Deutsche Bibelgesellschaft

Reisen/Pilgern als religiöser Bildungsort

(erstellt: Februar 2019)

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1. Reisen - Eine Annäherung

Im Zeitalter der großen Fluchtbewegungen (→ Migration) auf der Welt verändert sich auch der Charakter des Reisens. Der Radius des gefahrlosen Reisens ist durch weltweite Terroranschläge kleiner geworden - und manchmal gibt es Zusammenstöße oder Begegnungen von Urlaubern mit Flüchtenden (Perens, Die Farbe des Ozeans, 2011). Der wirtschaftlichen und politischen Zerrüttung von südlichen Ländern stehen vor allem westliche und einige nah- und fernöstliche mit steigender Wirtschaftskraft gegenüber. Reiselust und Fluchtbewegungen verhalten sich konträr zueinander.

Bei Reisen ohne Not geht es zunächst um bloße Reiselust. Zu beobachten ist dabei, dass manche Sehenswürdigkeiten fast religiöse Verehrung genießen; eine Form der Huldigung ist dabei das Selfie, das einen in unmittelbarem Kontakt mit dem Heiligen zeigt. Die sakralen Motive des modernen Tourismus sind unverkennbar. So ist z.B. das Besichtigen ein kollektiver Akt mit einer moralischen Struktur: Bestimmte Dinge muss man sehen – die Reise wird zur Pilgerreise. In diesem Ritual (→ Rituale) wird die Zeichenfunktion der Sehenswürdigkeiten deutlich. Sie stehen für etwas Anderes: für die Gesellschaft und ihre letzten Werte. Auf individueller Ebene suchen viele Menschen immer noch jene Erlösung, jene Transformation der Identität (→ Identität, religiöse) und innere Erneuerung, die auch das Ziel der Pilgerreise darstellte (Henning, 1999).

Spätestens seit Hape Kerkelings Bestseller Ich bin dann mal weg von 2006 ist Pilgern (nicht nur, aber vor allem auf dem Jakobsweg) zu einem Boom geworden, das sich von seinen religiösen Ursprüngen weit entfernt zu haben scheint; dennoch scheint es reizvoll zu sein, sich auf ein Ziel hin zu bewegen, Anderen mit demselben Ziel zu begegnen, einen strukturierten Weg zu beschreiten und dabei eigene Erfahrungen (→ Erfahrung) zu machen (Lienau, 2009). Diesem säkularen Reisen steht das religiös motivierte gegenüber, wie es sich neben dem christlichen Pilgern vor allem im Islam (Hadsch; → Islam als Thema christlich verantworteter Bildung), im Judentum (→ Judentum, als Thema christlich verantworteter Bildung), im Buddhismus (→ Buddhismus im christlichen RU) und im Hinduismus findet (Gerland, 2009; Frisch, 2015).

Eine Suche nach Transzendenz außerirdischer Art findet sich in der Earthbound pilgrimage, dieser neuesten Form des Reisens, die den Menschen ins All führt und noch Zukunftsmusik ist. Diese Weltraumreisen ermöglichen einen (göttlichen) Blick von außen auf die Erde, der filmisch bereits in den Anfängen der Kinogeschichte (Méliès, Reise zum Mond, 1902) und biblisch im Buch Hiob (Hiob 38-40) vorweggenommen wurde (Weibel, 2015, 35).

Das Gefühl „of an extraordinary personal connectedness with the universe“ (Weibel, 2015, 36) ist nicht ausschließlich ans Weltall gebunden. Mystikerinnen und Mystiker aller Zeiten machten diese Erfahrung des Verbundenseins im Verlauf ihrer Seelenreise (→ Seele) ins eigene Innere (Sölle, 1975).

1.1. Reise als Weg zu sich selbst

Das Übernatürliche zeigt sich (im Schicksal und) in der Natur der Menschen, deren Heldenreise zu allen Zeiten in allen Ländern nacherzählt (→ Erzählung) wurde und wird (Campbell, 1999). Zahlreiche Kinofilme (→ Film) folgen dem Muster der Reise der Heldin und des Helden (am Beispiel von Star Wars siehe Vogler, 1997). Die Reise steht für eine Transformation, die einen besser mit sich selbst bekannt macht, indem es sie und ihn über die Grenzen des Gewöhnlichen, des Alltags hinausführt, Prüfungen bestehen und gestärkt zurückkehren (seltener: sterben) lässt.

Die erdverbundenste Form des Reisens, das Wandern, kann als Achtsamkeitsübung gesehen werden. Ist man nicht gerade auf dem (spanischen Abschnitt vom) Jakobsweg unterwegs, kann es einen auch in die Einsamkeit führen.

Wandern hat eine spirituelle Dimension (Spiritualität); es ist zwar kein Rückzug, sondern eine körperliche Aktion (→ Sport(gruppen); → Tanz). Doch ist es immer auch Dialog: Im Gehen rückt das eigene Verhältnis zum Weg in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Umgebung wird bewusst wahrgenommen, der darauf reagierende Körper (→ Leib), der eins wird mit dem Weg (Lienau, 2015, 71-99). Diese Entgrenzung wird als Kraftquelle erlebt, da eine besondere Form der Konzentration stattfindet. Die ´Eindimensionalität´ führt zu einer ungeteilten Aufmerksamkeit, die ein Verschmelzen mit der Gegenwart ermöglicht (Mehl, 2017, 10-12; Norbury, 2017). Diese Erfahrung wird auch im Zuge des gegenwärtig populären Nature Writing geschildert; in Die Fischtreppe (Norbury, 2017) vergleicht Katharine Norbury ihren Lebensweg mit der Reise der Fische, die zu ihrem Ursprungsort, ihrem Wasser, zurückkehren wollen. Sie begibt sich auf die Reise zum Quell am Ende der Welt (so der Titel des Buches von Gunn, 1955). Auf der Suche nach dem Ursprung erkennt sie: der Urquell liegt nicht am Ende der Welt, sondern überall in ihrer (eigenen) Mitte.

Um die Erfahrung der Verbundenheit mit den eigenen Wurzeln zu machen, muss man nicht unbedingt losgehen. Alain de Bottons Reisen enden schließlich in seinem heimatlichen Zimmer. Hier kann man den Blick über die Buchrücken schweifen lassen – jeder Roman eine Reise für sich, Anteil an einem anderen Leben, das einen das eigene wieder neu erleben lässt (de Botton, 2002, 266-268).

1.2. Reise als Weg zum Anderen

In David Lynchs → Film The Straight Story macht sich Alvin Straight auf, um nach zehn Jahren des Schweigens seinen Bruder zu besuchen, der erkrankt ist. Die Strecke von 500 Kilometern zwischen Iowa und Wisconsin bewältigt der Einsiedler mit seinem fahrbaren Rasenmäher. Unterwegs trifft er auf eine jugendliche Ausreißerin, welcher er am abendlichen Lagerfeuer den Wert des familiären Zusammenhaltes (→ Familie) nahebringt – mit einem Gleichnis (→ Gleichnisse, bibeldidaktisch), in dem Koh 4,12 anklingt.

Reisen bringt Menschen zusammen und einander näher. „Warum reisen wir?“ fragt Max Frisch in seinem Tagebuch: „[...] damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei [...]“ (Frisch, 1949, 27). Auf Reisen ist man selbst fremd und begegnet als Fremde den anderen (→ Hermeneutik des Fremden; → Fremdheit als didaktische Aufgabe). Reisen ermöglicht → Perspektivwechsel und Horizonterweiterung. Science-Fiction-Literatur und -filme machen mit anderen Daseinsformen bekannt, mit denen neue Kommunikationsformen erprobt werden müssen (Villeneuve, Arrival, 2016; Lem, Solaris, 1961). Das ganz Andere sprengt irdische Muster und zeigt den Menschen als ein Element innerhalb eines unvorstellbar komplexen und vielfältigen Beziehungsgeflechtes.

1.3. Reise als Weg zu Gott

Abraham (→ Abraham und Sara, bibeldidaktisch, Grundschule; → Abraham und Sara, bibeldidaktisch, Sekundarstufe; → Abraham, interreligiös), der Urvater der drei großen monotheistischen Religionen, war ein Herausgerufener. Er, der „umherirrende Aramäer“ (Dtn 26,5) verließ das Ursprungsland und die Ursprungsfamilie und machte sich auf die Reise, im Gepäck die Verheißung einer Nachkommenschaft so zahlreich wie die Sterne. Die Reise des sich auf ihn berufenden Volkes führt schließlich, nach der vierzig Jahre währenden Reise durch die Wüste, in das Land, in dem Milch und Honig fließen, später dann ins Exil. Diese Reise war streng genommen keine zu Gott, sondern eine mit Gott als Reisebegleiter.

Jesus (→ Jesus Christus, bibeldidaktisch, Grundschule; → Jesus Christus, bibeldidaktisch, Sekundarstufe), für die Christen Gottes Sohn, für die Juden ein Menschensohn und für die Muslime ein Prophet, war ebenfalls ein Reisender, der nicht wusste, wo er abends sein Haupt hinlegen sollte (Lk 9,58).

Mohammed, Begründer des Islam, war ein Reisender, der die große Reise, den Hadsch, als unverzichtbar für den Glauben sah; jeder Gläubige sollte sie einmal im Leben unternehmen als Station auf dem Weg zu Gott, der schließlich am Ende aller Wege steht

2. Pilgern - Eine geschichtliche Annäherung

Pilgern ist ein Wandlungsprogramm, dem sich Menschen zu allen Zeiten und aller Religionen freiwillig ausgesetzt haben. Pilgern ist ein weg- und ortsbezogenes Format menschlicher Religionsausübung und kann Orte der Natur wie Berge und Quellen, wichtige Orte der Religionsstifter und der Erinnerungen an sie umfassen. Auch säkulare Orte können zu Pilgerorten werden, wenn die chinesische Regierung eine überlebensgroße Statue des von ihnen sehr verehrten Karl Marx seiner Geburtsstadt Trier schenkt. Als „Bescheißerei zu Trier“ hat einst Martin Luther das Pilgern zum Heiligen Rock Jesu in Trier bezeichnet (Luther, 1546), das nur Geld in die Tasche der Kirchen spüle und kritisierte damit eher die Auswüchse der äußeren Werkgerechtigkeit als die inneren Motive.

Ultreía et suseia! - mit diesem Ruf (spätlateinisch/spanisch für Weiter - und darüberhinaus! Oder: Wohlan, lasst uns weitergehen!) grüßen sich Jakobspilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela, wo sich das (vermeintliche) Grab des Apostels befindet. Die Grußworte geben eine Losung vor, die tiefer reicht als ein Wanderspruch. Es geht nicht nur um das äußere Tun auf dem Weg, sondern um eine innere Haltung, die grundsätzliche Motivation, die einen hinausführt aus dem Gewohnten und unsichere Wege beschreitet, um neue Perspektiven für das eigene Leben zu erlangen: Pilgern ist ein spirituelles Tun, eine geistige Haltung, die sich körperlich ausdrückt. Anders als bei Trekking, Bergtouren und Exkursionen ist die innere Mitte des Pilgerns eine geistliche Anstrengung, die der körperlichen vorangeht. Pilgern bedeutet, dass der → Glaube – welcher Religion auch immer – laufen lernt: es ist die Verkörperlichung von Religion (Frisch, 2017, 10), ist Besinnung, Aufbruch, Umkehr, Gebet mit Beinen und dem Herzen.

Pilgerreisen und Wallfahrtsorte erzählen davon, wie Menschen auf ihren Wegen und an deren Zielen in besonderer Weise Gott, das Göttliche, das den Menschen Übersteigende erfahren haben. Dabei gibt es in allen Religionen die Vorstellung, dass es besondere, spirituell aufgeladene Orte gibt, die leichter zu religiösen Erfahrungen und vielleicht sogar zu körperlichen Heilungen führen können.

Das können auffällige Naturphänomene oder ungewöhnlich geformte Berge sein wie z.B. der Berg Sinai für Juden und Christen, der Berg Kailash für Buddhisten, Hindus und Jain, die Heiligen Berge Chinas für Daoisten, der Berg Koyasan für japanische Buddhisten oder Quellen wie in Lourdes für katholische Christen und die Quellen des Ganges für die Hindus oder ein heiliger Fluss wie der Jordan für Juden und Christen sowie eine Höhle, in der sich Religionsstifter oder Pilger bergen konnten und können.

Berge gelten als Sitz der Götter, heiliges Wasser als lebensspendend und heilend. Bilder für solche heiligen und heilenden Orte und Naturphänomene finden sich in den Psalmen, besonders den Wallfahrtspsalmen des Ersten Testamentes (Ps 120-134; → Psalmendidaktik). Der Tempel in Jerusalem war für Juden der alten Zeit das Haus des Herrn, zu dem man pilgerte. Auch für Christen bietet das Heilige Land Erinnerungen an Jesus, dessen Stationen zu Pilgerstätten geworden sind, wie die Via Dolorosa, der Kreuzweg Jesu. Erinnerungen an seine Apostel sind in Reliquien verkörpert, die Kirchen zu Pilgerstätten machen (Petersdom in Rom). Die Erscheinungen seiner Mutter Maria machten Lourdes und Altötting zu Pilgerorten. Neuere Orte sind ökumenische Begegnungsstätten wie Taizé, dem Ort in der Nähe von Cluny in Frankreich, wo die Gemeinschaft von → Taizé zu einem Jugendwallfahrtsphänomen geworden ist.

Das Heilige Haus des Islam ist die Kaaba im saudi-arabischen Mekka, ein würfelförmiges Gebäude innerhalb der großen Moschee, das seine spirituelle Mitte bildet und von den gläubigen Muslims siebenmal umrundet wird. Dieser Ort, der von dem Religionsgründer Mohammed im siebten Jahrhundert nach einem Brand wiederaufgebaut worden sein soll, symbolisiert Gott, und jeder volljährige und gesunde Muslim soll die Wallfahrt nach Mekka, den Hadsch, wenigstens einmal im Leben unternehmen.

Im Buddhismus ist Pilgern nicht vorgeschrieben. Dennoch begeben sich viele Buddhisten an die Orte, an denen Religionsgründer Siddhartha Gautama, der Buddha, im 5. Jahrhundert vor Christus gelebt und gewirkt hat.

Dass das Göttliche sich in allen Dingen findet, ist die Auffassung des Shinto, der ursprünglichen Religion Japans. Doch gibt es besonders beseelte Orte wie den Fujiyama und auf Inseln wie z.B. Miyajima finden sich Schreine, die Shinto-Heiligtümer sind und zu denen gepilgert wird.

Am ältesten sind die Naturreligionen, deren Erbe sich auch in den oben genannten Religionen zeigt und die heilige Orte wie den Uluru (Ayers Rock) wie in Australien und viele andere mehr kennen.

Pilgern ist universell und ein kultur-, zeit- und religionsübergreifendes Phänomen. Nur im Islam gehört es verpflichtend zur religiösen Praxis, ansonsten ist es eine spirituelle Übung (Spiritualität; → Lernen, spirituell), die zwar vielerorts zu Kommerzialisierung und Verkitschung geführt hat und mit der auch magisches Denken einhergehen kann; dennoch kann das Pilgern eine Station auf dem Weg zur Menschwerdung sein, deren (Bildungs-)Weg (→ Bildung) Wilhelm von Humboldt in seiner "Theorie der Bildung des Menschen" von 1803 als etwas beschrieben hat, das alle Kräfte im Menschen anregt, damit sie sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen (Humboldt, 1903).

3. Reisen und Pilgern in Film und Literatur

Als Bildungsreise ist es nicht geplant, was den 14-jährigen Maik und seinen Freund Tschick mit einem geklauten Lada in die Weiten der ostdeutschen Provinzen führt. Sie wollen ereignisarmen Sommerferien entkommen, ein Fernziel ist die Walachei, wo ein Teil der Großfamilie Tschicks immer noch weilt. Unversehens gerät dieses Road Movie von einer Coming-of-Age-Geschichte dann doch zu einer Bildungsreise, während der Maik seine große Liebe findet, Auto fahren und Tschick als wahren Freund schätzen lernt. Er findet (zu) sich selbst – ein Prozess, den Wolfgang Herrndorf in seinem Roman Tschick (2010) auf ebenso komische wie nachdenkliche Weise beschreibt. Verfilmt 2016 von Fatih Akin haben beide → Medien inzwischen Eingang in die schulischen Lehrpläne gefunden.

Die große Reise von Ismaël Ferroukhi macht uns mit dem Islam bekannt. Der Film führt uns von Frankreich aus über Italien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien, die Türkei, Syrien und Jordanien nach Saudi-Arabien. Dort liegt Mekka, das Ziel der Pilgerreise für einen in Frankreich lebenden Muslim, der von seinem zunächst sehr widerwilligen Sohn mit dem Auto dorthin gebracht werden möchte. Reda weiß wenig über Religion, er versteht auch seinen Vater nicht und erst recht nicht dessen Anliegen. So holt der Vater den Religionsunterricht für seinen westlich und weltlich aufgewachsenen Sohn unterwegs nach. Reda erfährt eine stufenweise Initiation in unterschiedliche Ausdrucksformen des Glaubens, die er auf seiner Reise kennenlernt. Er erlebt das Gebet als Strukturierung des Alltags, fragt den Vater nach dem Sinn der Pilgerreise und lernt die menschenfreundliche Seite einer Religion kennen, die ihm fremd war.

Nach Mekka möchte auch der Analphabet Ramzi, der das Geld von seiner Mutter für die Pilgerreise erhalten hat. Dessen Cousin Saïd nimmt ihn in dem Film Saint-Jacques (Serreau, Saint Jacques, 2007) mit auf die Pilgerwanderung nach Santiago de Compostela und macht ihm weis, sie wären auf dem Hadsch. Misstrauisch wird Ramzi allerdings, als er unterwegs Abbildungen vom Apostel Jakob als Muslimtöter sieht. Doch auch als die Wahrheit schließlich ans Licht kommt, wird alles gut und Ramzi lernt sogar lesen und schreiben – von einer desillusionierten Lehrerin, die sich mit ihren zerstrittenen Geschwistern auf den Weg gemacht hat, um die Auflage des mütterlichen Testamentes zu erfüllen. Zwar kommen religiöse Aspekte in dem Film kaum vor, aber das Pilgern wird als Möglichkeit gezeigt, Abstand zu üblichen Verhaltensmustern zu gewinnen und das Leben neu zu ordnen.

Das Buch Into the Wild von Jon Krakauer, verfilmt 2007 von Sean Penn, erzählt die wahre Geschichte des jugendlichen Reisenden Christopher Mc Candless auf der Suche nach dem wahren Leben im Falschen. Seine Reise auf dem Stampede Trail in Alaska führt ihn schließlich in den Tod; seine Tagebucheintragungen bilden die Grundlage des Buches, das den Trail zu einem berühmten Pilgerweg für junge Menschen in Amerika gemacht hat. Ziel des Weges ist der blaue Bus, letzte Station des radikalen Reisenden, dessen letzte Nachricht lautete: „Ich habe ein glückliches Leben gelebt und bin Gott von ganzem Herzen dankbar“. (Krakauer,1996, 296)

Ein Leben in Fülle ist wohl das, was Reisende zu allen Zeiten gesucht haben. Dabei muss eine Reise keineswegs in die Ferne führen, schon ein Kinobesuch erfüllt die Strukturmerkmale einer Reise, deren Stationen noch einmal auf der Leinwand angeboten werden.

4. Religionspädagogische Anmerkungen

Die bereits oben erwähnte Heldenreise (Gewohnte Welt; Ruf ins Abenteuer; Mentor lädt ein; erste Schwelle; Überwindung von Hindernissen; Konfrontation und Überwindung des Gegners; Rückweg; Anerkennung) lässt sich exemplarisch am Film Tschick erarbeiten (Filmheft, 2016). Zahlreiche Filme (Beispiele siehe Filmliste) und Bücher laden dazu ein, sich auch im Klassenzimmer gemeinsam auf eine Reise zu begeben, die einen mit sich selbst, mit anderen und mit Fremdem bekannt macht. Romane und Filme sind Reisen in eine andere Welt, von denen man bereichert in die eigene zurückkehrt.

In seinem Essay Bildung als Reise hat Henning Luther 1992 die dem 19. Jahrhundert entstammenden traditionellen Bildungsmetaphern durch Reisemetaphern wie Aufbruch, Übergang, Begegnung ersetzt. Gegen eine Instrumentalisierung von → Bildung und Lernen, wie sie oft mit den herkömmlichen Begriffen → Erziehung und → Pädagogik verbunden und wie sie in der Reform der allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme (als Nutzung des menschlichen Potentials) deutlich wird, können Reisebilder eingesetzt werden:

„Die Reise hält Distanz zur Welt, ohne ihr zu entfliehen… Der Sinn der Reise ist - sie selbst. Sie befreit vom Leistungs- und Verwertungszwang. Sie gewährt nicht lineare, gestreckte, sondern erfüllte, qualitative Zeit. Die Welt breitet sich aus. Doch sie kann nicht Heimat werden. Die glücklichen Augenblicke der Reise geraten in Spannung zu dem, was ihnen grausam widerspricht. So entspringt der Reise bei aller Zeitlosigkeit vorwärtsgerichtete Zeit, Geschichte. Die Reise geht weiter. Die Heimat liegt nicht hinter uns, sondern vor uns[...]“. (Luther, 1992, 77)

Jede Reise, jeder Pilgerweg soll zu bewusstem Leben führen, das sich der Verantwortung für das eigene Leben und das Leben anderer nicht entzieht:

„Was ich am tiefsten verabscheue, ist die Rolle des Zuschauers, der unbeteiligt ist oder tut. Man soll nie zuschauen. Man soll Zeuge sein, mittun und Verantwortung tragen“ (Antoine de Saint-Exupéry, zit. nach Frisch, 2005, 21).

Literaturverzeichnis

  • Campbell, Joseph, Der Heros in 1000 Gestalten, Frankfurt a. M. 1999 (The Hero with a Thousand Faces, Princeton 1949).
  • de Botton, Alain, Kunst des Reisens, Frankfurt a. M. 2002.
  • Frisch, Hermann-Josef, Man ist dann mal weg. Über das Pilgern in den Weltreligionen, Darmstadt 2017.
  • Frisch, Max, Tagebuch 1946-1949, Frankfurt a. M. 1949.
  • Gandhi, Mahatma, Handeln im Geist, Freiburg i. Br. 1979.
  • Gerland, Manfred, Faszination Pilgern. Eine Spurensuche, Leipzig 2009.
  • Gunn, Neil M., Der Quell am Ende der Welt, München 1955.
  • Haff, Peter, Die Wurzeln der Seele. Roman, München 2002.
  • Haff, Peter, Die ungenaue Lage des Paradieses. Eine Reise zu den verlorenen Städten, München 2001.
  • Henning, Christoph, Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt a. M. 1999.
  • Herrndorf, Wolfgang, Tschick, Frankfurt a. M. 2010.
  • Humboldt, Wilhelm von, Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstück), in: Humboldt, Wilhelm, Gesammelte Schriften I, Berlin 1903.
  • Kerkeling, Hape, Ich bin dann mal weg, München 2006.
  • Kirsner, Inge, Reisen, in: Fechtner, Kristian (Hg. u.a.), Handbuch Religion und populäre Kultur, Stuttgart 2005, 237-245.
  • Kirsner, Inge, Reisen – mit Gott und der Welt zu sich selbst. Reisen als Thema der Praktischen Theologie, in: Kuhlmann, Helga (Hg. u.a.), Reisen. Fährten für eine Theologie unterwegs, Münster 2003, 28-38.
  • Krakauer, Jon, In die Wildnis. Allein nach Alaska, München 1996.
  • Levinson, Paul/Waltemathe, Michael (Hg.), Touching the Face of the Cosmos. On the Intersection of Space Travel and Religion, New York 2016.
  • Lienau, Detlef, Religion auf Reisen. Eine empirische Studie zur religiösen Erfahrung von Pilgern, Freiburg i. Br. 2015.
  • Lienau, Detlef, Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern, Ostfildern 2009.
  • Luther, Henning, Das Leben als Reise, in: Erk, Wolfgang (Hg.), Stuttgart 1992, 63-77.
  • Luther, Martin, Warnung an die lieben Deutschen, 1546.
  • Mehl, Christoph, Ans Meer wandern, Berlin 2017.
  • Norbury, Katharine, Die Fischtreppe. Eine Reise stromaufwärts, Berlin 2017.
  • Sölle, Dorothee, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen, Stuttgart 1975.
  • Tworuschka, Udo, Sucher, Pilger, Himmelsstürmer. Reisen im Diesseits und Jenseits, Stuttgart 1991.
  • Vogler, Christopher, Die Odyssee des Drehbuchschreibers, Frankfurt a. M. 1997.
  • Weibel, Deana L., Pennies from Heaven: Objects in the Use of Outer Space as Sacred Space, in: Levinson, Paul/Waltemathe, Michael (Hg.), Touching the Face of the Cosmos. On the Intersection of Space Travel and Religion, New York 2016, 33-44.

Filmverzeichnis

  • 2001 – Odyssee im Weltraum, Stanley Kubrick, England 1968.
  • Arrival, Denis Villeneuve, USA 2016.
  • Bis ans Ende der Welt, Wim Wenders, Deutschland/Frankreich/Österreich 1991.
  • Dead Man, Jim Jarmusch, USA 1995.
  • Dein Weg, Emilio Estevez, USA 2010.
  • Die Farbe des Ozeans, Maggie Perens, Deutschland 2011.
  • Die große Reise, Ismaël Ferroukhi, Marokko/Frankreich 2004.
  • Die Reise des jungen Che, Walter Salles, Deutschland u.a. 2004.
  • Galaxy Quest, Dean Parisot, USA 1999.
  • Into the Wild, Sean Penn, USA 2007.
  • Saint Jacques - Pilgern auf Französisch, Coline Serreau, Frankreich 2007
  • The Straight Story, David Lynch, USA 1999.
  • Tschick, Fatih Akin, Deutschland 2016 (in Medienzentralen mit Filmheft auszuleihen).

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