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Lebenswelt

(erstellt: Februar 2016)

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Mit dem Begriff Lebenswelt werden häufig „Welten“, Bereiche oder Kulturen in der Gesellschaft bezeichnet, in denen Menschen leben: die Großstadt, der Kindergarten, die Jugendszene. Zudem ist der Begriff aber auch mit einem komplexen sozialphänomenologischen Konzept verbunden. Dessen Bedeutung soll im Folgenden exemplarisch entlang der Entwürfe einiger wichtiger Vertreter aufgezeigt werden.

1. Der Begriff Lebenswelt bei Edmund Husserl

Der Begriff der Lebenswelt wurde erstmals von Edmund Husserl (1992) in seinem letzten unvollendeten Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie konzeptionell ausgearbeitet, auch wenn er schon vorher und von anderen Philosophen (z.B. Georg Simmel) vereinzelt verwendet wurde. Husserl hat den Begriff nie definiert und hat ihn auch nicht eindeutig verwendet, dennoch hat er eine zentrale Bedeutung in seiner Erkenntnistheorie.

Die Lebenswelt ist bei Husserl die notwendige Bedingung der Möglichkeit, der Boden und der Horizont aller Wahrnehmung und Erkenntnis. In der Erkenntnisweise der natürlichen Einstellung des alltäglichen Lebens, der doxa, wird die wahrgenommene Welt als unmittelbar gegeben, unzweifelhaft, wahr und gültig begriffen. Die Erkenntnis ist subjektiv, perspektivisch, relational und relativ und hat einen unmittelbaren Sinnbezug zum Subjekt. Diese Wahrnehmung vollzieht sich unter unendlich vielen Voraussetzungen und durch vielfache Synthesen, in die frühere Erfahrungen, kulturell geprägtes Wissen mit all seinen symbolischen Bedeutungsträgern, sprachliche Benennungen, Typologien und vieles andere einfließen. Diese biographische, kulturelle und gesellschaftliche Ressourcen umfassende Lebenswelt ist dem intentionalen Bewusstsein selbstverständlich gegeben, ohne thematisch zu werden.

Sehe ich z.B. „das Haus von Paula“ vor mir, dann sind in diese Wahrnehmung bereits viele Voraussetzungen und Synthesen eingeflossen. Ich weiß aufgrund meines lebensweltlichen Horizontes, der stillschweigend die aktuelle Wahrnehmung ergänzt, dass jenes Profil, das ich sehe, eine Rückseite hat, die ich aktuell aber nicht sehen kann, dass es innen Räume hat, ich kann die Wahrnehmung als „Haus“ benennen, ich weiß, wessen Haus es ist usw. Dieses Wissen hat eine unmittelbare und unhinterfragte Gültigkeit: Ich bin mir sicher, dass es so ist, und weiß, dass die Wahrnehmung nicht ein Traum, eine Phantasie, ein Film oder eine Kulisse ist. Mein voraussetzungsreiches Wissen ist selbstverständlich gegeben und wird nicht in Zweifel gezogen. Durch diesen unhinterfragten naiven Zugang auf die Welt und die unbezweifelte Gültigkeit des Wissens kann ich im Alltag handeln, planen und kommunizieren.

Die Lebenswelt ist der Index des subjektiven Korrelationssystems und der Horizont für jedes wirkliche und mögliche Erkennen und Handeln. Sie ist ein notweniger Verweiszusammenhang, der das Hervortreten der Dinge im Bewusstsein erst möglich macht. Da die Lebenswelt unthematisch ist und jedem Bewusstseinsakt vorausliegt, ist sie nicht unmittelbar zu erfassen. Doch weil die wahrgenommenen Dinge und der lebensweltliche Horizont in einer Korrelation zueinander stehen, ist ein Zugang zur Lebenswelt über die wahrgenommenen Dinge bedingt möglich.

Der Erkenntnisweise der doxa steht die wissenschaftlich-objektive Erkenntnisweise, die episteme, konträr gegenüber. Die Erkenntnis ist objektiv und allgemeingültig, ihre Gültigkeit ist unabhängig von Subjekt, Ort und Zeit. Durch die Eliminierung des Subjektbezugs und seiner Sinnbezüge hat diese Erkenntnisweise eine objektive, allumfassende und in sich geschlossene, totale Welt reiner Idealitäten hervorgebracht. Mit dieser objektiven Erkenntnisweise betrachtet der Mensch schließlich auch sich selbst.

Diese abstrakte Welt hat in sich keinen Sinn, da sie von allen subjektiven Sinnbezügen, aus denen sie hervorgegangen ist, „abgezogen“, abstrahiert ist. Sinn wird erst in der instrumentellen Anwendung der Theorien im alltäglichen Leben neu zugeschrieben. Die objektive Erkenntnis erweist ihre Wahrheit in der Nützlichkeit; sie kann zur Beherrschung der Welt und zur Machtsteigerung des Menschen gebraucht werden. Aus der objektiven Erkenntnisweise heraus werden zugleich die alltagsweltlichen, subjektiv-relationalen Erkenntnisse und die subjektiven Sinnbezüge und ihre Geltungen zunehmend zweifelhaft und entwertet.

Die Loslösung der wissenschaftlich-abstrakten Welt von den subjektiven Sinnbezügen führt zu einer wachsenden Sinnkrise, der „radikalen Lebenskrisis des europäischen Menschentums“ (Husserl, 1992, 1). Diese Sinnkrise kann aber jene Wissenschaft nicht lösen, die sie selbst hervorgebracht hat. „Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“ (Husserl, 1992, 4).

Damit ist die Lebenswelt bei Husserl ein kritischer Gegenbegriff zu einer Wissenschaft, die das Subjekt aus der Erkenntnis systematisch ausschließt.

2. Lebenswelt und Alltag bei Alfred Schütz, Thomas Luckmann und Peter Berger

Alfred Schütz schließt an Husserls Begriff der Lebenswelt an und macht ihn in Auseinandersetzung mit Max Webers Entwurf einer verstehenden Soziologie für die Sozialwissenschaften fruchtbar. Er untersucht die Konstitution der gemeinsam geteilten lebensweltlichen Sinnstruktur im sozialen Handeln. Sein Schüler Thomas Luckmann fasst nach dem Tod von Schütz dessen unvollendeten Theoriefragmente zusammen (Schütz/Luckmann, 1979; 1984). Mit Peter Berger führt er schließlich den Ansatz weiter zu einer Konstitutionsanalyse der sozialen Welt (Berger/Luckmann, 1969). Ihre Frage lautet: Wie wird die Wirklichkeit gesellschaftlich-geschichtlich konstruiert? Dabei zeigen sie die Zusammenhänge auf, wie der Mensch in der Kommunikation mit anderen seine Wirklichkeit einerseits stets neu konstruiert, seine Konstruktionen aber zugleich immer schon durch die Gesellschaft, die Sprache und die Symbolwelt der Kultur vorgeprägt sind.

Mit William James unterscheidet Schütz verschiedene Sinnwelten ( multiple realities), wobei der Alltag als paramount reality die grundlegende Sinnwelt darstellt. Solche Sinnwelten können der Traum sein, die Phantasie, die Wissenschaft, die Religion, das Spiel oder die Kunst, doch alle haben ihr Fundament in der grundlegenden Sinnwelt des Alltags. Die Lebenswelt umspannt alle diese Sinnwelten. Es lässt sich eine Struktur der Lebenswelt ausmachen, die durch Merkmale wie Aufmerksamkeitsstruktur, Relevanzstruktur, kognitiver Stil, Wirkzonen, Selbsterfahrung oder Zeitperspektive bestimmt ist.

Der Alltag ist der unhinterfragte, gemeinsam geteilte lebensweltliche Boden intersubjektiv-gemeinsamen Handelns. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Sinnwelten können die Selbstverständlichkeiten des Alltags aber aufbrechen lassen und transzendieren. Ebenso werden in zwischenmenschlichen Verständigungsprozessen die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt sichtbar. So führt die Begegnung mit dem Fremden und mit verschiedenen Sinnenklaven immer wieder an die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt, sie macht den unhinterfragten Boden brüchig und nötigt zu Transzendierungen. Diese Selbsttranszendierung gehört zur conditio humana.

3. Die Entfaltung des Lebensweltkonzepts in verschiedenen Forschungsrichtungen

Diese Forschungen legen Grundlagen für die Entstehung eines großen Wissenschaftszweiges. Sie durchbrechen die seit den 1930er Jahren vorherrschende hegemoniale Stellung strukturfunktionalistischer Theorien und quantifizierender Methoden. Der zweite Weltkrieg hatte zudem das Vertrauen in die Erkenntnisse der Moderne erschüttert. Es entstanden wissenschaftliche Suchbewegungen, die nach Sinn und einem kritischen Gesellschaftsbezug suchten. Sie konnten an die kritischen Analysen sowie die konstitutionsanalytischen Methoden von Husserl und Schütz anknüpfen. Die Ethnomethodologie und der Symbolische Interaktionismus wandten sich der Alltagskommunikation zu. In den 1970er Jahren vollzog sich in vielen Disziplinen eine Alltagswende, bei der der Lebensweltbegriff oftmals mit dem Alltagsbegriff verschmolz. Die → Biographieforschung bekam Aufschwung. Die qualitativ-empirische Methodik, die die Sinnkonstruktion von Subjekten und die Alltagswelten der Menschen zu erforschen vermochte, wurde umfassend entwickelt. In der Pädagogik hat vor allem Wilfried Lippitz (1980) den Lebensweltbegriff in den Diskurs eingeführt. Auch in der Systematischen Theologie wurde der Lebensweltbegriff verschiedentlich aufgegriffen (Härle, 1995; Dalferth, 1997; Moxter, 2000; Faber, 2012 u.a.); die sogenannte Alltagswende und die empirische Wende vollzogen sich vor allem in der Praktischen Theologie (s.u.).

4. Die Lebenswelt und ihre Kolonialisierung bei Jürgen Habermas

Jürgen Habermas schließt zur Ausarbeitung seiner Theorie des kommunikativen Handelns an die Erkenntnisse von Husserl und Schütz an und entwickelt den Lebensweltbegriff darin weiter. Zeigte Husserl im Wissenschaftsbereich die Entkoppelung des objektiv-wissenschaftlichen Denksystems von der subjektiven Lebenswelt als Grund für eine wachsende Sinnkrise auf, so weist Habermas in der Sozialwelt die Entkoppelung gesellschaftlicher Systeme von den lebensweltlichen Kommunikationsprozessen und die Rückwirkungen der verselbständigten Systeme auf die Lebenswelt als Bedrohung für das → Subjekt auf.

Habermas führt den Begriff der Lebenswelt als ein Korrelat zu Verständigungsprozessen ein. „Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen auf. Dieser lebensweltliche Hintergrund dient als Quelle für Situationsdefinitionen, die von den Beteiligten als unproblematisch vorausgesetzt werden“ (Habermas, 1987a, 107). Die gemeinsame Lebenswelt der Interaktionspartner beinhaltet auch die kulturellen Überlieferungen vorheriger Generationen. Das lebensweltliche Hintergrundwissen ermöglicht erst die Kommunikation, indem es die aktuellen Äußerungen stillschweigend ergänzt, es bleibt aber unthematisch. „Kommunikatives Handeln spielt sich innerhalb einer Lebenswelt ab, die den Kommunikationsteilnehmern im Rücken bleibt. Diesen ist sie nur in der präreflexiven Form von selbstverständlichen Hintergrundannahmen und naiv beherrschten Fertigkeiten präsent“ (Habermas, 1987a, 449).

Die Lebenswelt ist holistisch strukturiert, wobei die einzelnen Elemente in komplexen Verweiszusammenhängen miteinander stehen. Als ein präreflexer Hintergrund steht die Lebenswelt nicht zur Disposition, da sie nicht bewusst ist und damit auch nicht in Zweifel gezogen werden kann. Nur partiell können Elemente der Lebenswelt ins Bewusstsein gehoben werden, wenn die Selbstverständlichkeiten des Alltags aufbrechen und die Alltagskommunikation problematisch wird. Dies kann geschehen, wenn es zu Legitimations- oder Orientierungskrisen kommt, etwa beim Umbruch eines Gesellschaftssystems wie bei der „Wende“ in osteuropäischen Staaten, wenn es zu Störungen der sozialen Integration kommt, etwa im Zuge von Einwanderungsprozessen von Menschen anderer Kulturen, oder wenn es zu Störungen in der Sozialisation und der Identitätsbildung (→ Identität, religiöse) kommt, etwa durch Traditionsbrüche (Habermas, 1987b, 212-217).

Die Verständigungen und die Handlungen in den lebensweltlichen Interaktionen bergen Risiken. Zu ihrer Entlastung bringt die Alltagswelt im Zuge der immer komplexeren gesellschaftlichenDifferenzierungsprozesse Systeme hervor wie das Rechtssystem, die staatliche Administration oder die Ökonomie. Diese Systeme trennen sich von der Lebenswelt ab, sie verselbständigen und reproduzieren sich unabhängig von Subjekten. Sie wirken zugleich machtvoll über die zentralen Steuerungsmedien Macht und Geld auf den Alltag der Subjekte zurück.

Die Systeme sind nicht verhandelbar und regulieren sich selbst. In ihrer Wirkung sind sie ambivalent. Sie entlasten die alltäglichen Routinehandlungen, zugleich aber verselbständigen sie sich, sie beherrschen die lebensweltlichen Lebens- und Kommunikationsprozesse und dringen tief in sie ein. Diese Einwirkung der Systeme auf die Lebenswelt hat Habermas als die Kolonialisierung der Lebenswelt bezeichnet. Sie kann zur Verdinglichung kommunikativer Beziehungen führen, zur Entfremdung und Verunsicherung kollektiver Identitäten (Habermas, 1984b, 566). Sie führt zu einer wachsenden Vorherrschaft der Marktgesetzlichkeiten der Ökonomie und der Macht des Rechts, des Staates und der Administration über die subjektive Alltagswelt. Was Habermas in den 1980er Jahren andeutet, wird inzwischen immer stärker sichtbar: Die Systeme bleiben in sich relativ stabil und werden im Krisenfall immer neu gestützt, während die Krisensymptome in die Lebenswelt zurückverlagert und privatisieret werden.

Die Ambivalenz der Systeme verdeutlicht Habermas an der Verrechtlichung der Sozialisation in der Schule und der Familie. Einerseits kann der Schutz des Kindeswohls nur durchgesetzt werden, wenn der Staat die rechtliche Möglichkeit der Intervention hat. Zugleich zeigen empirischen Studien, dass der Richter mit seinen juristischen Mitteln wenig auszurichten vermag. „Es ist das Medium des Rechtes selbst, das die kommunikativen Strukturen des verrechtlichten Handlungsprinzips verletzt“ (Habermas, 1987b, 543). Der Konflikt kann weder durch eine noch differenziertere Verrechtlichung gelöst werden, noch durch das Ersetzen des Richters durch andere Experten/Expertinnen wie Therapeuten/Therapeutinnen und Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen. Dies alles kann die betroffenen Subjekte nicht aus dem Objektstatus befreien. Vielmehr müssen Verfahren der Konfliktregelung entwickelt werden, die den Strukturen einer lebensweltlichen, verständigungsorientierten Kommunikation angemessen sind.

5. Lebensweltkonzeptionen in der Praktischen Theologie

In der Praktischen Theologie wird der Lebensweltbegriff recht häufig, aber uneinheitlich verwendet. Einerseits liegen inzwischen zahlreiche qualitativ-empirische Lebensweltanalysen vor, die in der sozialphänomenologischen Tradition entstanden sind, andererseits wird der Begriff auch oftmals ohne Bezug auf seine wissenschaftstheoretischen Wurzeln und Verständnisweisen verwendet.

Der Begriff hatte Auswirkungen auf die sogenannte Alltagswende in der Religionspädagogik und verschmolz dabei weithin mit dem Alltagsbegriff. Hier sind vor allem die Studien von Henning Luther (1992) zu nennen. Hans Günther Heimbrock (1998) arbeitete mit dem Lebensweltbegriff in der Religionspädagogik. Zudem wurde das Lebensweltkonzept in seinen sozialphilosophischen Diskurszusammenhängen in weiteren Ansätzen aufgegriffen und konzeptionell weiterentwickelt, wie z.B. von Thomas Henke (1994) für die Entwicklung einer lebensweltlich begründeten Seelsorgetheorie, von Stephanie Klein (2005) für die erkenntnistheoretische Fundierung der Methodologie in der Praktischen Theologie oder von Kerstin Merle (2011) für die Frage nach der Sinnkonstitution in der Seelsorge.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Lebensweltkonzept ist ein Forschungsprogramm der Konstitutionsanalyse, das erforscht, wie subjektive und gemeinsame Weltsichten zustande kommen und sich transformieren. Die Lebenswelt liegt der Konstitution der Biographie und Identität des Subjekts und der Konstitution und Transformation der Gesellschaft zugrunde. Die kritischen Analysen der Lebenswelt lassen zugleich in sich abgeschlossene Systeme erkennen, die sich aus ihren ursprünglichen lebensweltlichen Sinnzusammenhängen gelöst haben und als eine objektive Welt auf die Lebenswelt der Subjekte in einer ambivalenten, nützlichen und zerstörerischen Weise einwirken.

Das Lebensweltkonzept kann für wissenschaftliche Forschungsprogramme und für Konzepte zur Unterstützung der gelebten Religiosität (→ Religiosität, Jugendliche) fruchtbar gemacht werden. „Gelebte Religiosität bedeutet dann die Fähigkeit, im Leben religiöse Sinnbezüge herzustellen, die Wahrnehmungen, Erlebnisse und Erkenntnisse auf Gott hin zu transzendieren, die religiöse Überlieferung auf die eigenen Erfahrungen zu beziehen und im Leben bedeutsam werden zu lassen und das Leben und die gesellschaftlichen Bezüge aus einer solchen Religiosität heraus zu reflektieren und zu deuten, zu gestalten und zu bewältigen“ (Klein, 2005, 160, im Original hervorgehoben). Im Bereich der Forschung gibt das Lebensweltkonzept Anregungen zu erforschen, wie bestimmte Gruppen von Menschen (z.B. Kindergartenkinder, Berufsschüler/Berufsschülerinnen, Asylbewerbende, Wohnsitzlose u.a.) ihre Welt konstituieren und wie gesellschaftliche Systeme auf ihre Lebenswelt einwirken. Auf diese Weise entsteht ein Netz von Lebensweltanalysen, die Einblick geben, wie Menschen Sinn konstruieren und lebensweltlich handeln. Es kann zudem untersucht werden, wie gesellschaftliche und weltanschauliche Systeme auf die subjektiv-relationale Konstitution des Glaubens wirken. Weiter können Konzepte entwickelt werden, die das Vertrauen in die eigenen subjektiven Wahrnehmungen, Erfahrungen und Entscheidungen stärken und damit zur Identitätsbildung beitragen. Und schließlich können religionspädagogische Konzepte entwickelt werden, die die Menschen befähigen und bestärken, ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen auf → Gott hin zu transzendieren und eine Beziehung zu Gott aufzubauen. Dies stärkt die Ausbildung einer subjektiv gelebten Religiosität, die das Leben trägt. Es stärkt zugleich den Respekt vor den subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen anderer Menschen und vor ihrer Religiosität. Diese subjektiv-relationale Religiosität ist aber nicht solipsistisch zu verstehen, vielmehr zeigt die Sozialphänomenologie auf, dass sie in vielfältigen kommunikativen Handlungsprozessen entstanden ist und sich in ihnen ständig reproduziert, transformiert und tradiert.

Literaturverzeichnis

  • Berger, Peter L./Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1969.
  • Dalferth, Ingolf U., Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997.
  • Faber, Eva-Maria (Hg.), Lebenswelt und Theologie. Herausforderungen einer zeitsensiblen theologischen Lehre und Forschung, Fribourg 2012.
  • Grathoff, Richard, Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a. M. 1995.
  • Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a. M. 4. korr. Aufl. 1987a.
  • Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 4. korr. Aufl. 1987b.
  • Härle, Wilfried, Dogmatik, Berlin 1995.
  • Heimbrock, Hans-Günter (Hg.), Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Weinheim 1998.
  • Henke, Thomas, Seelsorge und Lebenswelt. Auf dem Weg zu einer Seelsorgetheorie in Auseinandersetzung mit soziologischen und sozialphilosophischen Lebensweltkonzepten, Würzburg 1994.
  • Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie, in: Ströker, Elisabeth (Hg.), Edmund Husserl. Gesammelte Schriften 8, Hamburg 1992.
  • Klein, Stephanie, Erkenntnis und Methode in der Praktischen Theologie, Stuttgart 2005.
  • Lippitz, Wilfried, „Lebenswelt“ oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze eines phänomenologisch begründeten anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Denkens in der Erziehungswissenschaft, Weinheim/Basel 1980.
  • Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992.
  • Merle, Kristin, Alltagsrelevanz. Zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge, Göttingen 2011.
  • Moxter, Michael, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000.
  • Schütz, Alfred, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a. M. 1981.
  • Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas, Strukturen der Lebenswelt 2, Frankfurt a. M. 1984.
  • Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas, Strukturen der Lebenswelt 1, Frankfurt a. M. 1979.
  • Waldenfels, Bernhard, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1985.

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