Deutsche Bibelgesellschaft

Vitae Prophetarum

(erstellt: März 2017)

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1. Literarischer Charakter und Herkunft

Vitae Prophetarum (übersetzt: „Die Leben der Propheten“) ist der Titel einer Sammlung von Prophetenlegenden. Sie gehören in den größeren Bereich der hagiographischen Literatur. In einer je nach Überlieferung teilweise variierenden Reihenfolge (vgl. Schwemer 1995, 28f.) enthalten die Vitae Prophetarum legendarische Texte über Leben, Sterben und Taten der großen Schriftpropheten → Jesaja, → Jeremia und → Ezechiel, ebenso → Daniels, der zwölf Propheten des → Dodekapropheton, sowie der Propheten → Nathan (vgl. 2Sam 7; 2Sam 12), → Ahija von Silo (vgl. 1Kön 11,29-39; 1Kön 14,1-18), Joad (vgl. 1Kön 13; dort wird kein Name des Propheten genannt), → Asarja (vgl. 2Chr 15,1-8), → Elia (vgl. 1Kön 17 – 2Kön 2), → Elisa (vgl. 1Kön 19,19-21; 2Kön 2,1-9,13; 2Kön 13,14-21) und → Secharja ben Jojada (vgl. 2Chr 24,17-22).

Die Vitae Prophetarum sind vermutlich in Palästina entstanden. Ihre Datierung hängt wesentlich mit der Einschätzung zusammen, ob es sich bei den Vitae Prophetarum um eine ursprünglich jüdische Schriftensammlung handelt (so z.B. Charlesworth, Schwemer), für die von einer Entstehung im 1. Jh. n. Chr. ausgegangen wird, oder ob die Vitae Prophetarum als genuin christlich anzusehen sind (so z.B. Satran) und dann ins 2. Jh. n. Chr. oder zum Teil sogar noch später datiert werden. In der Forschung besteht hier kein Konsens (vgl. Schwemer 1995, 8-10). Die Diskussion entzündet sich zum einen an jenen Passagen in den Vitae Prophetarum, die christliche Inhalte aufweisen. Es handelt sich dabei, da die beschriebenen Propheten alle in der Zeit vor Christus lebten, insbesondere um Teile aus den prophetischen Weissagungen über die Zukunft. Manche der hier anzutreffenden christlichen Erwartungen finden sich jedoch nicht in allen Textzeugen (s. 2.), so dass die Vermutung christlicher Interpolationen naheliegt, z.B. in der Daniel-Vita. Komplexer stellt sich das Problem in der Jeremia-Vita dar. Hier heißt es in V. 7: „Dieser Jeremia hat den Priestern Ägyptens ein Zeichen gegeben, daß es bestimmt sei, daß ihre Götterbilder erschüttert und zusammenstürzen werden.“ Diese Ansage wird in V. 8 folgendermaßen gedeutet: „Deswegen verehren sie auch bis heute eine Jungfrau im Wochenbett und einen Säugling legen sie in eine Krippe und beten ihn an“ (Übersetzung Schwemer 1997). Was hier im ersten Moment eindeutig christlich klingt, könnte auch „ein Zeugnis für die jüdische Interpretation ägyptischer Riten“ sein, nämlich der Verehrung der Isis mit dem Horusknaben (so Schwemer 1997, 578).

Zum anderen spielt in der Diskussion um die jüdische oder christliche Herkunft der Vitae Prophetarum eine Rolle, dass sich eine größere Verbreitung dieser Prophetenleben erst im byzantinischen Christentum nachweisen lässt. Spuren einer Tradierung der Vitae Prophetarum im jüdischen Kontext gibt es dagegen nicht. Daraus folgt jedoch nicht notwendig, dass es eine solche nicht gegeben hat.

2. Handschriftliche Überlieferung

Vermutlich ist Griechisch die ursprüngliche Abfassungssprache der Vitae Prophetarum. Darauf weist u.a., dass sämtliche biblischen Zitate sich am griechischen Text der Septuaginta orientieren. Dass den griechischen Versionen eine hebräisch-aramäische Grundschrift vorausging, wie v.a. in der älteren Forschung vermutet wurde (so z.B. noch Jeremias, 12), lässt sich nicht nachweisen.

Unter den bislang bekannten Handschriften der Vitae Prophetarum kann die Version des Codex Marchalianus (Vat. gr. 2125) als Textzeuge mit der ältesten griechischen Textform gelten. Das Manuskript selbst stammt aus dem 6. Jh. Zwei weitere der griechischen Rezensionen galten für lange Zeit als Werk des Epiphanius von Salamis (ca. 315-403). Insbesondere die Epiphanii recensio prior dominierte vom 16.-19. Jh. die Editionen der Vitae Prophetarum, ist in ihrer Textform dem Codex Marchalianus gegenüber jedoch als sekundär einzustufen (vgl. zu Textüberlieferung und Sprache ausführlich Schwemer 1995, 12-18.56-63).

Wie für hagiographische und ähnliche biographisch-legendäre Texte (vgl. z.B. die sog. Kindheitsevangelien) aus den ersten Jahrhunderten des Christentums immer wieder zu beobachten ist, gibt es auch für die Vitae Prophetarum eine große Zahl antiker und frühmittelalterlicher Übersetzungen ins Lateinische, Syrische, Armenische, Äthiopische, Georgische, Arabische, Slavische, Altirische und Hebräische. Zum Teil sind die Prophetenviten hier auch in andere, größere Textzusammenhänge eingefügt. Insgesamt zeugt die Breite der Überlieferung für die Beliebtheit der Vitae Prophetarum über eine lange Zeit hinweg.

Der Titel, den die Vitae Prophetarum im Codex Marchalianus als Praescriptio tragen, lautet: ὀνόματα προφητῶν καὶ πόθεν εἰσὶ καὶ ποῦ ἀπέθανον καὶ πῶς καὶ ποῦ κεῖνται (onomata prophetōn kai pothen eisi kai pou apethanon kai pōs kai pou keintai; Namen von Propheten und woher sie sind und wo sie starben und wie und wo sie begraben liegen; Text und Übersetzung nach Schwemer 1995, 93). Ähnliche Titelformulierungen finden sich mit Varianten auch in den anderen griechischen Handschriften (vgl. die Synopse bei Schwemer 1996, 3*). Wie genau der ursprüngliche Titel lautete, ist nicht mehr mit Sicherheit zu rekonstruieren.

3. Inhaltliche Aspekte und Gattungsfragen

Über den Inhalt der in den Vitae Prophetarum gesammelten Texte gibt der eben (s. 2.) zitierte Titel bereits einige Hinweise: Es geht um den Namen und die Herkunft der Propheten, wo und wie sie starben und wo sie begraben sind. Die einzelnen Viten beschränken sich in der Regel aber nicht nur darauf, sondern berichten auch über die Prophezeiungen und Taten der jeweiligen Propheten. Solch eine Schilderung kann, wie z.B. in der Joad-Vita, auf einen Halbsatz beschränkt sein oder, wie in der Joel-Vita, tatsächlich ganz wegfallen, kann aber auch deutlich mehr Raum einnehmen. Immer jedoch wird der Tod des jeweiligen Propheten erwähnt (s. 4.) und zum Teil auch dem Ort des Grabes so viel Aufmerksamkeit gewidmet, dass die Vitae Prophetarum bisweilen als eine Art antiker „Reiseführer“ zu den Prophetengräbern gedeutet wurden (so z.B. Torrey, s. dazu Schwemer 1995, 35-38). Dann wären aber genauere Wegbeschreibungen und auch eine ausführlichere Schilderung der Gräber als „Sehenswürdigkeit“ zu erwarten gewesen, wie ein Vergleich mit spätantiken Pilgerberichten zeigt.

Wenngleich topographische Angaben also eine gewisse Rolle in den Vitae Prophetarum spielen, lässt sich hieraus nicht die Hauptintention dieser Schrift ableiten. Diese ist vielmehr in der generellen Ausrichtung hagiographischer Literatur zu suchen, das Gedenken an bedeutsame Personen der Vergangenheit wachzuhalten, ihre Verehrung zu fördern und damit zur persönlichen religiösen Erbauung der Lesenden beizutragen. Auch eine didaktische Nutzung ist denkbar. Nicht selten finden sich die Vitae Prophetarum in Bibelhandschriften als Vorspann zu den Prophetenbüchern.

Die Kenntnis der biblischen Überlieferung über die Propheten, ob sie nun in einem Manuskript direkt hergestellt wird oder nicht, ist für die Lektüre der Vitae Prophetarum tatsächlich unerlässlich. Denn manche Begebenheiten aus den jeweiligen Prophetenleben werden so knapp angedeutet, dass sie erst vor dem biblischen Hintergrund verstehbar werden. Über Joad, den die Überlieferung in 1Kön 13 nicht mit Namen nennt, erfährt man dort zum Beispiel deutlich mehr, als die eher kryptisch bleibenden Notizen in der kurzen Joad-Vita preisgeben: „Dieser ist (es), den der Löwe schlug, so daß er starb, als er den Jerobeam zurechtwies wegen der ‚Kühe‘. Und er wurde in Bethel begraben nahe bei dem Falschpropheten, der ihn in die Irre führte“ (Übersetzung Schwemer 1997).

Zugleich werden von den Vitae Prophetarum auch Begebenheiten erzählt, die in der Bibel gar nicht erwähnt sind. Sie füllen sozusagen „Lücken“ der biblischen Erzählungen aus. So werden beispielsweise durch Jeremias Gebet die Ägypter von der Gefahr durch Schlangen und Krokodile befreit (Jeremia-Vita V. 3); Ezechiel rettet das bei ihm zusammengekommene Volk vor der Verfolgung durch die Chaldäer, indem er eine Art Wiederholung des Schilfmeerwunders vollbringt (Ezechiel-Vita V. 9f) etc.

Verschiedene Weissagungen, die über die biblischen Zeugnisse hinausgehen, beschreiben außerdem Ereignisse, die die Endzeit ankündigen bzw. schon Teil dieser Endzeit sind. Das Bild, das die Vitae Prophetarum hier bieten, ist vielfältig. Eine einheitliche eschatologische Konzeption lässt sich nicht ausmachen. Auffällig ist aber, dass Ausprägungen einer individuellen Eschatologie fehlen. Eine Auferstehungshoffnung ist am deutlichsten in der Jeremia-Vita beschrieben. Sie ist dort (V. 12) eng mit der Auferstehung der Bundeslade verknüpft: „Und bei der Auferstehung wird die Lade als erste auferstehen und herausgehen aus dem Felsen und sie wird aufgestellt werden auf dem Berg Sinai. Und alle Heiligen werden sich zu ihm versammeln, weil sie dort den Herrn erwarten und weil sie vor dem Feind fliehen, der sie vernichten will“ (Übersetzung Schwemer 1997).

4. Das gewaltsame Geschick der Propheten

Über alle Propheten wird berichtet, wie sie gestorben sind, so wie es der Titel des Marchalianus ja auch ausdrücklich ankündigt (s.o. 2.). In der Mehrzahl handelt es sich um unspektakuläre natürliche Todesfälle. Es gibt jedoch auch gewaltsame Prophetenschicksale, von denen die Vitae Prophetarum zu berichten wissen. So erfährt man über Jesaja zum Beispiel: „Jesaja von Jerusalem starb, von Manasse in zwei Teile gesägt“ (Jesaja-Vita V. 1; Übersetzung Schwemer 1997; → Martyrium Jesajas). Von Amos heißt es: „Und nachdem Amasias ihn oftmals auf dem Hinrichtungsblock geschlagen hatte, tötete ihn dann am Ende dessen Sohn, indem er mit einer Keule (auf) seine Schläfe schlug“ (Amos-Vita V. 1; Übersetzung Schwemer 1997). Auch Jeremia, Ezechiel, Micha, Sacharja ben Jojada und Joad sterben gewaltsam.

Dieses, im Ursprung bereits deuteronomistische Motiv vom gewaltsamen Geschick der Propheten (vgl. Steck) findet sich auch im Neuen Testament (vgl. z.B. Mt 23,37 par. Lk 13,34). Die Vitae Prophetarum halten sich mit Ausschmückungen jedoch zurück. Der Erzählstil ist oft ausgesprochen knapp. Die christliche Märtyrerliteratur dagegen, die das Todesgeschick ihrer Protagonistinnen und Protagonisten ebenfalls in die Kette der Prophetenschicksale stellt, geht in der Ausschmückung des Leidens- und Sterbeprozesses weit über die Vitae Prophetarum hinaus (Schwemer 1995, 79-82).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Textausgaben, Übersetzungen und weitere Literatur

  • Charlesworth, J.H. (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha (Vol. 2: Expansions of the „Old Testament“ and Legends, Wisdom and Philosophical Literature, Prayers, Psalms, and Odes, Fragments of Lost Judeo-Hellenistic Works), London 1985, 379-399 (D.R.A. Hare)
  • Jeremias, J., Heiligengräber in Jesu Umwelt. (Mt. 23,29; Lk. 11,47). Eine Untersuchung zur Volksreligion der Zeit Jesu, Göttingen 1958.
  • Nestle, E., Die dem Epiphanius zugeschriebenen Vitae Prophetarum in doppelter griechischer Rezension mit Anmerkungen und einem Anhang, in: ders., Marginalien und Materialien, II Materialien, Tübingen 1893
  • Satran, D., Biblical Prophets in Byzantine Palestine. Reassessing the Lives of the Prophets (SVTP 11), Leiden 1995
  • Schermann, T., Propheten- und Apostellegenden nebst Jüngerkatalogen des Dorotheus und verwandter Texte (TU 31,3), Leipzig 1907
  • Schwemer, A.M., Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden Vitae Prophetarum I. Die Viten der großen Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel. Einleitung, Übersetzung und Kommentar (Texte und Studien zum Antiken Judentum 49), Tübingen 1995
  • Schwemer, A.M., Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden Vitae Prophetarum II. Die Viten der kleinen Propheten und der Propheten aus den Geschichtsbüchern. Übersetzung und Kommentar (Texte und Studien zum Antiken Judentum 50), Tübingen 1996
  • Schwemer, A.M., Vitae Prophetarum (JSHRZ I/7), Gütersloh 1997, 539-658
  • Steck, O.H., Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum (WMANT 23), Neukirchen-Vluyn 1967
  • Torrey, C.C., The Lives of the Prophets (JBL MS 1), Philadelphia 1946

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