweise: Avraham Ibn Ezra

1. Leben

Rabbi Abraham Ibn Esra wurde ca. 1089 im spanischen Tudela (?) geboren. Er war ein Bibelausleger, Poet, Grammatiker, Philosoph, Astronom und Arzt und verfasste Lieder und Gedichte, grammatische Schriften, philosophische Traktate, astronomische Werke und Bibelkommentare. Über seine Zeit in Spanien, d.h. über seine ersten 51 Jahre ist fast nichts bekannt. Der zweite Lebensabschnitt Ibn Esras beginnt mit seinen sog. „Wanderjahren“ ab 1139/40. 1145 verließ Ibn Esra Rom in Richtung Lucca (Italien). Hier entstanden zunächst ein kurzer Kommentar zur Tora, Kommentare zu den Vorderen und Hinteren Propheten sowie grammatische Schriften. 1147 verließ Ibn Esra Italien und ging zunächst in die Provence, dann weiter nach Rouen and Dreux in Nordfrankreich. In Bezier entstanden neben astronomischen Schriften weitere Bibelkommentare, u.a. der lange Tora-Kommentar, von dem jedoch nur noch einige Passagen zum Buch Genesis und der Exodus-Kommentar erhalten sind. Ibn Esra verließ Frankreich 1158 in Richtung London. Ab 1160/61 muss er wieder in Frankreich gewesen sein (1161 in Narbonne). Er starb wahrscheinlich 1164, sein Sterbeort und sein Grab sind unbekannt.

Entsprechend seiner globalen Biographie finden sich wie bei keinem anderen Bibelkommentator vor ihm auch in seinem Torakommentar neben rabbinischen Autoritäten und den Weisen Nordfrankreichs hebräische und arabische spanische Grammatiker sowie eine Reihe karäischer Gelehrter, die diesem Kommentar seine universalgelehrte Farbe geben.

2. Werk

2.1. Kommentare zur Bibel

Ibn Esra hat seine Kommentare mehrfach überarbeitet und / oder neu verfasst. So existieren eine Langform (unvollständig) und eine Kurzform des Tora-Kommentars, wobei die Verfasserschaft des langen Exodus-Kommentars bereits von seinem wichtigsten Superkommentator Joseph Bonfils in dessen Superkommentar Zafnat Paneach (ca. 1370) bestritten und das Werk als Kompilationswerk seiner Schüler ausgewiesen wird. Grundlegend für Ibn Esras Verständnis seiner Kommentierung ist die Einleitung in den Tora-Kommentar, denn dort legt er selbst die Grundlagen seiner Exegese fest und setzt sich mit anderen Schulen und Auslegern auseinander. Als exegetische „Gegner“ gelten jene, die ihre Auslegungen mit Exkursen anreichern, die Anti-Traditionalisten, die auf die rabbinische Exegese verzichten wollen, jene, die die Bibel allegorisch auslegen, sowie jene, die ausschließlich Midraschauslegung pflegen. Ibn Esra weist alle vier Extreme zurück und kündigt an, er wolle sich insbesondere dem Literalsinn des Textes (pešat; → peschat-Auslegung) unter Einschluss grammatikalischer Erklärungen widmen, folge aber in den legislativen Partien den rabbinischen Auslegungstraditionen. Seine Exegesen umfassen sprachliche, etymologische, grammatische und stilistische Beobachtungen. Der Umgang mit den Karäern ist schillernd: Viele werden zustimmend aufgenommen; er kann sie aber auch als „Hohlköpfe“ (reqê môach) zurückweisen. Viele seiner Auslegungen integrieren metaphysische Ansichten, mathematische Theorien oder astrologische Ausführungen.

Ibn Ezra formuliert als erster textkritische und sogar literar-historische Beobachtungen. Mehrmals formuliert er in verklausulierter Form die Überzeugung, dass die Tora nicht in toto von Mose verfasst worden sei. Dies hat ihm bisweilen den Titel „Vater der jüdischen Bibelkritik“ eingebracht.

2.2. Grammatische Schriften

Obwohl Ibn Esra kein eigenes grammatisches System entworfen hat, wurde er für Generationen als einer der Väter der hebräischen Grammatik betrachtet, und dies vor allem aus zwei Gründen: 1. Er sammelte das Material der frühen Philologen aus dem Osten und aus Spanien. 2. Im Gegensatz zu diesen früheren Grammatikern, schrieb er zwar auf Hebräisch, konnte aber Arabisch und brachte mit seinen Übersetzungen auf diese Weise das judäo-arabische Wissen zu den Juden Westeuropas, die bis dahin nur die Arbeiten von Menahem Ibn Saruq und Dunasch Ibn Labrat kannten. Es war Ibn Esra, der den Juden Westeuropas das dreiradikalige Wurzelsystem des Hebräischen vermittelte, basierend auf den Arbeiten von Juda Ibn Hajjuǧ, dessen Arbeiten er aus dem Arabischen übersetzt hatte.

2.3. Philosophische Schriften

Obwohl R. Abraham Ibn Esra kein systematischer Philosoph war, spielen philosophische Probleme eine zentrale Rolle in seinem Denken. Zwei kurze philosophische Arbeiten von ihm sind: Sefer ha-Schem (1834) über den Gottesnamen und Sefer Jesod Mora (Konstantinopel, 1530) über die Bedeutung der Gebote (ebenfalls mit einem Exkurs über den Gottesnamen am Ende, sehr ähnlich seinem Kommentar zu Ex 33,18ff). Zwei weitere Werke, die ihm zugeschrieben wurden, unter ihnen der Traktat Scha’ar ha-Schamajim, stammen wohl nicht von ihm. Ibn Esra integrierte seine philosophischen Ansichten hauptsächlich in seine biblischen Kommentare. In diesen Zusammenhängen, die oftmals auch nur Anspielungen in esoterischem Stil darstellen, finden sich dann oft Phrasen wie „Der Einsichtige versteht“ (ha-maśkil javin). Er wählte dieses Stilmittel, zum Einen, weil er meinte, bestimmte philosophische Ansichten seien nicht für gewöhnliche Gläubige, zum Anderen, weil er der Ansicht war, dass philosophische – manchmal auch esoterische – Spekulationen (Pl. sodot; Sg. sod) auch in geheimnisvoller Sprache ausgedrückt sein sollten.

Insgesamt ist es nicht einfach, aus seinen fragmentarischen und lakonischen Redensarten ein konsistentes System herauszudestillieren. Seine philosophische Grundhaltung war im Wesentlichen (vulgär-)neuplatonisch und stark von Salomo Ibn Gabirol beeinflusst. Er akzeptierte Gabirols Lehre, dass die intellegiblen Substanzen aus Materie und Form zusammengesetzt sind, und in seinen biblischen Kommentaren finden sich Auszüge aus Gabirols allegorischer Interpretation des Berichts über den Garten Eden (Gen 2-3). Er beschrieb die Verbindung Gottes zur Welt als eine panentheistische und emanatorische Relation zur Welt (wie Gabirol): hû’ ha-qol wə-ha-qol mimmenû „Er ist alles, und alles kommt von ihm“, Gott ist die Quelle, aus der alles fließt. Ibn Esra beschrieb den Prozess der Emanation der Welt aus Gott im Bild des Hervorgehens aller Zahlen aus der Eins oder im Bild der aus dem Mund ausströmende Luftstrom und Rede.

In der Schöpfungslehre (vgl. bes. den Kommentar zu Gen 1) verband Ibn Esra die neoplatonische Lehre von der Emanation mit der platonischen Theorie der Schöpfung. Mit merkwürdiger Inkonsistenz seines eigenen Ansatzes ging er davon aus, dass Form und Materie der intellegiblen Welt von Gott ausgingen, während die Erde präexistent und ungeschaffen sei. Die intelligible Welt sei wie Gott ewig, während die (Erden-)Welt in der Zeit stünde und nur vermittels der intellegiblen Welt geschaffen wurde, daher auch nicht ex nihilo, sondern aus der präexistenten Welt. Der biblische Bericht über Schaffung beziehe sich auch nur darauf. Dementsprechend interpretierte er das Wort ’älohîm „Gott“ (Gen 1,1) als die intelligible Welt, auch: die Engel und das Wort ārā’ „erschaffen“ im Sinn von „eingrenzen“. Er teilte das Universum in drei „Welten“ ein: die „obere Welt“ (die intelligible; Engelwelt), die „Mittelwelt“ der himmlischen Sphären und die niedere Welt, die sublunare, unsere Welt.

Auch Ibn Esras Theorie über die menschliche Seele ist grundsätzlich neuplatonisch. Die Quelle der rationalen Seele ist die Universalseele. Unsterblichkeit wird hier als eine Wiedervereinigung der rationalen Seele mit der Weltseele verstanden. Nach Ibn Esra liegt hierin auch das Wesen der Prophetie: Sie ist die Verbindung von der Seele des Propheten mit der Universalseele (devequt). Auch Gottes Vorsehung wird nur jenen gewährt, die zu intellektueller Vollkommenheit gelangt sind, und denen es gelungen sei, sich mit dem allgemeinen Intellekt zu vereinigen.

Die Verbindung von der Seele des Propheten mit der Universalseele (devequt) und die Relation zwischen Gottes Herrlichkeit (kāvôd) und der Welt findet sich am Ende vom Sefer Jesod Mora sowie in einem langen Exkurs im Kontext der Auslegung zu Ex 33,18ff. Im Gegensatz zu → R. Saadja Gaon, der als erster jüdischer Philosoph den kāvôd als geschöpfliche Lichterscheinung, eine Art Engel, definiert hatte, der sich den Propheten gezeigt habe, beschreibt R. Abraham Ibn Esra den kāvôd als eine aus Gott emanierte Größe, die zwei Haftpunkte oder „Gesichter“ (pānîm) besitze: das eine der Schöpfung, das andere dem Wesen Gottes selbst zugewandt und mit ihm verhaftet (devequt). Das Gesicht, das Gott anhaftet, kann der Prophet nicht schauen. Er sieht lediglich die „Rückseite“ des kāvôd, jenen der geschöpflichen Welt zugewandten Teil.

3. Wirkung

Ibn Esras Tora-Kommentar wurde 1488 erstmals gedruckt, allerdings mit dem langen Exodus-Kommentar (der kurze wurde erst 1840 erstmals gedruckt). Seine Bibel-Kommentare genossen große Beliebtheit und waren neben → Raschis Kommentaren die am häufigsten herangezogenen (→ Rabbinerbibel). Sie faszinieren den Leser bis heute nicht nur wegen ihres enzyklopädischen Charakters, sondern auch wegen ihres knappen, konzisen und rätselhaften Stils und wegen des Witzes und der Satire, die sie enthalten. Zahlreiche Superkommentare wurden verfasst.

Ibn Esras kāvôd-Theologie ist im beginnenden 13. Jh. vor allem von den jüdischen Mystikern aus dem Rheinland (chasidê ’aškǎnaz) aufgenommen und weiterentwickelt worden.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996

2. Weitere Literatur

  • Baer, Y., 1971, A History of the Jews in Christian Spain, Volume I: From the Age of Reconquest to the Fourteenth Century, translated by. L. Schoffman, Philadelphia
  • Greive, H., 1973, Studien zum jüdischen Neuplatonismus. Die Religionsphilosophie des Abraham Ibn Ezra, Berlin / New York 1973
  • Golb, N., 1998, The Jews in Medieval Normandy. A social and intellectual history, Cambridge / Mass.
  • Strickman, H.N., 1988-2004, Ibn Ezra’s Commentary on the Pentateuch, 5 Bde.
  • Twersky, I. (Hg.), 1993, Rabbi Abraham Ibn Ezra: studies in the writings of a twelfth century Jewish polymath

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