Deutsche Bibelgesellschaft

Tischendorf, Constantin von

(erstellt: Oktober 2012)

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1. Einleitung

Constantin von Tischendorf gilt als einer der interessantesten Vertreter neutestamentlicher Textforschung im 19. Jh. Auf ausgedehnten Reisen spürte er neue Handschriften auf und machte sie in mustergültigen Editionen zugänglich. In der Entdeckung und Publikation des → Codex Sinaiticus erreichten seine Forschungen dabei ihren Höhepunkt. Der Streit um den Transfer dieser wertvollen Handschrift nach St. Petersburg ließ Tischendorf dann zu einer Reizfigur werden, an der sich die Frage nach dem Umgang mit den Handschriftensammlungen orientalischer Klöstern auf grundsätzliche Weise entzündete. Durch die Publikation der Schenkungsdokumente inzwischen persönlich rehabilitiert, bleibt seine Geschichte ein Beispiel für die Entwicklung wissenschaftlicher Beziehungen zwischen Orient und Occident.

2. Leben

Lobegott Friedrich Constantin wurde am 18. Januar 1815 in der Kleinstadt Lengenfeld im sächsischen Vogtland als neuntes von elf Kindern des Gerichtsarztes Johann Christlieb Tischendorf und seiner Frau Christine Eleonore, geb. Thomas, geboren. Das Wohnhaus der Familie existiert nicht mehr. Auch die Taufkirche ist nach dem großen Stadtbrand im Mai 1856 völlig neu aufgebaut worden. Heute erinnert allein das Gemeindehaus der evangelischen Kirchgemeinde, das seit 1924 den Namen Tischendorfs trägt, an den großen Sohn der Stadt.

Nach dem Besuch der Bürgerschule in Lengenfeld wechselte Tischendorf 1829 auf das Gymnasium in Plauen. Zu Ostern 1834 bezog er die Universität Leipzig und nahm dort das Studium der Theologie auf. Prägend wurde für ihn vor allem Johann Georg Benedict Winer (1789-1858), der sich des Studenten in väterlicher Weise annahm. Winers Einfluss ist es zu verdanken, dass der junge Tischendorf schon bald seine wenig glücklichen poetischen Versuche aufgab und sich ganz der neutestamentlichen → Exegese widmete. Mit dem Titel eines Dr. phil. beendete Tischendorf zu Ostern 1838 seine Leipziger Studienzeit und trat im nahe gelegenen Großstädteln die Stelle eines Hauslehrers bei Pfarrer Ferdinand Leberecht Zehme (1785-1858) an. Hier verlobte er sich heimlich mit Angelika Zehme. Erste Handschriftenreisen führten ihn 1839 und 1840 nach Süddeutschland, in die Schweiz und nach Straßburg. Als Ergebnis dieser Bemühungen legte er eine Edition des Novum Testamentum graece nach neuen methodischen Grundsätzen vor, die 1841 in Leipzig erschien und die ihm 1843 den theologischen Ehrendoktor der Universität Breslau eintrug. Mit den Prolegomena zu dieser Ausgabe hatte er sich bereits Anfang Oktober 1840 in Leipzig habilitiert.

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Ende Oktober 1840 brach er auf, um in Paris den Codex Ephraemi rescriptus, eine als unlesbar geltende Palimpsesthandschrift mit neutestamentlichem Text aus dem 5. Jh., zu studieren. Während der folgenden zwei Jahre gelang ihm gegen alle Erwartungen die Entzifferung dieses bedeutenden Textzeugen, was ihm außer einer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit zugleich auch finanzielle Unterstützung von verschiedenen Seiten einbrachte. Ausgestattet mit neuen Mitteln setzte er nun seine Bibliotheksbesuche fort und bereiste von Paris aus England, Frankreich, die Schweiz und Italien. Sein Hauptinteresse galt vor allem anderen dem Codex Vaticanus in Rom, zu dem er jedoch nur begrenzt Zugang erhielt. Im März 1844 setzte er von Livorno aus nach → Alexandrien über und suchte die Bibliotheken Ägyptens auf. Im Katharinenkloster auf dem → Sinai gelang ihm dabei eine Entdeckung, die seine weiteren Forschungen maßgeblich bestimmen sollte: In einem Korb der Klosterbibliothek fand er 129 Blätter einer griechischen Handschrift mit Text aus dem Alten Testament, die offensichtlich Teil einer vollständigen Bibelhandschrift aus dem 4. Jh. waren. Die 43 Blätter, die man ihm überließ, veröffentlichte Tischendorf nach seiner Rückkehr (1846), ohne jedoch ihren Fundort preiszugeben. Denn fortan bestand sein erklärtes Ziel darin, nun auch die restlichen Blätter aufzufinden und zugänglich zu machen. Zu Weihnachten 1844 kehrte er von dieser so unerwartet langen, jedoch ausgesprochen erfolgreichen Reise zurück. Die Universität Leipzig hatte ihm unterdessen eine außerordentliche Professur verliehen. Im September 1845 erfolgte die Heirat mit Angelika Zehme und die Gründung eines Hausstandes in Leipzig. Im Laufe der Jahre wurden der Familie acht Kinder geboren.

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In Leipzig ging Tischendorf unverzüglich an die Erschließung seiner umfangreichen, auf der ersten Reise gesammelten Materialien, entwickelte eine intensive Publikationstätigkeit und avancierte 1850 zum Honorarprofessor. Mit Unterstützung der sächsischen Regierung unternahm er 1853 eine zweite Reise zum Sinai, die jedoch erfolglos blieb; die seinerzeit zurückgelassenen Blätter schienen inzwischen verschollen zu sein. 1859 schließlich brach er zu einer dritten Orientreise auf, die im Auftrag der russischen Regierung erfolgte. Am Abend des 4. Februar offerierte ihm dabei in einer denkwürdigen und seither oft nacherzählten Szene der Oikonomos des Klosters die gesuchten 86 Blätter, ergänzt um weitere 260 Blätter, die das vollständige Neue Testament sowie den → Barnabasbrief und den → Hirten des Hermas (unvollständig) enthielten. Dieser Text ließ sich nur noch mit dem Codex Vaticanus (4. Jh.) und dem → Codex Alexandrinus (5. Jh.) vergleichen. Der Fund des Codex Sinaiticus stellte eine Sensation dar, die in der gelehrten Welt sofort mit größter Aufmerksamkeit wahrgenommen wurde.

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Die folgenden drei Jahre widmete Tischendorf dem Faksimiledruck des Codex, der 1862 in St. Petersburg erschien, sowie dessen wissenschaftlicher Erschließung. 1859 richtete ihm die Universität Leipzig dafür einen Lehrstuhl für “Biblische Paläographie und Theologie” ein; Angebote anderer Universitäten schlug er aus. In rastloser Tätigkeit setzte er die → textkritische Arbeit am Neuen Testament, der → Septuaginta, dem Text der → Vulgata sowie an der Edition → apokrypher Schriften fort, hielt Vorträge, verfasste populäre Schriften und machte Leipzig zu einem Zentrum neutestamentlicher Textforschung. Die Turbulenzen um die Schenkung der 346 Blätter von 1859 an Zar Alexander II. durch die Väter vom Sinai wurden 1869 beigelegt. Tischendorf erhielt mit der Verleihung des Stanislausordens 1. Klasse am russischen Hof zugleich den erblichen Adel, der 1869 von der sächsischen Regierung bestätigt wurde.

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Am 5. Mai 1873 erlitt Tischendorf in Leipzig einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr zu erholen vermochte. Am 7. Dezember 1874 verstarb er im Alter von 59 Jahren. Seine Beerdigung fand am 10. Dezember unter großer öffentlicher Beteiligung auf dem neuen Johannisfriedhof in Leipzig statt. Der dort gesetzte Grabstein sowie eine Gedenkplatte sind heute links der Tür an der Friedhofskapelle seines Heimatortes Lengenfeld platziert. An dem gegenwärtig in der Eisenbahnstraße Nr. 8 in Leipzig befindlichen Haus ist eine kleine Gedenktafel angebracht, die an die letzte Wohnung der Familie Tischendorf erinnert - auch wenn das Haus und der Straßenverlauf heute nicht mehr mit den Gegebenheiten am Ende des 19. Jhs. übereinstimmen.

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3. Werk

Im Zentrum von Tischendorfs Arbeiten steht das Novum Testamentum graece, dessen Edition er kontinuierlich verbesserte und verfeinerte. Im Laufe seines Lebens veröffentlichte er insgesamt 24 Auflagen nach 11 selbständigen Drucken zu vier Hauptrezensionen. Den Höhepunkt stellt dabei die Editio octava critica maior dar (I 1869 / II 1872), deren Prolegomena von seinem Leipziger Nachfolger Caspar René Gregory verfasst wurden (III 1894). In dieser letzten großen Ausgabe nimmt inzwischen der Codex Sinaiticus die führende Position ein. Eine Synopsis Evangelica, die 1851 zum ersten Mal erschien, erlebte insgesamt 8 Auflagen.

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Die Septuaginta legte Tischendorf seit 1850 in insgesamt 7 Auflagen des Vetus Testamentum graece vor. Den Text der Vulgata Clementina präsentierte er 1873 in Form des Novum Testamentum latine auf der Basis eigener Kollationen. Im Umfeld dieser Standardausgaben entstanden zudem Editionen einzelner wichtiger Textzeugen wie etwa des Codex Ephraemi rescriptus (1843 / 1845), des Evangelium Palatinum (1847), des Codex Claromontanus (1852) oder des Codex Amiatinus (1854). In den Monumenta sacra inedita (1846) sowie in den 7 Bänden der Monumenta sacra inedita. Nova collectio (1855-1879) veröffentlichte er eine Fülle weiterer relevanter Materialien zum Bibeltext.

Gleichsam en passant stieß Tischendorf bei seinen Recherchen auch auf eine Reihe apokrypher Texte, die er in drei Sammlungen zugänglich machte: Acta Apostolorum apocrypha (1851), Evangelia apocrypha (1853) und Apocalypses apocryphae (1866). Einige dieser Texte liegen darin in ihrer Erstveröffentlichung vor. Wichtige Ausgaben veranstaltete Tischendorf ebenso zum Hirten des Hermas (1857) und zu den beiden → Clemensbriefen (1859).

Unter den exegetischen Schriften gelangten vor allem zwei zu größerer Popularität: Wann wurden unsere Evangelien verfasst? (seit 1865 in 4 Auflagen und 8 Übersetzungen) sowie Die Echtheit unserer Evangelien (seit 1869 in 2 Auflagen und 2 Übersetzungen). Die weniger zahlreichen Aufsätze betreffen vor allem Berichte über verschiedene Handschriftenbestände und laufende Editionsvorhaben.

Zugleich verstand es Tischendorf, durch unterhaltsame Reisebeschreibungen ein breites Publikum für das Thema der biblischen Textforschung zu interessieren. Neben regelmäßigen Artikeln in der Augsburger Allgemeinen Zeitung verfasste er umfangreiche Berichte zu allen drei großen Reisen: Reise in den Orient (1845 / 1846), Neue Reisebilder aus dem Orient (1853 in Fortsetzung im Dresdner Journal) und Aus dem Heiligen Lande (1862). Das Buch Die Sinaibibel (1871) fasst noch einmal im Rückblick die gesamte Entdeckungs-, Publikations- und Schenkungsgeschichte des Codex Sinaiticus zusammen.

4. Codex Sinaiticus

Die Entdeckung des Codex Sinaiticus durch Constantin Tischerndorf erregte in der Mitte des 19. Jhs. ein ähnliches Aufsehen wie die Entdeckung der → Qumrantexte in der Mitte des 20. Jhs. Mit diesem Fund gelang es, den Text der griechischen Bibel bis in das 4. Jh. zurückzuverfolgen und dort auf eine solide handschriftliche Basis zu stellen.

Im Ganzen erstreckte sich die Entdeckung des Codex über einen Zeitraum von 15 Jahren (1844-1859). 1975 erlebte sie durch die neuen Handschriftenfunde im Kloster, die auch noch einmal weitere 18 Blätter zum Codex Sinaiticus beizusteuern vermochten, ein bemerkenswertes Nachspiel. Tischendof war indessen nicht der erste und einzige Westeuropäer, der die Blätter im Katharinenkloster sah. 1761 sind sie vermutlich schon einmal von dem italienischen Naturforscher Vitaliano Donati (1717-1762) gesehen und beschrieben worden. 1845, kurz nach Tischendorfs erstem Besuch, hielt sie der russische Archimandrit Porfirij Uspenskij (1804-1885) in der Hand, der sie 1856 auch in einem Reisebuch beschrieb, dabei jedoch - wie schon Donati vor ihm - in ihrer Bedeutung verkannte. Es blieb Tischendorf vorbehalten, diese Blätter zu identifizieren und für die wissenschaftliche Nutzung zu erschließen.

Um den Fund von 1844 hat es eine kontroverse Diskussion gegeben, in der man vor allem jenen ominösen Korb in Frage stellte. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass es sich hierbei tatsächlich um einen Abfallkorb handelte. Runde Körbe sind definitiv keine Behältnisse für Handschriften - erst recht nicht für solche in der rechteckigen Form des Codex. Tischendorf irrte wohl nur in der Annahme, dass der Inhalt dieses Korbes zum Verbrennen gedacht sei, wofür sich Pergament denkbar schlecht eignet. Vielmehr sind die aussortierten Pergamentblätter in diesem Abfallkorb (der übrigens auch von anderen Reisenden beschrieben worden ist) für ihre sekundäre Weiterverwendung, hauptsächlich wohl für Bucheinbände, aufbewahrt worden. 1853 fand Tischendorf einen Pergamentstreifen, der ebenfalls zu dem ursprünglichen Codex gehörte, als Lesezeichen in einem Band mit Heiligenviten. 2009 hat man erneut eine als Einband verwendete Seite des Codex in der Klosterbibliothek entdeckt.

Die größten Kontroversen gab es um den Fund von 1859. Da die Väter ein Kaufangebot ablehnten, erbat Tischendorf zunächst den Transfer der Blätter in das Kairoer Metochion des Klosters, wo er sie sukzessive einer ersten Abschrift unterzog. Für die Arbeit an der Drucklegung arrangierte er sodann die Ausleihe des gesamten Bestandes, die in einer “Quittung” vom 16./28. 1859 dokumentiert ist. Gleichzeitig schlug er den Vätern vor, den Codex Zar Alexander II. als einem ihrer mächtigsten Protektoren zum Geschenk zu machen. Dieser Gedanke, der grundsätzlich positiv aufgenommen wurde, geriet jedoch durch ein Interim bei der Wahl eines neuen Erzbischofs ins Stocken. Die folgenden Turbulenzen, die mit der Wahl, der unkanonischen Weihe und schließlich der Absetzung des umstrittenen Kandidaten Kyrillos zehn Jahre lang andauerten, zogen auch das Schenkungsprojekt in ein Zwielicht verschiedener Verdächtigungen. Nach der erfolgreichen Wahl eines neuen Konsenskandidaten wurde die Schenkung dann jedoch 1869 rechtskräftig vollzogen. Der Codex, der nach seiner Publikation 1862 im Status eines diplomatischen Gastes im russischen Außenministerium gelegen hatte, ging dadurch in das Eigentum Russlands über und wurde nun in die Öffentliche Bibliothek in St. Petersburg überführt. Die Schenkungsdokumente, die auf den 13. und 18. November 1869 datieren, sind 2007 in Russland veröffentlicht worden.

Im Dezember 1933 wurde der Codex dann von der Regierung der Sowjetunion an das Britische Museum in London verkauft - für gut 100.000 Pfund, die zur Hälfte durch Spenden aus der Bevölkerung aufgebracht wurden.

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Tischendorf hatte die 43 Blätter von 1844 nach seiner Rückkehr als Codex Friderico-Augustanus 1846 in Leipzig publiziert. Das Fragment (Lesezeichen) von 1853 veröffentlichte er 1857 in seinen Monumenta sacra inedita. Die Faksimiledition der 346 Blätter von 1859, die in der Rekordzeit von drei Jahren erfolgte und 1862 als Bibliorum Codex Sinaiticus Petropolitanus pünktlich zum 1000jähigen Jubiläum der russischen Monarchie erschien, gehört zu den gediegensten Ausgaben ihrer Art. Seit 2009 ist der gesamte Codex im Ergebnis eines internationalen Projektes inzwischen auch in digitaler Form im Internet zugänglich.

5. Konflikte

Der Erfolg seiner Handschriftenforschungen trug Tischendorf außer einer breiten internationalen Anerkennung auch verschiedene Konflikte ein.

Spannungsvoll entwickelte sich vor allem Tischendorfs Beziehung zu Porfirij Uspenskij (1804-1885), der als russischer Orientexperte selbst mehrfach den Sinai besucht und dabei auch die 346 Blätter von 1859 noch vor Tischendorf in der Hand gehalten hatte - freilich ohne ihren Wert zu erkennen. Gekränkt durch die Bevorzugung eines deutschen lutherischen Professors am Hof in St. Petersburg, meldete er sich in der Endphase der Publikation 1862 auf widersprüchliche Weise zu Wort: Einerseits reklamierte er nachdrücklich den Ruhm der Entdeckung für sich; andererseits versuchte er mit einer kleinen Broschüre die Rechtgläubigkeit des Codex grundsätzlich in Frage zu stellen und damit dessen Publikation zu verzögern. Diese Vorwürfe, die jeder Sachkenntnis entbehrten, wurden von dem gelehrten Avraam Norov, dem früheren russischen Bildungsminister und Protektor Tischendorfs, umgehend schriftlich widerlegt. Tischendorf selbst ist später noch mehrfach darauf eingegangen. Trotz wiederholter Begegnungen blieb die Beziehung zwischen beiden Männern gespannt.

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Aus England meldete sich 1862 der Grieche Constantin Simonides zu Wort, der aufgrund eines Gutachtens von Tischendorf 1856 in Leipzig als Handschriftenfälscher überführt und verhaftet worden war. Nun drehte er den Spieß um und behauptete, er selbst habe den von Tischendorf entdeckten Codex 1839 in einem Kloster auf dem Berge Athos geschrieben und dabei verschiedene alte Manuskripte als Vorlagen benutzt. Die Widersprüche in seiner Darstellung, die offensichtlich nicht aus eigener Anschauung der Handschrift, sondern allein aus Tischendorfs vorläufigen Mitteilungen kombiniert war, erleichterten die Widerlegung dieser durchsichtigen Behauptung. Dennoch erfreute sich diese Affäre gerade in der englischen Presse noch lange Zeit großer Beliebtheit.

In Deutschland erwuchs Tischendorf eine ganz unerwartete Gegnerschaft von Seiten biblizistischer Kreise, die den alten textus receptus als inspiriert betrachteten und die von Tischendorf zu Blüte und Popularität geführte textkritische Arbeit grundsätzlich in Frage stellten. Diese Vorwürfe setzten Tischendorf, der seinerzeit als konservativer Lutheraner und Kämpfer gegen die Evangelienkritik eines → David Friedrich Strauß ausgezogen war, ganz besonders zu.

Zunehmend komplizierter gestaltete sich Tischendorfs Verhältnis zu den Vätern vom Sinai. Aus einer anfänglichen gegenseitigen Zurückhaltung entwickelten sich mit der Zeit freundschaftliche Beziehungen. Namentlich die dritte Reise im Auftrag Russlands erwies sich dabei als förderlich. Während der Wirren um die Wahl eines neuen Erzbischofs geriet indessen auch Tischendorf zwischen die Linien verschiedener Parteien. Lange Zeit setzte er mit Kyrillos auf den letztlich falschen Kandidaten. Der Vorwurf der Korruption, den man im Umfeld der späteren Absetzung Kyrills erhob, tangierte auch das Schenkungsprojekt. Als die Schenkung dann schließlich doch noch vollzogen wurde, war Tischendorf bereits nicht mehr in die Verhandlungen involviert. Schon von der Mitte der 1870 Jahre an aber kolportierte man im Kloster gegenüber Reisenden, dass Tischendorf den Codex gestohlen habe, wobei man sich stets auf jene “Quittung” vom September 1859 berief. Diese Quittung wurde allerdings erst 1964 im Druck zugänglich gemacht und danach für einige Jahre den Besuchern des Klosters in einem Glasrahmen mit englischer Übersetzung gezeigt, der sich heute im internen Bereich der Bibliothek befindet. Die Schenkungsdokumente hingegen, deren Existenz Caspar René Gregory bereits 1878 von der russischen Regierung hatte bestätigen lassen, gelten im Kloster bis heute als verschollen. Inzwischen bahnt sich jedoch im Zuge des gemeinsamen Digitalisierungsprojektes (2005-2009) sowie der Veröffentlichung der Schenkungsdokumente (2007) auch von Seiten des Klosters eine neue, gleichwohl weiterhin kritische Sicht jener Ereignisse zwischen 1859 und 1869 rund um den Codex Sinaiticus an.

Ein persönlicher Konflikt überschattete noch einmal Tischendorfs letzte Lebensjahre. Im Sommer 1871 nahm er an einer Deputation der Evangelischen Allianz teil, die bei Alexander II. hinsichtlich der bedrängten Lage der Lutheraner in den russischen Ostseeprovinzen vorstellig wurde. Das Unternehmen scheiterte jedoch, wofür der Schweizer Deputierte Ludwig von Wurstemberger vornehmlich Tischendorf in einer 1872 veröffentlichten Broschüre die Verantwortung anlastete. Dieser wehrte sich mit einer Gegendarstellung, die von Wurstemberger 1873 wiederum literarisch konterte. Aus gesundheitlichen Gründen musste Tischendorf seinem Kontrahenten in diesem Falle das letzte Wort überlassen.

6. Theologische Bedeutung

Tischendorfs theologische Bedeutung konzentriert sich nahezu ausschließlich auf die textkritische Arbeit am griechischen Bibeltext. Mit seiner Editio octava critica maior hat er eine unverzichtbare Grundlage für alle modernen Ausgaben des Novum Testamentum graece geschaffen. Die Liste der neutestamentlichen Handschriften ist von ihm erheblich erweitert worden. In der paläographischen Beurteilung der handschriftlichen Überlieferung des griechischen Bibeltextes hat er neue Standards geschaffen. Diese Tradition neutestamentlicher Textkritik wurde dann von seinem Nachfolger in Leipzig, dem gebürtigen Amerikaner und Wahlsachsen Caspar René Gregory (1846-1917), noch einmal aufgenommen und weitergeführt.

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An den theologischen Debatten seiner Zeit hat Tischendorf als ein wacher Beobachter teilgenommen, ohne dabei jedoch eigene Akzente zu setzen. Die Vollendung einer griechischen Paläographie, für die er schon umfangreiche Vorarbeiten geleistet hatte, war ihm nicht mehr vergönnt. Von den Papyrusfunden, die den Text des Neuen Testamentes heute noch einmal über die Pergamentcodices des 4. Jhs. zurück bis ins 2. Jh. zu verfolgen gestatten, hätte er wohl kaum zu träumen gewagt. So ist er vor allem als der leidenschaftliche Handschriftensammler und Textkritiker, vor allem aber als der Entdecker des berühmten Codex Sinaiticus in Erinnerung geblieben.

Literaturverzeichnis

1. Bibliographien (chronologisch)

  • Volbeding, Johann Ernst: Constantin Tischendorf in seiner fünfundzwanzigjährigen schriftstellerischen Wirksamkeit. Literar-historische Skizze, Leipzig 1862
  • Am Sarge und Grabe des D. th. Constantin von Tischendorf gestorben am 7. bestattet am 10. Dec. 1874. Fünf Reden und Ansprachen, nebst einem Rückblick auf das Leben und einem Verzeichniß sämmtlicher Druckwerke des Verstorbenen, Leipzig 1874
  • Bertheau, Carl: Art. Tischendorf, in: 2RE 19, Leipzig 1885, 672-691, dass. als Kurzfassung in: 3RE 19, Leipzig 1907, 788-797
  • Böttrich, Christfried: Bibliographie Konstantin von Tischendorf (1815-1874), Leipzig 1999

2. Werke Tischendorfs (Auswahl)

2.1. Texteditionen

  • Acta Apostolorum apocrypha …, Leipzig 1851, 2. Auflage in drei Bänden 1891 / 1898 / 1903, Nachdr. Darmstadt 1959
  • Anecdota sacra et profana ex Oriente et Occidente …, Leipzig 1855
  • Apocalypses apocryphae …, Leipzig 1866, Nachdr. Hildesheim 1966, 21985
  • Biblia sacra latina Veteris Testamenti Hieronymo interprete …, Leipzig 1873
  • Bibliorum Codex Sinaiticus Petropolitanus …, Bde. I-IV, I: Prolegomena. Commentarius. Tabulae, II: Veteris Testamenti pars prior, 87 Blatt, III: Veteris Testamenti pars posterior, 112 Blatt, IV: Novum Testamentum cum Barnaba et Pastore, 148 Blatt, Petropoli 1862, Nachdr. Hildesheim 1969
  • Codex Amiatinus …, Leipzig 1854
  • Codex Claromontanus …, Leipzig 1852
  • Codex Ephraemi syri rescriptus …, Leipzig I 1843 / II 1845
  • Codex Friderico-Augustanus …, Leipzig 1846
  • Evangelia apocrypha …, Leipzig 1853, 21876, Nachdr. Hildesheim 1966, 21987
  • Evangelium Palatinum ineditum …, Leipzig 1847
  • Monumenta sacra inedita …, Leipzig 1846
  • Monumenta sacra inedita. Nova collectio Bde. I-VI. IX, Leipzig 1855 / 1857 / 1857 / 1869 / 1865 / 1869 / 1870
  • Novum Testamentum graece …, in 24 Auflagen (über Tischendorfs Tod hinaus in insgesamt 41 Auflagen), nach 12 selbständigen Drucken, in 4 Hauptrezension, alle in Leipzig zwischen 1841 und 1873; lediglich 2/3/41842 erschienen in Paris
  • Novum Testamentum latine …, Leipzig / Paris / London 1864
  • Novum Testamentum Sinaiticum …, Leipzig 1863
  • Novum Testamentum Vaticanum …, Leipzig 1867
  • Synopsis Evangelica ex quatuor evangeliis …, Leipzig 1851, 21864, 31871, 41878, 51885, 61891, 71898
  • Vetus Testamentum graece juxta LXX interpretes …, Leipzig 1850, 2/3/41856, 51875, 61880, 71887

2.2. Schriften

  • Aus dem heiligen Lande, Leipzig 1862
  • Die Anfechtungen der Sinai-Bibel, Leipzig 1863
  • Die Echtheit unserer Evangelien, in: Neun Apologetische Vorträge über einige wichtige Fragen und Wahrheiten des Christenthums, herausgegeben von dem Vorstande des Vereins für innere Mission in Bremen, Gotha 1869, 259-286
  • Die evangelische Alliance-Deputation an Kaiser Alexander zu Friedrichshafen. Zur Abwehr der groben Entstellungen und Verleumdungen des Herrn von Wurstemberger (zu Bach bei Bern), Leipzig 1872
  • Die Manuscripta Tischendorfiana in der Universitätsbibliothek zu Leipzig …, in: Serapeum 8, 1847, 49-61.65-78
  • Die Sinaibibel. Ihre Entdeckung, Herausgabe und Erwerbung, Leipzig 1871
  • Neue Reisebilder aus dem Orient, Dresdner Journal. Feuilleton Nr. 51, 3.3. 1853, 211-212; Nr. 52, 4.3. 1853, 216; Nr. 91, 21.4. 1853, 381-382; Nr. 92, 22.4. 1853, 385-386; Nr. 93, 23.4. 1853, 389-390; Nr. 96, 27.4. 1853, 403-404
  • Notitia editionis codicis Bibliorum Sinaitici …, Leipzig 1860
  • Rechenschaft über meine handschriftlichen Studien auf meiner wissenschaftlichen Reise von 1840 bis 1844, in: Jahrbücher der Literatur (Wien). Anzeige-Blatt für Wissenschaft und Kunst; 110, 1845, 1-19 (I/II ); 112, 1845, 25-42 (III/IV ); 114, 1846, 45-58 (V); 117, 1847, 1-24; 120, 1847, 36-56; 121, 1848, 50-72; 123, 1848, 40-46; 124, 1848, 1-8; 126, 1849, 1-76
  • Reise in den Orient, 2 Bde., Leipzig 1845 / 1846
  • Waffen der Finsternis wider die Sinaibibel. Zunächst an die Leser des sächsischen Kirchen- und Schulblatts, Leipzig 1863
  • Wann wurden unsere Evangelien verfasst? Leipzig 1865, 21865, 31865 (= Volksausgabe), 41866, dazu Übersetzungen in acht Sprachen
  • Zur Kritik des Neuen Testaments, in: Theologische Studien und Kritiken 15, 1842 Heft 2, 496-511

3. Sekundärliteratur

  • Aland, Kurt: Konstantin von Tischendorf (1815-1874). Neutestamentliche Textforschung damals und heute, SSAW.PH 133/2, Berlin 1993
  • Behrend, Hildegard: Auf der Suche nach Schätzen. Aus dem Leben Constantin von Tischendorfs, Berlin 1952, 101970
  • Bénéchevitch, Vladimir Nikola’ević: Les manuscrits Grecs du Mont Sinaï et le monde savant de l’Europe depuis le XVIIe siècle jusque’à 1927, Texte und Forschungen zur byzantinisch-neugriechischen Philologie 21, Athen 1937
  • Black, Matthew / Davidson, Robert (Hg.): Constantin von Tischendorf and the Greek New Testament, [darin: R. Davidson, Tischendorf - The Man and the Library, 5-24; M. Black, After 100 Years: The Text of the Greek New Testament, 25-78; P. Asplin / J. Baldwin, Tischendorf’s Library, 79-91], Glasgow 1981
  • Böttrich, Christfried: Caspar René Gregory (1846-1917). Ein amerikanischer Neutestamentler in Leipzig, Herbergen der Christenheit 26, 2002, 71-83
  • Böttrich, Christfried: Constantin Tischendorf und Avraam Norov. Protestantisch-orthodoxe Bemühungen um den Bibeltext in der Mitte des 19. Jhs., in: Logos im Dialogos. Auf der Suche nach der Orthodoxie. Gedenkschrift für Hermann Goltz (1946-2010), hg. von Anna Briskina-Müller, Armenuhi Drost-Abgarjan und Axel Meißner, Forum Orthodoxe Theologie 11, Berlin 2011, 91-111
  • Böttrich, Christfried: Der Jahrhundertfund. Entdeckung und Geschichte des Codex Sinaiticus, Leipzig 2011
  • Böttrich, Christfried: Tischendorf-Lesebuch. Bibelforschung in Reiseabenteuern, Leipzig 1999
  • Böttrich, Christfried / Fahl, Sabine / Fahl, Dieter: Das Dossier des russischen Ministers Golovnin von 1862 zur Frage des “Codex Sinaiticus”, Scriptorium 63/2, 2009, 288-326
  • Elliott, James K.: Codex Sinaiticus and the Simonides Affair. An Examination of the nineteenth century claim that Codex Sinaiticus was not an ancient manuscript, Analecta Vlatadon 33, Thessaloniki 1982
  • Gregory, Caspar René: Novum Testamentum graece … Editio octava critica maior, Volumen III. Prolegomena scripsit Caspar Renatus Gregory, Lipsiae 1894
  • Hotzelt, Wilhelm: Die kirchenrechtliche Stellung von Bistum und Kloster Sinai zur Zeit der Entdeckung der Sinaibibel, ThLZ 74, 1949, 457-470
  • Kolovou, Foteini / Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Tischendorf und die Suche nach der ältesten Bibel. Katalog zur Ausstellung in der Bibliotheca Albertina, 18. Februar – 29. Mai 2011, Leipzig 2011
  • Lindner, Alfred: Constantin von Tischendorf (1815-1874). Seine Abstammung und seine Familie, in: Mitteilungen des Roland Dresden. Verein zur Förderung der Stamm-, Wappen- und Siegelkunde e.V. und der Sächsischen Stiftung für Familienforschung 12, 1927, 71-77
  • Parker, David C.: Codex Sinaiticus. The Story of the World’s Oldest Bible, London 2010; ders., Codex Sinaiticus. Geschichte der ältesten Bibel der Welt, Stuttgart 2012
  • Schneller, Ludwig: Ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort. Festpredigt bei Einweihung des Tischendorf-Hauses in Lengenfeld i.V. (Sachsen) am 1. Juli 1928. 2. Sonntag nach Trinitatis, in: ders., Christus allein. Predigten für die festlose Hälfte des Kirchenjahrs, Leipzig 1929, 24-34
  • Ševčenko, Igor: New Documents on Constantine Tischendorf and the Codex Sinaiticus, Scriptorium 18, 1964, 55-80
  • Stavrou, Theofanis George: Russian Interest in Palestine 1882-1914. A Study in Religious and Educational Enterprise, Thessaloniki 1963
  • Stavrou, Theofanis George: Russian Interest in the Levant 1843-1848. Porfirii Uspenskii and Establishment of the First Russian Ecclesiastical Mission in Jerusalem, The Middle East journal 17, 1963, 91-103
  • Stavrou, Theofanis George / Weisensel, Peter Roy: Russian Travelers to the Christian East from the Twelfth to the Twentieth Century, Columbus 1968
  • Wartenberg, Günther: Zur Erforschung des Neuen Testaments an der Leipziger Theologischen Fakultät im 19. Jahrhundert, in: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. v. K. Czok, ASGW.PH 71/3, Berlin 1987, 227-235
  • www.codexsinaiticus.org / www.codex-sinaiticus.net: digitale Edition des Codex Sinaiticus, letzter Zugriff Juli 2012
  • Zacharova, Anna V.: Istorija Priobretenija Sinajskoj Biblii Rossiej v Svete Novych Dokumentov iz Rossijskich Archivov, in: Montfaucon. Études de paléographie, de codicologie et de diplomatique 1, Moskau / St. Petersburg 2007, 209-267

Abbildungsverzeichnis

  • Constantin Tischendorf (1847).
  • Katharinenkloster (19. Jh.).
  • Textanordnung im “Codex Sinaiticus”.
  • Constantin Tischendorf (1859).
  • Grabstein und Gedenkplatte Tischendorfs, ehemals Neuer Johannisfriedhof Leipzig
  • Grabstein und Gedenkplatte Tischendorfs, heute an der Friedhofskapelle in Lengenfeld.
  • Gedenktafel Tischendorfs in der Eisenbahnstr. 8, Leipzig.
  • Editio octava critica maior (1869 / 1872).
  • Bibliorum Codex Petropolitanus (1861).
  • Internetedition des “Codex Sinaiticus” (http://www.codex-sinaiticus.net), Römerbrief.
  • Porfirij Uspenskij (1804-1885).
  • Constantin von Tischendorf (1874).

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