Deutsche Bibelgesellschaft

(erstellt: Februar 2016)

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1. Erzählungen und ihre wissenschaftlichen Kontexte

1.1. Was sind Erzählungen?

Formal betrachtet stellt eine Erzählung ein Geschehnis dar oder eine Abfolge von Ereignissen, die in einem zeitlichen Rahmen stehen. Es gibt eine Anfangssituation, eine Handlung mit den daran beteiligten Personen (den Aktanten oder den Erzählfiguren) und einen Abschluss, der zumeist eine Veränderung der Ausgangssituation bedeutet. Oft führt die Handlung auch dazu, dass sich für die Aktanten neue Einsichten oder gar Verhaltensänderungen ergeben. Diese knappe Charakteristik gilt zunächst für das Erzählen tatsächlicher Ereignisse, also für das faktuale Erzählen. Aber auch das Erzählen erfundener Geschichten folgt diesem Schema. Wo liegt nun der Unterschied und woran merken die Hörer oder Leser, ob eine Erzählung ein tatsächliches Geschehen wiedergibt oder ob sie gerade eine erfundene Geschichte hören oder lesen?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn es gibt fließende Übergänge zwischen dem faktualen und dem fiktionalen Erzählen. Orientierung können aber einige Merkmale stiften, die charakteristisch sind für fiktionales Erzählen. Beispielsweise: wiederkehrende Formeln ( Es war einmal ...; Mit dem Reich Gottes ist es wie ...); die Konstellation der Erzählfiguren (Ritter und Könige; der Kriminalkommissar und die Verdächtigen); Gattungsangaben (Roman; Comic); Wechsel der Perspektive oder der Erzählhaltung; Reflexionen über das Erzählte; Vorausdeutungen; Wiederholungen und Variationen. Im Ganzen heißt das: Häufig erkennt man fiktionales Erzählen an der bewussten und oft anspruchsvollen sprachlichen Gestaltung. Ein weiteres Moment ist die Erzählsituation: Wer als Patient seine Krankheit erklären will, ist schlecht beraten, wenn er dem Arzt eine fiktionale Geschichte präsentiert, aber von Eltern, die eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen, wird nicht verlangt, dass sie Geschehnisse wahrheitsgetreu darstellen.

1.2. Bedeutungsumfang

Im Überschneidungsfeld mehrerer Disziplinen der Kulturwissenschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher herausgestellt, wie umfassend Erzählen und Erzählungen unsere Vorstellungswelt und unser Handeln bestimmen. Geschichtswissenschaften leben geradezu von Erzählungen, vor Gericht werden Schuld oder Unschuld ermittelt, weil Erzählungen gegeneinanderstehen; Zeitungen und Filme bieten Tag für Tag neue Erzählungen, in der Psychotherapie wird zum heilsamen Erzählen ermutigt und nicht zuletzt erzählen die Religionsgemeinschaften Geschichten von Gott, vom Ursprung der Welt und von den Wegen der Erlösung. Angesichts dieses Befunds wird auch der Begriff der Erzählung beträchtlich erweitert. Er wird nun für alle Gattungen verwendet, die eine Handlungsabfolge darstellen und dadurch Wirklichkeit interpretieren. Dazu gehören → Filme, Reportagen, (nationale) Geschichtsdeutungen, (Auto-)Biographien, Blogs, → Comics, Graphic Novels usw.

1.3. Interdisziplinäre Überschneidungen

Wenn die → Religionspädagogik Ausmaß und Wert des Erzählens klären will, ist sie auf die Einsichten anderer Disziplinen angewiesen. Da ist zunächst das weite Gebiet der Narratologie, die ihrerseits im Überschneidungsfeld mehrerer Wissenschaften liegt (Philosophie, Psychologie, Soziologie, allgemeine Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft). Der besondere Beitrag der Literaturwissenschaft ist die Erzähltheorie mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Erzähltextanalyse. Die → Pädagogik als allgemeine Unterrichtslehre und als Methodik erschließt Zugänge zu den Wegen und Wirkungen des Erzählens. Und nicht zuletzt befasst sich die → Theologie mit dem Eigenwert von Erzählungen. Das ist naturgemäß ein zentrales Thema für die Bibelwissenschaften, aber es beschäftigt auch die → Kirchengeschichte und die Systematische Theologie, wenn diese die spannungsreiche Beziehung zwischen den Erzähltraditionen und der begrifflichen Darstellung des → Glaubens zu erhellen suchen.

2. Dimensionen des Erzählens

Weil Erzählen so universal und so komplex ist, ist es hilfreich, mehrere Dimensionen des Erzählens zu unterscheiden. Dadurch wird es auch möglich, das Erzählen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu charakterisieren:

2.1. Die subjektive Dimension: die narrative Identität

Wer sie sind, entdecken Menschen dadurch, dass sie Anderen und sich selbst ihre Geschichten erzählen (→ Geschichtserzählung). In Anekdoten, in Selbstgesprächen erarbeiten und entwerfen wir uns also eine Vergangenheit, die zu unserer Geschichte, ja, zu unserer Identität wird. Unser Leben, das ist schließlich nichts Anderes als die Summe unserer Geschichten. Wer Geschichten von sich erzählt, gewinnt Selbstdistanz; in diesen Geschichten ist er ja Objekt und Subjekt zugleich: Als Erzähler kann er auf den schauen, von dem er erzählt. Und dabei profitiert er von der Gestaltungsfreiheit eines jeden Erzählers: Er kann aus zurückliegenden Erlebnissen auswählen; er kann sie deuten und der Erzählsituation entsprechend modifizieren. In Selbsterzählungen wird also das Vergangene so bearbeitet und dargestellt, dass es zum jeweils gegenwärtigen Selbstverständnis des Erzählers passt und vielleicht sogar auf Erwartungen an die Zukunft ausgerichtet ist.

Wer Geschichten von sich erzählt, ist also durchaus kein neutraler Protokollant, der berichtet, was tatsächlich geschehen ist. Wer erzählt, modelliert vielmehr seine Erlebnisse so, dass sein Leben als Entwicklung erscheint, die er annehmen kann. Je nach Charakter und Situation gedeihen auf diesem Boden Heldengeschichten, heitere Episoden, Abstiegsgeschichten oder tragische Erzählungen. In der Ausgestaltung unserer Erzählungen sind wir aber keineswegs frei: Unsere Selbsterzählungen müssen für uns selbst und für die Anderen grundsätzlich glaubwürdig sein. Dabei dürfte sich meistens eine dialektische Beziehung zwischen uns selbst und unseren Erzählungen entwickeln: Unser Selbstverständnis und unsere Rolle gegenüber Anderen definieren wir nämlich durch unsere Erzählungen. Diese Erzählungen nisten sich in unser Rollenskript ein und wirken damit zurück auf unser Selbstverständnis und unsere Lebensführung. So entsteht schließlich ein Zirkel, in dem die Ausformung unserer Erzählungen und unser Selbstverständnis wechselseitig aufeinander einwirken (Kraus, 2000).

2.2. Die interpersonale Dimension: Erzählungen als kommunikatives Handeln

Geschichten bleiben nicht als Selbstgespräche im seelischen Binnenraum; häufig erzählen wir Anderen von uns. Dabei laden wir sie ein, unsere Sehweisen zu übernehmen und sich uns gegenüber entsprechend zu verhalten. Aus dieser Sicht sind Erzählungen Botschaften, ja Appelle, die unsere Interessen und Wünsche übermitteln. Häufig weisen wir dem Anderen dabei auch eine Rolle zu. Das geschieht vor allem dann, wenn der Andere in die Geschichte verstrickt ist, die wir gerade erzählen. Auf diese Weise können Geschichten Vertrauen stärken und Mut zusprechen; sie können Anerkennung und Nähe stiften. Aber sie können auch Zwietracht säen und Streit auslösen; sie können einen Anderen verletzen, sein Ansehen und sein Selbstvertrauen dauerhaft schädigen. Daher leuchtet es ein, dass Erzählungen strategisch eingesetzt werden können und dass sie situativ und adressatenbezogen modifiziert werden. Mit Erzählungen lassen sich Zuhörer manipulieren und radikalisieren; aber Gott sei Dank können Erzählungen auch aufklärend, befreiend und humanisierend wirken.

Diese Einsichten deuten auch einen Weg der Analyse an: Welche Erzählmuster sind charakteristisch für eine Person oder für eine Erzählgemeinschaft? Erzählt jemand regelmäßig Geschichten, in denen er Andere herabsetzt? Oder ist es in einer Familie üblich, mit Anerkennung und Wohlwollen von Anderen zu erzählen? Das seelische Klima einer Person oder einer Gemeinschaft offenbart sich in ihren Erzählungen. Pädagogisch betrachtet heißt das auch, dass Erzählmuster verstärkt werden können, die Beziehungen gut tun, und dass Erzählungen markiert werden können, die das Zusammenleben belasten – in der Hoffnung, dass sich eingefahrene Erzählmuster und damit auch Bilder vom Anderen ändern lassen (ein Musterbeispiel aus der Literatur ist etwa die Ringparabel in Lessings Drama „Nathan der Weise“).

2.3. Die historische Dimension: Erzählungen im kollektiven Gedächtnis

Das kollektive Gedächtnis bezeichnet die Summe aller Elemente, die unser geschichtliches Bewusstsein formen. Aleida und Jan Assmann unterscheiden dabei zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis bewahrt jene Überlieferungen, die den Erinnerungsraum der jeweils Lebenden bilden. Es umfasst also die Zeit von etwa achtzig Jahren, die von den Erlebnissen und Erfahrungen der Großelterngeneration zeitlich begrenzt wird. Das kulturelle Gedächtnis hat demgegenüber einen viel weiteren Horizont. Es umfasst alle Inhalte des kollektiven Gedächtnisses, die jenseits des Erlebnishorizonts der Älteren liegen. Dazu gehören Riten und Feste, Einsichten der Archäologie, der Erinnerungsschatz der Museen, das geschichtliche Wissen, aber auch Erzähltraditionen, Texte und Bilder.

Erzählungen stellen also nur einen Teil, aber einen durchaus bedeutsamen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses dar. Im kommunikativen Gedächtnis spielen sie naturgemäß eine größere Rolle, da in ihnen erlebte Geschichte aufbewahrt ist, etwa: Erzählungen von der Vertreibung nach 1945, von der Besatzungszeit, von der Wiedervereinigung, von Begegnungen mit Menschen anderer Kulturen. Im kulturellen Gedächtnis sind Erzählungen dagegen stärker formalisiert und in Erinnerungszusammenhänge eingebettet (z.B. Gedenktage, Nationalfeiertage, Feste des Kirchenjahres). In beiden Formen des Gedächtnisses werden die Erzählungen gefiltert und geprägt von den vorherrschenden Interessen und Diskursen der jeweiligen Gegenwart. Sie sind eingebunden in das Orientierungsverlangen der Erzählgemeinschaften, die jene Geschichten begünstigen, die ihrem Selbstbild entsprechen (deshalb sind Zeitzeugen [→ Zeitzeugenbefragung] auch keine Protokollanten, die Geschehenes objektiv berichten, vielmehr unterliegen auch sie in der Auswahl und Interpretation ihrer Erlebnisse den Erzählmustern, die im Schwange sind [Straub, 1998)]).

2.4. Die literarische Dimension: Räume des fiktionalen Erzählens

Wer in eine Gesellschaft hineinwächst, wächst auch in die Erzähltraditionen der jeweiligen Kultur hinein. Von den Sagen des klassischen Altertums, von der Bibel bis zu den Filmen und Romanen der Gegenwart hat unsere abendländische Kultur einen narrativen Schatz erworben, der unser Bewusstsein formt und der identitätsstiftend wirkt. Diese riesige narrative Sammlung erfüllt zahlreiche – durchaus verschiedenartige – Funktionen:

Fiktionale Erzählungen

  • erweitern den Horizont und die Fähigkeiten der Hörerinnen und Hörer

Sie vergrößern den Erlebnisraum, indem sie Konstellationen und Ereignisse darstellen, die in der Biographie der Hörerinnen und Hörer nicht vorkommen;

sie vergrößern das Weltwissen, wenn sie über andere Länder, ferne Zeiten, andere Milieus oder fremde Berufswelten erzählen;

sie erweitern die sprachlichen Fähigkeiten (Wortschatz, Stilmittel, Erzählformen).

Als Elemente des kollektiven Gedächtnisses können sie Verständigungstexte für kulturelle und politische Gemeinschaften sein.

  • begünstigen Reifungsprozesse und vertiefen das Selbstverständnis

Fiktionale Erzählungen laden ein zur Identifikation, indem sie Empathie mit den Erzählfiguren wecken und die emotionale Phantasie stärken. Indirekt helfen sie so den Hörerinnen und Hörern, eigene Erfahrungen zu klären und zu bearbeiten.

Fiktionale Erzählungen können Erlebnisse antizipieren; sie können Sehnsüchten, Ängsten und Hoffnungen Ausdruck verleihen.

Oft gestatten sie den Hörerinnen und Hören, verdrängte Gefühle (Liebe, Hass, Narzissmus, sadistische Wünsche, Sexfantasien …) anzuschauen, zu erleben und zu bearbeiten.

  • können die Fesseln der Wirklichkeit sprengen

Fiktionale Erzählungen können die Mauern der Realität durchbrechen; als Kinder der Phantasie können sie den Möglichkeitssinn der Hörerinnen und Hörer wecken oder stärken.

Gegen eine bedrückende Wirklichkeit können sie durch Ideologie- und Herrschaftskritik (→ Methoden der Ideologiekritik) Freiheit stiften (etwa durch Witz, Satire und Persiflage).

Sie können aber auch dazu verlocken, dem Druck der Wirklichkeit zu entfliehen – oder ihrer Banalität.

  • Und nicht zuletzt sind fiktionale Erzählungen attraktiv, weil sie anschaulich, spannend und unterhaltsam sein können.

Diese vielfältigen Leistungen können fiktionale Erzählungen nur erbringen, weil der Kanon des Erzählens im geschichtlichen Prozess immer reichhaltiger und kunstvoller geworden ist. Besonders in der späten Neuzeit wurden traditionelle Muster des Erzählens aufgebrochen und erweitert. Die Erzähltechnik der Romane und – mit zeitlichem Abstand – auch die Erzähltechnik der Filme wurden so immer differenzierter. Dadurch wurden Romane und Filme schließlich so ausdrucksfähig, dass sie Umbrüche der modernen Gesellschaft und die damit verbundenen seelischen Erschütterungen darstellen konnten. Und analog zu den Pluralisierungsprozessen der Gegenwart ist eine Vielfalt von neuen Erzählformen entstanden: → Filme unterschiedlicher Gattungen und unterschiedlichen Anspruchs, Reportagen, Kurzgeschichten, Daily Soaps, Fotoromane, Bildgeschichten und → Comics, Videoclips, Personalityshows, Blogs, Storytelling usw.

Dieser beeindruckende, schier unüberschaubare Fundus von Erzählungen stellt eine Herausforderung und eine Chance dar. Die Herausforderung besteht darin, dass es immer schwerer fällt, sich auf einen Kanon zu verständigen, der repräsentative Erzählungen heraushebt, die gelehrt und gelernt werden sollten. Die Chance besteht darin, dass denjenigen, die in unserer Gesellschaft aufwachsen, reiche Muster für ihr eigenes Erzählen angeboten werden. Die Fähigkeit zu erzählen wird nämlich nicht naturwüchsig erworben, sondern sie wird gelenkt, gestützt und animiert durch jene Erzählmodelle, die eine Gesellschaft bereitstellt. Erzählen ist also eine kulturell vermittelte Fähigkeit. Zugleich ist Erzählen aber auch kreatives Handeln, denn wer erzählt, beteiligt sich dadurch an jenen kulturellen Entwicklungen, durch die fortwährend neue Erzählinhalte und neue Erzählformen entstehen.

Betrachtet man die hier knapp skizzierten Dimensionen als großen Zusammenhang, so wird die Universalität des Erzählens deutlich: Die Menschheit kann „als ein kollektiv erzählendes Wesen betrachtet werden, indem sich jeder Einzelne durch das gegenseitige Erzählen und Zuhören die Welt erschließt und zu Eigen macht“ (Frenzel/Müller/Sottong, 2004, 6f.).

2.5. Vom kulturellen und sozialen Kontext des Erzählens

Exkurs: Erzählung versus begriffliche Erklärung

In unserer geistesgeschichtlichen Tradition stehen Erzählungen in einem Konkurrenzverhältnis zu rationalen Erklärungsmodellen. Für einen breiten Strom der abendländischen Philosophie – sein Ursprung liegt bei Platon – sind die Einsichten der Vernunft höher zu bewerten als die Kinder der Phantasie, zu denen auch die Werke der Dichter gehören. So entwickelt sich im Abendland eine Kultur, die dem erklärenden Begriff größeres Vertrauen schenkt als der ästhetischen Gestalt, und entsprechend werden narrative Traditionen abgewertet. Erzählungen waren lange Zeit vor allem deshalb angesehen, weil sie pädagogischen Nutzen versprachen. Sie sollten veranschaulichen, was Menschenbild und Moral ausmacht. Entsprechend standen bis ins 18. Jahrhundert didaktische Erzählformen hoch im Kurs: Fabeln, Beispielgeschichten, Schauspiele als Lehrstücke.

Derartige hermeneutische Vorgaben (→ Hermeneutik) haben auch für den Umgang mit der Bibel Weichen gestellt, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkten. Nach kirchlichem Glaubensverständnis und im Begründungszusammenhang des Religionsunterrichts besaß die systematische Glaubenslehre (→ Dogmatik; → Katechismusunterricht) den Vorrang vor biblischen Erzählungen. Dadurch verloren diese ihren narrativen Eigenwert; sie wurden didaktisch instrumentalisiert. Nur wenn sie einen Beitrag leisten konnten zum Glaubensverständnis oder zu ethischen Forderungen, gewannen Erzählungen der Bibel Bedeutung und Wert. Nach diesem Vorverständnis hatte die Bibel – und damit auch der Bibelunterricht – vor allem die (pädagogische) Aufgabe, anschaulich darzustellen, was die Kirche als (systematischen) Glauben verkündet.

Ein Fundament für dieses Bibelverständnis wurde in der späten Antike gelegt. Die narrativen Traditionen der Bibel werden von den Kirchenvätern – hier besonders von Augustinus – eingegliedert in einen heilsgeschichtlichen Rahmen. Erzähltheoretisch betrachtet geschieht dabei – stark vereinfacht – Folgendes: Die (früh-)mittelalterliche Theologie entwirft eine neue „große Erzählung“, nämlich die Geschichte unseres Heils. Diese beginnt mit der Erschaffung der Welt und mit dem Sündenfall im Paradies, setzt sich kontinuierlich fort in den Geschichten Noachs und der Patriarchen, in der Geschichte Israels und der Propheten. Sie gewinnt neue Dynamik in der Menschwerdung Gottes in → Christus, kulminierend in der → Erlösung der Menschheit im Tod und in der Auferstehung Christi. Sie wird ihre Vollendung finden im universalen Weltgericht, das den endgültigen Sieg Gottes über die Mächte der Finsternis besiegelt. Mit dieser umfassenden theologischen Geschichtsdeutung ist ein Interpretationsrahmen entworfen worden, der wie eine Folie über einzelne biblische Erzählungen gelegt wurde. Erzählungen der Bibel werden also – verlustreich – in ein heilstheologisches Korsett gezwängt.

2.5.1. Erzählen in Konkurrenz zum Lesen und zu modernen Medien

Aus ganz anderer Sicht vermindert der kulturelle und technologische Fortschritt den Stellenwert des Erzählens. In dem Maß, in dem – besonders im 19. Jahrhundert – die Lesekultur Gelände gewinnt, verliert das Erzählen an Raum. Romane und Kinderbücher lösen teilweise die gewohnten Erzählsituationen auf, und aus Erzählgemeinschaften werden einsame Leserinnen und Leser. Moderne Eltern erzählen nicht mehr; sie lesen vor. Und die Abwertung des Erzählens setzt sich beschleunigt fort im Siegeszug der modernen Medien (Illustrierte; Filme; Fernsehen) und wird noch einmal verstärkt durch den Reichtum der digitalen Welten (Internet, Computerspiele, Youtube, Facebook, Netflix usw.). Und möglicherweise hat sich inzwischen eine Kultur entwickelt, die bildüberfüttert ist und zugleich narrativ verarmt.

2.5.2. Erzählen als Baustein postmoderner Identität

In modernen Gesellschaften sind Identitäten in höherem Maß als früher wähl- und veränderbar. Vielfältige Berufswege und Familienmuster, aber auch die Globalisierung und die modernen Kommunikationsformen haben dazu geführt, dass die jeweils nachwachsende Generation Identitäten erwerben kann, die erheblich von den Lebenswegen und Sozialformen der Elterngeneration abweichen. Für die narrative Konstruktion der Identität ergeben sich damit neue Rahmenbedingungen: Es wird tendenziell schwieriger, biographische Erzählungen zu entwickeln, die innere Kohärenz aufweisen. Denn die Brüche und die Diskontinuität des Lebens prägen auch die Muster narrativer Selbsterzählungen. Biographien werden also episodischer und fragmentarischer erzählt (Kraus, 2000).

Dennoch verliert die Selbsterzählung als Weg zur Identität keineswegs an Gewicht. Gerade weil dem Einzelnen die Last der Herausbildung einer kohärenten Identität aufgebürdet bleibt, braucht er Erzählungen, als Mittel tätiger Selbstbestimmung und als Labor einer mühseligeren Suche nach der eigenen Lebensgestalt. Es verschieben sich also Modus und Funktion des Erzählens: Die narrative Identität lässt sich immer seltener herstellen durch die Übernahme traditioneller Erzählmuster, vielmehr bewähren sich Erzählungen als Entwürfe. Die narrative Identität hat nicht mehr vorrangig die Aufgabe, den Einzelnen in sozialen und kulturellen Kontexten zu verwurzeln, sie wird eher zu einem Tast- und Orientierungsversuch, zu einem Faktor biographischen Experimentierens (Bräuer, 2014). Dann wird erzählend erprobt, welche Lebensgestalt zu dem Einzelnen passt, der sich nicht mehr in traditionellen Lebensmustern und in den zugehörigen Erzählformen wiederfinden kann.

3. Das Erzählen und die Adressaten

3.1. Was die Adressaten leisten

Erzählen wird häufig als Leistung desjenigen betrachtet, der erzählt. Lernpsychologie und Rezeptionsästhetik betonen dagegen, dass auch die Adressaten erhebliche kognitive und affektive Leistungen erbringen, wenn sie eine Erzählung verstehen wollen.

Auf einer ersten Ebene geht es für sie darum, dass sie die Wörter und Sätze der Erzählung so erfassen, dass sich daraus ein Zusammenhang ergibt, der ihnen einleuchtet. Vor allem aber sind die imaginativen Fähigkeiten der Hörer gefordert: Sie sollen sich ein Bild von der erzählten Welt machen (z.B. sich den Raum vorstellen; das Leben in einer anderen Kultur; die Konstellation der Erzählfiguren). Und in die Erzählfiguren sollen sie sich hineinversetzen, ihre Gefühle und ihre Handlungslogik nachvollziehen.

Auf einer dritten Ebene gilt es, Brücken zu schlagen zwischen dem Adressaten und der Welt der Erzählung. Kognitiv heißt das: Der Erzählinhalt soll eingepasst werden in den bis dahin erworbenen Wissensbestand (dabei kann die Erzählung auch verglichen werden mit dem Fundus bereits bekannter Erzählungen, und es lassen sich wertende Verknüpfungen zwischen diesen Erzählungen herstellen). Affektiv bedeutet der Dialog mit der Erzählung, dass die Hörer emotionale Beziehungen (positiv wie negativ) zu den Erzählfiguren entwickeln. So kann ein Gespräch beginnen zwischen der Erzählung und der Erlebniswelt der Hörerinnen und Hörer; sie verknüpfen dann die fremde Erzählung mit der Summe ihrer eigenen Geschichten und Bilder.

Auf diesen Einsichten und emotionalen Prozessen baut die nächste Ebene des Verstehens auf: der Versuch der Sinngebung. Aus rezeptionsästhetischer Sicht wird der Hörer angetrieben von dem unbesiegbaren Verlangen, einen Sinnzusammenhang für die Erzählung zu entwerfen. Als uneindeutige und unbegriffliche Rede verlangt eine Erzählung geradezu danach, erklärt – also interpretiert – zu werden. Falls es gelingt, für die Erzählung einen plausiblen Sinnzusammenhang zu entwerfen, lässt sie sich nämlich relativ leicht in die eigene Vorstellungswelt integrieren. In dem Maß aber, in dem die Erzählung unverstehbar bleibt, wirkt sie beunruhigend und irritierend.

3.2. Folgerungen für die Arbeit mit Erzählungen

Aus dieser Sicht sollten alle Beteiligten lernen zu akzeptieren, dass eine literarische Erzählung grundsätzlich uneindeutig ist und dass der Prozess der Auslegung deshalb zu keinem endgültigen Ergebnis kommen kann. Es braucht Erfahrung und Reife, bis die Beteiligten erkennen, dass das offene Spiel der Interpretationen fruchtbarer ist als die Fixierung auf die einzig richtige Auslegung. Auch Erzählungen dürfen ihr Geheimnis wahren; sie gehen nicht auf in begrifflichen Erklärungsmustern (Niehl, 2006). Freilich droht dieser Offenheit eine Gefahr; sie heißt Beliebigkeit. Deshalb sollte in Lernprozessen dieser Art erfahrbar werden: Aus dem Pluralismus der Deutungen kann Verbindlichkeit erwachsen; denn über ihren Anspruch, über ihre Tragweite lässt sich verantwortlich streiten.

Damit wird deutlich, dass das tiefere Verstehen einer Erzählung vor allem vom Vorverständnis und vom didaktischen und methodischen Arrangement abhängt, mit denen eine Lehrperson arbeitet. Entscheidend ist dabei, dass die Lehrenden in der Lage sind, angemessen mit den Interpretationsvorschlägen der Lernenden umzugehen. Anzustreben sind Prozesse, in denen die Hörer fähig werden, sich mit den anderen Lernenden über eine angemessene Deutung der Erzählung zu verständigen. Dabei sollten sie lernen, ihre Deutungsvorschläge am Text der Erzählung zu überprüfen und zu belegen (Spinner, 2005, 12).

Für den Literaturunterricht ist es selbstverständlich, dass bei Interpretationen die Bauformen und Stilmittel einer Erzählung beachtet werden. In der Glaubensunterweisung und im Religionsunterricht liegen derartige Klärungen eher am Rande des Interesses. Mit Sicherheit ist es aber hilfreich, wenn die Lehrenden sich selbst mit den literarischen Besonderheiten einer Erzählung vertraut gemacht haben. Dann können sie im Lernprozess nämlich die Aufmerksamkeit der Lernenden entsprechend lenken und sie können flexibel reagieren, wenn es um Bezüge zur Textgestalt geht.

Erstaunliche Einsichten in die Vielschichtigkeit einer Erzählung gewinnen die Lernenden oft, wenn sie kreativ mit einer Erzählung umgehen können. Transformationen können perspektivische Nacherzählungen sein, Illustrationen, Aktualisierungen, Fortsetzungsgeschichten, gestalterische Arbeiten usw. In derartigen kreativen Prozessen können sich vertiefte Beziehungen zwischen der Erzählung und den Rezipienten entwickeln. Das ist besonders wertvoll bei heilsamen Formen der Kreativität, nämlich dann, wenn eine tragisch endende Erzählung ins Positive umerzählt wird (Beispielsweise: Wie hätte die Geschichte von Kain und Abel verlaufen müssen, damit Kain seinen jüngeren Bruder nicht erschlägt?). Diese Prozesse der Aneignung und Auseinandersetzung haben in der neueren didaktischen Literatur viel Aufmerksamkeit gefunden (Beispiele dafür finden sich auch in den vielfältigen Arbeiten zur → Kindertheologie).

Die bisher skizzierten Lernprozesse können selbst Gegenstand des Lernens werden. Dann geht es darum, das Verstehen selbst besser zu verstehen. Wenn beispielsweise in der Auslegung einer Erzählung Positionen sichtbar werden, die einander widersprechen, hilft die Frage weiter: Warum kommt A zu einer anderen Deutung als B? Dann kann (kognitiv) rekonstruiert werden, warum der Andere anders denkt. Ähnlich können unterschiedliche Deutungen einer Erzählung verglichen werden. Es geht also hier nicht um eine Einführung in die Denkgebäude der → Hermeneutik; es geht vielmehr um einfache Wege, auf denen der Prozess des Verstehens erkennbar wird. Dadurch sollte auch die Fähigkeit wachsen, mit Pluralität argumentativ umzugehen.

4. Das Erzählen und der christliche Glaube

4.1. Erzählungen als Fundament des christlichen Glaubens

Weiträumig ist der Fundus christlicher Erzählungen. Da sind zunächst die grundlegenden Erzähltraditionen der Bibel. Eine besondere Pointe liegt dabei in der narrativen Struktur der Evangelien: Sie erzählen ja Geschichten von Jesus, also Geschichten von einem Mann, der Geschichten erzählt. Auf diesem breiten Fundament bauen die christlichen Legenden und Heiligenviten (→ Heilige) auf, samt dem unerschöpflichen Kranz der Anekdoten; sie wachsen bis heute. Als großes Narrativ kann man die Geschichten der Kirchen betrachten. Sie sind zwar in (der wissenschaftlichen Disziplin) der Kirchengeschichte verankert, behalten aber zugleich als lebendiges Element des kollektiven Gedächtnisses grundsätzlich narrativen Charakter. Und das heißt auch: Sie verändern sich mit den geschichtlich wandelbaren Selbstverständnissen der christlichen Gemeinschaften. Zu diesen Erzähltraditionen gesellen sich spätestens seit dem Mittelalter die Ausfaltungen einer christlichen Literatur. Als Erbauungsgeschichten, als Erzählungen von den Erfahrungen der Mystikerinnen und Mystiker, als Märchen, als epische Dichtungen, als dramatische Lehrstücke haben sie über die Jahrhunderte konkretisiert, was Nachfolge Christi und Vertrauen auf Gott bedeuten. In kleinerer Münze beteiligen sich bis heute viele Christinnen und Christen an dieser Aufgabe. In Selbstzeugnissen erzählen sie von ihren Erfahrungen der Berufung, der → Erlösung, der Vergebung, kurz: von jenem christlichen Glauben, der sich in der Liebe bewährt.

Dieser knappe Überblick verdeutlicht, dass Erzählungen das konstitutive Element des christlichen Glaubens sind. Was leistet dieses narrative Fundament? Warum ist es unentbehrlich? Eine vorläufige Auskunft kann lauten: Der christliche Glaube versteht sich nicht in erster Linie als ein Lehrgebäude; er soll eine Praxis sein; er ist geschichtlich verortete Erfahrung. Und deshalb können Geschichten von der Befreiung, der Heilung oder der Vergebung zur Identifikation und zur Nachfolge ermutigen. Ein zweiter Ansatz führt tiefer: Unser Leben geht nicht auf im Erklärbaren. Die grundlegenden Erfahrungen von Liebe und Tod, von Angst, Einsamkeit, Schuld und Erlösung überschreiten die Möglichkeiten begrifflicher, erklärender Rede. Für den christlichen Glauben aber liegen diese Erfahrungen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Somit stellt sich die Aufgabe: Wie kann das Nicht-Erklärbare zum Vorschein kommen? Wie kann ausgedrückt werden, was in begrifflicher Sprache nicht gesagt werden kann? Hier liegt die besondere Kraft der Erzählungen: Wer erzählt, muss nicht erklären. Er wechselt den Modus des Sprechens: Er geht vom Begrifflichen ins Unbegriffliche; er weckt Vorstellungen, Bilder und Emotionen und öffnet so das Tor zu einer tieferen Schicht der Wirklichkeit. Und vor allem deshalb ist der christliche Glaube angewiesen auf den Reichtum erzählter Wahrheiten.

4.2. Das Problem einer narrativen Theologie

In den Jahren 1972/73 lösten zwei Aufsätze von Harald Weinrich und Johann Baptist Metz lebhafte Diskussionen aus. Sie skizzierten darin das Postulat einer „narrativen Theologie“. Diese sollte die systematisch-begriffliche Rede der → Theologie weitgehend ersetzen und dichter bei Erfahrungen angesiedelt sein; einmal bei den Ursprungserfahrungen – etwa der biblischen Erzählungen –, aber auch bei den Erfahrungen heutiger Adressaten. So sollte die „gefährliche Erinnerung“ (Metz, 1973) der Bibel erhalten bleiben und aktualisiert werden. Der Begriff „narrative Theologie“ blieb in der Debatte der siebziger Jahre erstaunlich unscharf. Man konnte darunter eine „erzählende Theologie“ verstehen. Sie geht davon aus, dass der (christliche) Glaube schon angemessen erfasst werden kann, wenn man die (oben erläuterten) Erzähltraditionen vergegenwärtigt und angesichts heutiger Lebensverhältnisse interpretiert. In der Debatte wurde aber auch mehrfach betont, dass dieser Weg verantwortlich nur beschritten werden kann, wenn er sein Fundament in einer theologischen Theorie der Narrativität hat (Wacker, 1983, 20f.). Verstärkt durch das Plädoyer für eine narrative Theologie sind in den siebziger und achtziger Jahren eine Fülle von Erzähl- und Vorlesebüchern entstanden. Sie stellten eine Bereicherung des Unterrichts und der Glaubensunterweisung dar.

Die Begeisterung für eine narrative Theologie ist abgeklungen. Und vielleicht ist es so: Eine erzählende Theologie im eigentlichen Sinn kann es nicht geben. Als universitäre Disziplin ist die → Theologie nämlich angewiesen auf die Klarheit des Begriffs und auf die Überzeugungskraft des Arguments. Und selbst die Auswahl und die Interpretation von christlichen Erzählungen lassen sich nur legitimieren durch theologische Klärungen (etwa der historisch-kritischen Exegese).

Als Echo der Klärungen in den siebziger und achtziger Jahren bleibt aber ein bedeutsamer Impuls: Die wissenschaftliche Theologie soll sich der narrativen Tiefenstruktur ihres Gegenstandes bewusst sein. Und diese Tiefenstruktur soll ihr tägliches Handwerk und ihre hermeneutische Reflexion prägen. Inzwischen hat sich – losgelöst von den damaligen Debatten – ein tieferes Verständnis narrativer Traditionen in der Theologie entwickelt. In der Exegese, aber auch im interreligiösen Dialog (→ Interreligiöses Lernen) ist das Bewusstsein vom einzigartigen Rang der Erzählungen gewachsen.

5. Erzählen in Schule und Gemeinde

5.1. Die didaktischen und methodischen Möglichkeiten

Auch in der schulischen und kirchlichen Praxis bleibt das Erzählen vielschichtig; es überschneiden sich fast immer verschiedenartige Lernprozesse. Nur der Klarheit wegen werden hier aber Möglichkeiten des Lernens unterschieden, die im praktischen Tun ineinander übergehen.

5.1.1. Lernen durch Erzählungen

Ein Lerninhalt wird in erzählender Form dargestellt. Dazu eignen sich Geschichten, die von historischen Ereignissen, biographischen Episoden oder vom Leben in fremden Kulturen erzählen. Hierher gehören auch Geschichten, in denen Kinder oder Jugendliche Probleme lösen oder komplizierte Sachverhalte erkunden (etwa: Kinder erleben ein Paschafest; ein junger Muslim erlebt die Wallfahrt nach Mekka). Die Jugendliteratur (→ Ganzschriften, Kinder- und Jugendliteratur) bietet reiche Anregungen und Muster für derartige Erzählungen.

5.1.2. Lernen aus Erzählungen

Damit betreten wir das Hauptfeld der pädagogischen Arbeit mit Erzählungen. Hierher gehören biblische Erzählungen, Legenden, Mythen, Kurzgeschichten usw. Der Erkenntnisgewinn erwächst aus dem Dialog zwischen den Erzählungen und den Lernenden. Als literarische Texte unterstützen Erzählungen dann die Lernenden bei der Erweiterung ihres Weltverständnisses, bei der Bearbeitung ihrer Lebensgeschichte, bei ihrer Suche nach einem Leben, dem sie zustimmen können. Erzählungen helfen, grundlegende Erfahrungen zu klären; sie können Konflikte und Dilemmasituationen schildern. So können sie existenzielle, ethische und soziale Lernprozesse anstoßen.

5.1.3. Lernen über Erzählungen

Die exemplarischen Erzählungen unserer Kultur sind beheimatet in Ursprungssituationen, sie haben oder hatten eine soziokulturelle Funktion und oft eine ausgedehnte Wirkungsgeschichte. Darüber können die Lernenden exemplarisches Wissen erwerben. Das geschieht beispielsweise, wenn die Entstehung einer biblischen Erzählung rekonstruiert wird. Vor allem kann an Bildern oder Liedern erfahrbar werden, wie die Wirkungsgeschichte einen biblischen Text bearbeitet hat (z.B. Bilder vom Paradies, von der Arche Noach und dem Turmbau zu Babel; Lieder über das Leben und Leiden Jesu).

5.1.4. Erzählen als Element des sprachlichen und literarischen Lernens

Erzählungen können Element der sprachlichen Bildung sein. Durch Erzählungen können die Lernenden ihren Wortschatz und ihre Ausdrucksfähigkeit erweitern; sie können auch Zugänge zur Sprache des Glaubens finden. Und nicht zuletzt sollten sie Methoden der → Textarbeit erlernen. Wenn Erzählungen selbst Gegenstand des Lernens sind, wird an ihnen auch literaturwissenschaftliches Elementarwissen erworben: Gattungen, Stilmittel, Erzählperspektive usw. Schließlich bietet die Arbeit mit Erzählungen die Möglichkeit, einige hermeneutische Regeln einzuüben und bewusst zu machen.

5.1.5. Wenn Schülerinnen und Schüler erzählen

In dem Maß, in dem der Religionsunterricht problemorientiert angelegt ist, gewinnen die erfahrungsgeleiteten Erzählungen der → Schülerinnen und Schüler an didaktischem Gewicht. Parallel zum Deutschunterricht sollen sie im Fach Religion ermutigt werden, zu erzählen; und sie sollen behutsam unterstützt werden, frei und anschaulich zu erzählen. Ob das gelingt, hängt weitgehend davon ab, ob der Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch; → Religionsunterricht, katholisch) als geschützter Raum erlebt wird. Als Raum, in dem persönliche Erlebnisse und Erfahrungen der Lerngruppe und der Lehrperson anvertraut werden können. Es sollte also in der Lerngruppe ein Klima angestrebt werden, in dem Erzählen zur inneren Form des Religionsunterrichts werden kann (Knauth, 2000).

5.2. Wie man Erzählen lernen kann

Es fehlt nicht an hilfreichen Ratgebern, die lehren wollen, wie man frei und anschaulich erzählt. Darunter gibt es zwei unterschiedliche Typen: Der größere Teil gibt praktische Hinweise und Ratschläge, wie man Erzählen lernen oder verbessern kann (differenziert: Waldmann/Bothe, 1992; eher knapp: Niehl, 2008). Die Fähigkeit zu erzählen erscheint hier als Lernprozess, der mittelfristig angelegt ist und der in vielen Schritten an Sicherheit und Wirkung gewinnt. Dagegen stehen einige Veröffentlichungen, die betonen, die wichtigste Bedingung für gutes Erzählen sei die innere Freiheit des Erzählenden (Oehlmann, 1995, 27-30). Das bedeutet: Wer gut erzählen will, soll einen Erzählstil entwickeln, der zu ihm passt. Wenn so das Erzählen zum authentischen Ausdruck einer Person wird, können manche praktischen Ratschläge weiterführen – andere erweisen sich als untauglich. Aus dieser Sicht sind also die Entwicklung der eigenen Person und die Fähigkeit zu erzählen eng miteinander verknüpft. Erzählen erscheint als Weg, der viele Stationen kennt und der verwoben ist mit der eigenen Berufsbiographie und der eigenen Lebensgeschichte.

5.3. Das Erzählen und die didaktischen Absichten

Wer im Religionsunterricht oder in der Gemeindearbeit eine Geschichte erzählt, hat dafür ein didaktisches Motiv. Die Erzählung ist dann Element eines Arrangements, das gezielt Einsichten der Lernenden anstrebt. Eine verständliche Versuchung der Lehrenden besteht nun darin, dass sie die Erzählung dem pädagogischen Zweck unterordnen und eine entsprechend klare Deutung erarbeiten wollen. Damit wird die Erzählung aber in die Scheune der Eindeutigkeit eingefahren, obwohl dies ihrem Charakter als offenem Kunstwerk oft widerspricht. Vor allem aber wird von den Lernenden erwartet, dass sie jene Deutungen akzeptieren oder gar erarbeiten, die zu den pädagogischen Absichten des oder der Lehrenden passen. Aus rezeptionsästhetischer Sicht wird damit die → Kreativität der Lernenden blockiert, denn sie werden nicht ermutigt, eigenständig Auslegungen zu entwerfen, Auslegungen, die verankert sind in ihrer Lebensgeschichte und die korrespondieren mit der Summe ihrer Geschichten (Im verbreiteten Grenzfall sind die Lernenden mit der Lehrererwartung so vertraut, dass es zu einer automatisierten Deutung kommt: Losgelöst vom eigenen Lebensgefühl bieten die Lernenden der Lehrperson religiöse oder moralische Auslegungen an, über die sich die Lehrperson nach ihrer Erfahrung freut.).

Ein notwendiges Heilmittel gegen derartige Engführungen sind methodische Schritte, die ausdrücklich ergebnisoffene Dialoge über Erzählungen anstreben. Es geht darum, Raum zu schaffen für unzensierte Kommentare und Deutungsvorschläge der Lernenden (vgl. Freudenberger-Lötz/Reiß, 2014). Dadurch kann reflektierter Umgang mit Pluralität gelehrt und gelernt werden. Die Wahrnehmung der Pluralität könnte mit der weit reichenden Einsicht beginnen, dass die Lehrenden und die Lernenden häufig mit unterschiedlichen Vorverständnissen in die Deutungsprozesse eintreten (Was geschieht etwa, wenn die Lehrenden eine Erzählung aus kirchlich-theologischem Erkenntnisinteresse verstehen, während die Lernenden profan-erfahrungsbezogen denken?). Da die Meinungsvielfalt in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, werden die Lehrenden stärker als Moderatoren gefordert. Nur im Dialog und im Aushandeln kann sich herausstellen, welcher Rang und welcher Anspruch einer Erzählung zusteht.

Literaturverzeichnis

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