Klagefrauen
(erstellt: Mai 2024)
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1. Begriff
Unter Klagefrauen versteht man eine Gruppe von Frauen, die darin kundig sind, in einem Unglücksfall das Leid der Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Vielfach nehmen sie diese Aufgabe professionell wahr und bekommen dafür auch einen Lohn. Im Alten Testament werden sie nur in Jer 9,16
1.1. Klagefrauen allgemein
Ein weit verbreitetes Phänomen im Rahmen von Trauerprozessen sind Klagefrauen. Klagefrauen gibt es seit Jahrtausenden, in vielen Regionen der Welt bis heute. In der modernen westlichen Welt scheint der Beruf allerdings auszusterben.
Insbesondere in traditionellen Kulturen ist aber noch aktuelle Feldforschung möglich, deren Ergebnisse man mit den antiken Verhältnissen vergleichen kann. Bahnbrechend hat dies Hedwig Jahnow (1923) geleistet. Mit Hilfe des Vergleichsmaterials (Videoaufnahmen z.B. auf YouTube: Professional Mourners of Sardinia
Die Aufgabe der Klagefrauen ist es, mit ausgreifender Gestik, nonverbalen Äußerungen und situationsangemessenen Liedern das empfundene Leid in besonders intensiver und extensiver Weise zum Ausdruck zu bringen. Kultur- und zeitübergreifend handelt es sich dabei weit überwiegend um reine Frauengruppen (Jahnow 1923, 59). Es scheint sich kulturübergreifend bewährt zu haben, dass Klagefrauen ohne direktes Mitwirken von Männern ihre Aufgabe besser ausführen können. Die Mitwirkung im Klageprozess setzt Sensibilität und Mitgefühl für das seelische Leid der Betroffenen voraus. Auch dürfte sich die Stimme der Frau besser dafür eignen, mit schrillen Tönen das Leid auszudrücken.
1.2. Bilder von Klagefrauen
2. Trauerprozesse im Alten Testament
Im alten Israel hat man Unglücksfälle, wie z.B. Naturkatastrophen oder kriegerische Zerstörungen, insbesondere aber den Tod von Menschen, betrauert (→ Trauer [AT]
3. Klagefrauen in Jer 9,16-21
→ Jeremia
3.1. Das Lexem קין qîn
Das Lexem קין qîn kommt im Alten Testament acht Mal vor, ausschließlich im Polel-Stamm. Es ist abgeleitet von dem Substantiv קִינָה qînāh, das die Totenklage bezeichnet. Diese Tätigkeit scheint also charakteristisch für den Beruf der Klagefrauen gewesen zu sein. In der Tat geht es an allen Stellen darum, dass jemand zu Tode gekommen ist und jemand, der mit dem Verstorbenen eng verwandt oder gut bekannt war, ein Klagelied anstimmt, das dann auch im Wortlaut zitiert wird.
In 2Sam 1,17
3.2. Aspekte der Tätigkeit der „Klagefrauen“
Aus Jer 9,16-21
Im anschließenden Kolon werden die Klagefrauen auch als חֲכָמוֹת ḥăkāmôt „weise Frauen“ bezeichnet. Dabei dürfte es darum gehen, dass die Frauen darin erfahren und kundig sind, die traditionellen Riten und Lieder durchzuführen und die Trauergemeinschaft im rechten Gebrauch anzuleiten.
In Jer 9,17
Die Frauen sollen, so wird weiter gesagt, „über uns“ die נְהִי nəhî „Untergangsklage“ anstimmen. Gemeint ist wohl, dass die Klagefrauen die Trauergemeinschaft, die Frauen und Männer umfasst, anleiten, indem sie eine Vorsängerfunktion wahrnehmen. Der Gattungsbegriff nəhî „Untergangsklage“ ist von der Wurzel נהה nāhāh „wehklagen“ abgeleitet. Es geht um die Klage über ein Unglück, das das gesamte Kollektiv, einschließlich ihres Eigentums, direkt betrifft und nicht nur indirekt durch den Tod eines einzelnen Menschen. In Jer 9
Als Folge der Klageriten wird hervorgehoben: Die Tränen sollen reichlich fließen (Jer 9,17
Unmittelbar anschließend wird die zu singende Untergangsklage zitiert:
Horch, man hört ein Klagegeschrei in Zion: „Ach, wie hat man uns Gewalt angetan und wie sind wir zuschanden geworden! Wir müssen das Land räumen; denn sie haben unsre Wohnungen geschleift.“
Jer 9,18
Die Frauen schließen sich mit der Gruppe der Klagenden zu einem „Wir“ zusammen und aktualisieren die überlieferte Liedtradition für den gegenwärtigen Fall.
In Jer 9,19
Der Tod ist zu unsern Fenstern hereingestiegen und in unsere Paläste gekommen. Er würgt die Kinder auf der Gasse und die jungen Männer auf den Plätzen. So spricht der Herr: „Die Leichen der Menschen sollen liegen wie Dung auf dem Felde und wie Garben hinter dem Schnitter, die niemand sammelt.“
Jer 9,19
Die Klagefrauen singen traditionelle Texte, die von Mutter zu Tochter weitergegeben werden (Jer 9,19
3.3. Weitere Aspekte
Der Textabschnitt Jer 9,16-21
Eine Rekonstruktion des Trauerprozesses bietet z.B. Melanie Köhlmoos (2012, → Trauer
Inwieweit diese Riten geschlechtsspezifisch ausdifferenziert waren oder die Riten geschlechtsspezifisch abgewandelt wurden, ist angesichts der Datenlage nur in Ansätzen zu erkennen. Dass das Stutzen des Bartes (Lev 21,5
Im Falle des häufig erwähnten Trauergewandes שַׂק śaq handelte es sich wahrscheinlich um einen Lendenschurz aus Ziegenhaar, der die Brust nackt ließ (→ Trauer
3.3.1. Exkurs: Trugen das Sackgewand auch Frauen?
In Jer 6,26
In Joel 1,8
In 2Sam 14,2
In Judit 8,5
Alle vier Stellen geben keine eindeutigen Hinweise darauf, dass israelitische Frauen im Regelfall den שַׂק śaq trugen. Noch weniger Evidenz gibt es dafür, dass sie ihre Brüste entblößten. In der Umwelt dagegen zeigen z.B. die Darstellung aus dem Grab des Ramose (Abb. 1) und der Ahiram-Sarkophag aus Byblos (um 1000 v. Chr., → Totenkult
Die Klage war sicherlich auch begleitet von Schreien, mit denen Männer wie Frauen ihren seelischen Schmerz reflexhaft zum Ausdruck brachten. Auf diese verweist der Trauerruf הוֹי hôj (→ Trauer
3.3.2. Exkurs: Gab es im alten Israel auch Klagemänner?
Da Klagefrauen eigens erwähnt werden, fragt sich, ob es auch Klagemänner gab. Eindeutig ist, dass einzelne Männer die Totenklage über eine nahestehende Person im Rahmen der Bestattungsfeier öffentlich vortrugen (→ Totenklage
In Am 5,16-17
4. Weitere Gruppen klagender Frauen
Es ist anzunehmen, dass auch Frauen an den Klagezeremonien teilnahmen, die nicht zu den professionellen Klagefrauen gehörten.
In Jes 32,11
In Ez 32,16
In Ez 8,14
Im Neuen Testament werden in Lk 23,27-31
5. Trauernde Propheten in einer Frauenrolle
Die Prophetenbücher nutzen häufig die Gattung der Toten- und Untergangsklage, zumeist aber in verfremdeter Weise (Jahnow 1923, 164). → Amos
6. Schluss
Insgesamt ist offensichtlich, dass die Frauen, und speziell die Klagefrauen, im umfangreichen und ausdifferenzierten mehrtägigen Trauerprozess im alten Israel eine wichtige Funktion innehatten. Sie unterstützten die Trauergemeinschaft aus Männern und Frauen darin, ihr Leid zum Ausdruck zu bringen, und boten dazu neben non-verbalen Riten und Schmerzensschreien auch traditionelle Lieder an. Dass das Leid gemeinschaftlich geäußert und in rituelle Formen gebracht wurde, diente der Verhinderung von Traumatisierungen und beförderte die Rückkehr zu einem normalen Leben. Insofern das Leid auch die Gottesbeziehung infrage stellte, diente der Klageprozess der Stabilisierung des Gottvertrauens.
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1 Bestattungszug aus der Grabkammer des Ramose (um 1411-1413 v. Chr.). © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ramose-2.JPG
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