Deutsche Bibelgesellschaft

Tiling, Magdalene von (1877-1974)

(erstellt: Februar 2024)

Artikel als PDF folgt

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/400004/

Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400004

Die am 19. Mai 1877 in Riga geborene Magdalene Louise Charlotte von Tiling darf zu den bedeutenden Frauen des konservativen Luthertums der 1920er Jahre gerechnet werden. Als langjährige Vorsitzende des „Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen“ und des Dachverbandes aller evangelischen Frauenorganisationen, der „Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands“, sowie durch ihre Mitarbeit in verschiedenen kirchlichen und schulpolitischen Gremien prägte sie mehrere Generationen evangelischer Pädagoginnen und Pädagogen. Sie gestaltete maßgeblich den Diskurs um die Neubestimmung der Geschlechterbeziehungen (→ Gender) in den evangelischen Kirchen der Weimarer Zeit mit und beteiligte sich an der Diskussion um das Verhältnis von → Theologie und → Pädagogik in den 1920er Jahren. In zahlreichen Schriften zu Fragen des Religionsunterrichts, zu Problemen der Frauenbildung und Mädchenerziehung sowie zu den Grundlagen pädagogischen Denkens und Handelns entwarf sie eine pädagogische Konzeption, die dem lutherischen Konzept der Schöpfungsordnungen verpflichtet war und die sie in Anlehnung an die Theologie Friedrich Gogartens zu einer „wissenschaftlichen Pädagogik auf reformatorischer Grundlage“ ausarbeitete (vgl. dazu und zum Folgenden: Schneider-Ludorff, 1997, 20-39; Schneider-Ludorff, 2001).

1. Biographische Wurzeln

Magdalene von Tiling stammte aus bürgerlichen Verhältnissen. Ihr Vater Wilhelm war Pfarrer und Oberlehrer in Riga, 1886 erhielt er das Amt des Dompredigers der Stadt. Ihre Mutter Maria, geb. Kupffer, war Hausfrau. Magdalene wurde als viertes von zwölf Kindern und älteste von acht Töchtern geboren. 1888 siedelte die Familie, deren Vorfahren bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Baltikum gelebt hatten, ins Deutsche Reich über. Nach ihrer Schulausbildung an der Bürgerschule in Staßfurt in Preußen und im Kloster Marienberg bei Helmstedt 1893 verbrachte sie, wie viele unverheiratete Frauen aus bürgerlichen Kreisen im Kaiser­reich, einige Jahre als Gouvernante. Dann entschloss sie sich, Lehrerin zu werden. 1902 legte Magdalene von Tiling in Kassel das Lehrerinnen­examen ab, das sie für den Unterricht an mittleren und höheren privaten Mädchenschulen befähigte. Bis 1906 unterrichtete sie an zwei höheren Pri­vat-Mädchenschulen in Kassel. Mit 29 Jahren entschloss sie sich, Theologie und Geschichte zu studieren und sich damit auf das Oberlehrerinnenexamen vorzuberei­ten.

Da in Preußen den Frauen erst ab 1908 die vollständige Immatrikulation an den Universitäten gestattet war, nahm sie 1906 in Göttingen an den seit 1894 von Anna Vorwerk eingerichteten wissenschaftlichen Kursen für Lehrerinnen teil. Ziel der Kurse war es, Lehrerinnen, die be­reits im Beruf gestanden hatten, in Methoden wissenschaftlichen Den­kens und Arbeitens einzuführen. In Kooperation mit acht Professoren der Universität Göttingen wurden Lehrerinnen auf den Abschluss der Oberlehrerinnenprüfung vorbereitet. Am 10. Mai 1909 legte von Tiling das Oberlehrerinnenexamen ab und wurde im Juni 1909 als Studienrätin am städtischen Oberlyzeum von Elberfeld angestellt.

2. Mädchenschulwesen und Religionsunterricht

Diese Anstalt, eine Neugründung, die im Zuge der Neuordnung des höheren Mädchen­schulwesens 1908 eingerichtet worden war, umfasste die auf einer zehnjährigen allgemeinen Schulbildung aufbauende doppelzügige Ober­stufe. Ein Zweig vermittelte als zweijährige Frauenschule eine hauswirt­schaftliche und sozialpädagogische Ausbildung, der andere führte in drei Jahren theoretischer und einem weiteren Jahr praktischer Ausbil­dung zur Lehrerinnenprüfung. Magdalene von Tiling unterrichtete in beiden Abteilungen. Ihr oblag der gesamte Religionsunterricht und in einigen Klassen der Geschichtsunterricht. 1911 beschloss die Stadtver­ordnetenversammlung von Elberfeld, ihr die Mitleitung der Frauen­schule und des Kindergartenseminars unter Verleihung des Titels ‚Frau Oberin‘ zu übertragen samt einer Entschädigung von jährlich 600 Mark, was eine weitreichende organisatorische und konzeptio­nelle Tätigkeit beinhaltete. Ihre Aufgabe bestand in der Betreuung und Ausbildung der Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen sowie in der Anfertigung von Stunden- und Stoffplänen für Frauenschule, Kinder­gärtnerinnen- und Hortnerinnenseminar. So war Magdalene von Tiling aufgrund ihrer Ausbildung als Lehrerin und ihrer Leitungsposition in einer höheren Mädchenbildungsanstalt bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts in die Debatte um die Neustrukturierung der höheren Mädchenbildung involviert und konzeptionell beteiligt.

Ein zweites Thema, das sie in dieser Zeit be­schäftigte, war die Diskussion um die Reform des Religionsunterrichts. Seit 1906 war sie Mitglied des Gesamtvorstandes der „Konferenz von Religionslehrerinnen“. Diese 1905 gegründete Organisation war ein Zu­sammenschluss von Religionslehrerinnen, die theologisch dem „ortho­doxen“ und „positiv-christlichen“ Lager angehörten. Sie wollten gegen alle Reformvorschläge einer liberalen Theologie den evangelischen Reli­gionsunterricht auf biblisch-bekenntnismäßiger Grundlage erhalten. Das Motto „nicht zurück zum Glauben der Väter, sondern vorwärts im Glau­ben der Väter“ ordnet die Organisation in die konservative kirchlich­konfessionelle Richtung der Theologie im Kaiserreich ein. Magdalene von Tiling, die seit 1910 mit der Redaktion des Verbandsorgans „Mittei­lungen aus der Konferenz von Religionslehrerinnen“ betraut war, verfasst Artikel über das lutherisch geprägte Verständnis der Stellung der Chri­sten zu Schrift und Bekenntnis sowie zum Religionsunterricht. Als 1916 der „Verband evangelischer Religionslehrerinnen“ als Nachfolgeorganisa­tion gegründet wurde, wurde Magdalene von Tiling der Vorsitz übertragen, bis zur Auflösung des Verbandes im Jahr 1939. Der „Verband evangelischer Religionslehrerinnen“ setzte die Arbeit der „Konferenz von Religionsleh­rerinnen“ fort. Er trat für die Erhaltung eines biblisch-bekenntnismäßigen Religionsunterrichts ein und fordert die Sicherung der evangelischen Schule. Organ des Verbandes war seit 1926 die Zeitschrift „Schule und Evange­lium“, gleichzeitig auch Organ der 1926 gegründeten „Evangelischen Schulvereinigung“. 1922 hatte der Verband 700 ordentliche und 500 außerordentliche Mitglieder. 1931 wurde der Name geändert in „Ver­band für evangelischen Religionsunterricht und Pädagogik“. Im August 1939 erfolgte die Auflösung des Verbandes. Die Zeitschrift erschien noch bis Som­mer 1941 unter dem Namen „Unterweisung und Glaube“. Die Arbeit Magdalene von Tilings bestand vor allem in der Redaktion des Ver­bandsorgans sowie in pädagogischen und theologischen Vorträgen in den Ortsverbänden.

3. Politikerin der DNVP und das Eintreten für Bekenntnisschulen

Die theologische und politische Arbeit Magdalene von Tilings war maß­geblich von ihrer Krisenwahrnehmung des Berlin der zwanziger Jahre geprägt. In dieser Zeit entstanden ihre wichtigsten eigenständigen Ab­handlungen im Bereich von Theologie und Pädagogik.

Den Verlust der Monarchie nach Ende des Krieges 1918 empfand Magdalene von Tiling als schmerzlich. Doch erkannte sie in den Errungenschaften der → Demokratie, wie dem allgemeinen aktiven und passiven Wahlrecht, die Chance zur politischen Partizipation von Frauen. Im Dezember 1918 und Januar 1919 beteiligte sie sich an der Gründung der „Deutsch­nationalen Volkspartei (DNVP)“ in Elberfeld. Die Partei mit ihrer mo­narchistischen und antisemitischen Ausrichtung galt als Garantin christ­licher Werte und zählte prominente Mitglieder des konservativen Protestantismus zu ihren Abgeordneten. Magdalene von Tiling wurde zunächst zur Stadtverordneten gewählt und zog im Jahr 1921 als Ab­geordnete der DNVP in den preußischen Landtag ein. Sie ging nach Berlin und wurde Politikerin. Ihr Engagement galt weiterhin theologi­schen und pädagogischen Fragestellungen. Als Mitglied des Präsidiums des „Evangelischen Ausschusses der DNVP“ setzte sie sich in der Dis­kussion um das Reichsschulgesetz für die Interessen der Bekenntnis­schule ein.

Die Weimarer Reichsverfassung hatte die christliche Simul­tanschule mit Religion als Pflichtfach zur Regelschule bestimmt. Der Religionsunterricht sollte in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt werden, nähere Bestimmungen soll­ten der Ländergesetzgebung überlassen bleiben. So beteiligte sich Mag­dalene von Tiling während der gesamten Weimarer Republik an den drei großen Entwürfen von 1921, 1925 und 1927 zum Reichsschulgesetz, das allerdings nicht verabschiedet wurde. Seit 1921 war sie zudem Mit­glied im „Reichsfrauenausschuss der DNVP“.

4. Das Konzept einer „Evangelischen Frauenbewegung“

Im selben Jahr wurde sie Mitglied in dem Arbeitsausschuss der „Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands“ und avancierte im September 1923 zur ersten Vorsit­zenden. Mit 27 Frauenverbänden und fast zwei Millionen Mitgliedern stellte diese Vereinigung den größten Zusammenschluss von Frauen in der Weimarer Republik dar. Die „Vereinigung Evangelischer Frauenver­bände Deutschlands (VEFD)“ war 1918 gegründet worden, nachdem der „Deutsch-Evangelische Frauenbund (DEF)“ wegen seiner Ableh­nung des Frauenstimmrechts aus dem „Bund Deutscher Frauenvereine (BDF)“ ausgetreten war. Die „VEFD“ verstand sich als Dachverband aller evangelisch-kirchlichen Frauenverbände und als Konkurrenzmo­dell zum „BDF“. Das Organ war das „Nachrichtenblatt der Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands“, ab 1927 umbenannt in „Monatsblatt der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutsch­lands“ und 1930 in „Aufgaben und Ziele. Monatsblatt der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands“. Die Arbeit Magdalene von Tilings bestand in der Vortragstätigkeit innerhalb der ver­schiedenen angeschlossenen Verbände und von 1923 bis Ende 1935 in der Herausgabe des Verbandsorgans. Zunehmend programmatisch ar­beitete Magdalene von Tiling das Konzept einer evangelischen Frauenbe­wegung heraus. Sie strebte das Engagement aller dem Politischen feind­lich gegenüberstehenden Frauen des konservativen Protestantismus an und rief zu einer „Einheitsfront“ aller evangelischen Frauen auf. Die Politisierung der Frauen sollte ein verstärktes christliches Enga­gement aus evangelischem Bewusstsein hervorbrin­gen. In Rückbesinnung auf „das von Gott mit der Schöpfung gegebene Sein der Frau“ sollte die Frau ihre Rolle in Volk und Staat“ finden (Tiling, 1924, 1).

5. Zusammenarbeit mit Friedrich Gogarten

In das Jahr 1925 fiel die Begegnung Magdalene von Tilings mit dem Theologen Friedrich Gogarten. Es entstand eine lebenslange Freundschaft mit der Familie Gogarten und eine intensive Ar­beitsgemeinschaft mit Friedrich Gogarten in den Grenzbereichen von Theologie und Pädagogik. Gogarten wurde zum ständigen Mitarbeiter der Zeit­schrift „Schule und Evangelium“ und hielt regelmäßig Vorträge auf den Tagungen des „Verbandes evangelischer Religionslehrerinnen“. Magda­lene von Tiling besuchte die Familie Gogarten häufig, um sich mit Gogar­ten über theologische Fragen auszutauschen. Am 29. September 1926 erhielt Magdalene von Tiling auf Anregung des Theologieprofessors Friedrich Brunstäd die Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät der Universität Rostock.

6. Die Theologie der Schöpfungsordnungen und die Beziehung der Geschlechter

Seit Anfang der zwanziger Jahre hatte von Tiling eine große Anzahl an Publikationen verfasst. Zudem entwarf sie in dieser Zeit eine schöpfungstheologisch begründete Neukonzeption der Geschlechter­verhältnisse im Protestantismus, die sich sowohl auf ihre Entwürfe zur Mädchenerziehung auswirken als auch auf die Debatte um den Religi­onsunterricht.

Magdalene von Tiling war Lutheranerin, genauer gesagt, sie gehörte der altlutherischen Richtung an. Seit 1925 rekurrierte sie in ihren theologi­schen und pädagogischen Schriften verstärkt auf die aus dem Neuluther­tum des 19. Jahrhunderts stammende Theologie der Schöpfungsord­nungen, die in den zwanziger Jahren zu einem zentralen theologischen Denkmuster avancierte. Danach findet sich jeder Mensch (→ Anthropologie), unabhängig von seinem Christsein, in bestimmten Lebensordnungen vor. Als „Ord­nungen“, die von Gott dem Menschen seit der Schöpfung gegeben sind, gelten Kirche, Rasse, Volk, Ehe, Familie und Beruf. Zugleich sind durch diese Schöpfungsordnung alle Menschen einer Geboteord­nung unterstellt, die Gott als Schöpfer allen Menschen gegeben hat. An­thropologisch war hier bereits eine wichtige Entscheidung getroffen, die auch für die Pädagogik zentral ist: Der Mensch wird nicht als ein sich selbst konstituierendes Individuum gesehen, sondern als ein in und durch eine Gemeinschaft konstituiertes. Theologisch gesprochen heißt das, der Mensch verdankt sich nicht sich selbst, sondern ist von Gott ge­schaffen und in eine Gemeinschaft und damit in eine Ordnung gestellt. Erst in der Ge­meinschaft entfaltet er sein wahres Sein und erhält seine wahre Bestim­mung. Aus der Sicht der konservativen Gruppen der Weimarer Republik, zu der sich Magdalene von Tiling ausdrücklich selbst zählte, war das Projekt der Gemeinschaft, in der sich die auseinanderstrebende → Gesellschaft wiedervereinigen sollte, die Volksgemeinschaft. Diese war, dem kulturellen Code der Konservativen entsprechend, antisemitisch (→ Antijudaismus, Antisemitismus) konnotiert (Volkow, 2000). Die Volksgemeinschaft schloss also von vornherein be­stimmte gesellschaftliche Gruppen, wie den jüdischen Teil der Bevölke­rung, aus. National überhöht und zur „deutschen Volksgemeinschaft“ stilisiert, war diesem Konstrukt die Aufgabe zugedacht, sämtliche Risse zwischen den Schichten, Klassen, Generationen und, nicht zuletzt, zwi­schen den Geschlechtern zu kitten.

Hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen leitete Magdalene von Tiling in ihrer 1925 erschienenen Schrift „Die neue Stellung der Frau in der Volksgemeinschaft“ aus der → Schöpfung eine gottgewollte Unterschie­denheit der Geschlechter ab und formuliert ein komplementäres Bezie­hungsmodell: Wie die Räder eines Uhrwerkes, die ineinandergreifen, so seien die Geschlechter aufeinander hin geschaffen, vor Gott einander gleichgestellt (Tiling, 1925, 6). Die hierarchische kephalè-doxa- (Haupt-Ehre-)Struktur, die bisher im konservativen Protestantismus die Unterord­nung der Frau unter den Mann begründete, lehnte sie ab. Das Bewusst­sein, Geschöpf zu sein, gebe dem Mann wie der Frau Eigenwert und Unabhängigkeit vom anderen Geschlecht in Abhängigkeit von Gott. Es ist angemessen, diesen Gedanken als ein Plädoyer für die → Emanzipation von Frauen aus dem patriarchalen Beziehungsgefüge zu interpretieren. Emanzipatorisch und ungewöhnlich für die konservativen Kreise des Protestantismus dieser Zeit ist der Hinweis, das allgemeine Priestertum gelte auch für die Frau – ein Streitpunkt, der in der Diskussion um die Frauenordination zentral war. Sie postulierte eine schöpfungsmäßige Verschiedenheit und wies Männern und Frauen aufgrund dessen unterschiedliche Aufgaben für Familie und Volk zu: Führung und Schutz entspräche dem Sein des Mannes. Patriarchatskri­tisch fügt sie hinzu, dass jedoch der Anspruch des Mannes auf Herr­schaft dessen schöpfungsmäßiges Sein pervertiere. Mütterlichkeit ande­rerseits entspreche dem schöpfungsmäßigen Sein der Frau. In der Argumentation vermied Magdalene von Tiling eine biologische Her­leitung und deklarierte Mütterlichkeit zu einer dem schöpfungsmäßigen Sein der Frau vermeintlich entsprechenden inneren Haltung. Sie betonte, dass nur durch das Zusammenwirken beider Geschlechter Kultur entstehe. Eine Dichotomie von Kultur und Natur lehnte sie damit ab und trat gegen die oft auch in liberalprotestantischen Kreisen hartnäckig vertretene Be­hauptung auf, dass einzig der Mann kulturschaffend sei.

7. Die Theologie der Schöpfungsordnungen und Mädchenerziehung

Zu Beginn der zwanziger Jahre stand bei Magdalene von Tiling die bis ins letzte Detail durchdachte gei­stige Bildung von Mädchen im Vordergrund samt dem Plädoyer für eine den Jungen gleiche Allgemeinbildung (vgl. Tiling, 1921). Ablehnend stand Magdalene von Tiling der geplanten Koedukation gegenüber. Das bei Magdalene von Tiling zunächst breit angelegte Bildungskonzept für Mädchen reduzierte sich Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre zunehmend auf die Überlegung zum Erwerb praktisch-hauswirt­schaftlicher und pflegerischer Kenntnisse der Mädchen. Dabei lassen sich Veränderungen in der Terminologie verzeichnen. Statt Mädchenbil­dung hieß es nun: Mädchenerziehung. Ausgehend von der in ihrem Verständnis nach schöpfungs­mäßigen Verschiedenheit der Geschlechter ging es Magdalene von Tiling darum, die Mädchen auf ihr spezielles „Sein“ hin zu erziehen und das Gebundensein an andere Menschen, Volk und Staat bewusst zu machen. Ihr Projekt favorisierte die Erziehung der Mädchen in den Staat als vorgegebene Schöpfungsordnung. Hier zeigte sich zugleich eine Affi­nität zur nationalsozialistischen Mädchenerziehung. Die Erziehung war ausgerichtet auf den Staat, der wiederum für den Zusammenhalt der Ordnungen sorgen und die gegenseitige Anerkennung der Geschlechter und deren Dienst aneinander garantieren sollte. Ziel einer neuen Päd­agogik sollte die Erziehung in die Schöpfungsordnung sicherstellen, um damit die Grundlage zur neuen Volksgemeinschaft bereitzustellen.

8. Die Theologie der Schöpfungsordnungen und die Neukonzeption einer „wissenschaftlichen Pädagogik auf reformatorischer Grundlage“

Auch im Rahmen des Verständnisses von Religionsunterricht führte die neulutherische Theologie der Schöpfungsordnungen zu einer Neukon­zeption. Zu Beginn der Weimarer Republik war Magdalene von Tiling eine Hauptverfechterin der Bekenntnisschulen. Als sich diese nicht durchset­zen ließen, weil die Weimarer Republik ihre Werteneutralität betonte, beteiligte sie sich an den schulpolitischen Debatten um die Richtlinien des Religionsunterrichts in Preußen als Abgeordnete der DNVP und Mitglied des Vorstandes des evangelischen Reichsausschusses der DNVP. Sie plädierte für einen evangelischen Religionsunterricht als „biblisch­christliche Erziehung zur Gesundung des deutschen Volkes“ (Tiling, 1923, 13). 1926 war sie Mitbegründerin der „Evangelischen Schulvereinigung“, in deren Ausschuss sie bis 1930 tätig war. Das Gremium verfolgte das Ziel, evangelische Privatschulen und deren Belange gegenüber Behörden und öffentlichen Körperschaften zu unterstützen. Zudem publizierte sie bis Mitte der zwanziger Jahre in den von Otto Eberhard, einem führen­den religionspädagogischen Reformer im Bereich der Arbeitsschule, herausgegebenen Sammelbänden über arbeitsschulmäßigen Religions­unterricht. Sie beteiligte sich an der Ausarbeitung reformpädagogischer Methoden für den Religionsunterricht und beschäftigte sich in der Aus­einandersetzung mit der Pädagogik „vom Kinde aus“ mit der Frage, welche Stellung dem Kind (→ Kinder/Kindheit) in Pädagogik und Religionspädagogik zu­komme. Mitte der zwanziger Jahre lässt sich durch die Bekanntschaft mit Gogarten eine Anlehnung an die dialektische Theologie mit deren pädagogischer und religionspädagogischer Kritik nachweisen: Haupt­punkte der theologischen Kritik waren die aus der Aufklärung stam­mende Idee der „Autonomie“ des Menschen sowie die kulturprotestan­tische Synthese von Christentum, Kultur, Schule und Bildung. Neben dem Religionsunterricht wurde das Ganze der Erziehung neu themati­siert. Magdalene von Tiling gründete 1931 einen Fachverband mit dem Namen „Verband für evangelischen Religionsunterricht und Pädago­gik“, was darauf hindeutet, dass neben der Beschäftigung mit dem Reli­gionsunterricht Fragen der allgemeinen Pädagogik in den Mittelpunkt des Interesses rücken.

Zugleich und dem Verband angegliedert entsteht der „Arbeitsbund für Pädagogik auf reformatorischer Grundlage“, womit das pädagogi­sche Programm Magdalene von Tilings Ende der Weimarer Republik be­nannt ist: Es ging um eine neue Grundlegung der gesamten Pädagogik aus lutherisch-reformatorischer Sicht. Im Vordergrund stand schöp­fungstheologisch der erste Artikel: Als Schöpfer und Erhalter der sündigen Menschen bewahrt Gott vor Bindungslosigkeit, Überheblichkeit und chaotischen sozialen Folgen kraft der gottgewollten weltlichen Ordnun­gen, die anerkannt werden müssen. Pädagogik habe die Aufgabe, alle Menschen diese Ordnungen in der Wirklichkeit erkennen und nach die­sen Anforderungen handeln zu lehren. Für Magdalene von Tiling gab es daher keine Trennung mehr zwischen allgemeiner Pädagogik und Religionsunterricht. Dies verdeutlicht der programmatische Titel des 1932 erschienenen Werkes „Grundlagen pädagogischen Denkens“. Der erste Teil bemüht sich um eine Darstellung der „Wirklichkeit“ der für alle Menschen erfahrbaren Ordnungen, den Beziehungsgefügen. Erst im zweiten Teil werden die schöpfungstheologischen Prämissen vorge­stellt. Die pädagogische Konzeption sollte eine allgemeine und eine allge­mein nachvollziehbare sein. „Niemals darf der Christ vorgeben, irgend etwas durch den Glauben oder durch das Evangelium bekommen zu haben, was der andere Mensch ohne den Glauben genauso gut wissen kann“ (Tiling 1932, 221). Hier ist die Absage an eine „evangelische Pädagogik“ vollzogen. Es entsprach dem Anliegen Magdalene von Tilings, die mit ihren pluralen Wertvorstellungen auseinanderfallende Gesellschaft zu­sammenzufügen, indem sie, wie sie meinte, auf eine für alle Menschen erfahrbare Basis zurückgriff.

9. Pädagogik der Altersstufen

Magdalene von Tiling begrüßte zunächst den nationalsozialistischen Staat (→ Kirche im Nationalsozialismus). Ihre Affinität zu den Nationalsozialisten speiste sich aus der Hoffnung, dass der neue Staat das durch die Weimarer Republik brüchig gewordene Ordnungsgefüge wiederherstellen würde. Doch allmählich wuchs ihre Skepsis: Sie verlor alsbald ihre Position als Abgeordnete im Reichstag. Als am 16. Juli 1933 das Frauen­werk der Deutschen Evangelischen Kirche gegründet wurde, das die „Vereinigung Evangelischer Frauenverbände“ ablösen und die gesamte evangelische Frauenarbeit in vier bzw. fünf „Säulen“ zusammenfassen sollte, verlor Magdalene von Tiling auch ihren langjährigen Vorsitz. Sie er­hielt lediglich die Zuständigkeit für die Arbeitsgruppe III: Erziehungs- ­und Bildungsarbeit. Nach der erneuten Umstrukturierung zugunsten einer Zweiteilung in „gemeindliche und gesamtkirchliche Arbeit“ ver­lor sie im August 1934 zudem ihr Amt im inneren Führungskreis des Frauen­werkes. Im Dezember 1935 endete ihre Herausgeberschaft der Zeit­schrift „Aufgaben und Ziele“. 1934 nahm sie ihre seit 1921 ruhende Tätigkeit als Studienrätin wieder auf. Sie unterrichtete an der Staatlichen Augusta Schule in Berlin. Im Herbst 1938 trat Magdalene von Tiling in den Ruhestand. Bis zu seiner erzwungenen Auflösung im August 1939 war sie weiterhin Vorsitzende des „Verbandes für evangelischen Religi­onsunterricht und Pädagogik“. 1941 wurde schließlich auch die Zeit­schrift des Verbandes verboten. Trotz der anfänglichen Begeisterung für den Nationalsozialismus war Magdalene von Tiling kein Parteimitglied geworden. Kirchenpolitisch hatte sie sich weder der Bekennenden Kir­che noch den Deutschen Christen angeschlossen.

Sie beschäftige sich in den 1930er und 1940er Jahren mit den „Altersstufen im menschlichen Leben“, die sie dann in den fünfziger Jahren zu einem breit ausgearbeiteten Entwurf einer „Pädagogik der Altersstufen“ aus­arbeitete (Tiling 1936; 1955). Da die nationalsozialistische Ideologie in jeglicher Hinsicht eine hierarchische Trennung verfolgte, sei es mit Blick auf vermeintliche Rassenzugehörigkeit oder Geschlecht, und auch die Generationen voneinander lösen wollte, kann die Beschäftigung mit den Altersstufen, die von Tiling als nunmehr knapp 60-Jährige vornahm, als eine Auseinandersetzung mit dieser NS-Ideologie interpretiert werden. Auch die Altersstufen bezeichnet sie als Schöpfungsordnungen, die zu der vom Schöpfer gegebenen Exi­stenz gehörten. Jeder Altersstufe gebühre ihre Anerkennung und Ehre. Diese wurde von der nationalsozialistischen Jugendideologie verwei­gert.

Nach 1945 nahm Magdalene von Tiling ihre theologische und pädagogische Arbeit wieder auf. Von 1945 bis Mitte der fünfziger Jahre war sie als Dozentin an verschiedenen Aus­bildungseinrichtungen des Johannesstifts in Spandau tätig: 1946 bis 1956 an der Schwesternhochschule der Diakonie in Berlin, von 1946 bis 1952 an der sozialen Frauenschule der Inneren Mission in Ber­lin und später in der Katechetenausbildung der Berliner Kirche. In die­ser Zeit entstanden vier weitere Schriften, in denen sie ihre „Pädagogik der Altersstufen“ weiterentwickelte und neben dem „Verhältnis der Ge­schlechter“ die „Ordnung der Generationen“ weiter ausarbeitet. Als der Religionsunterricht in der DDR Aufgabe der Kirchen wurde, beteiligte sie sich seit 1950 gemeinsam mit Oberkirchenrat Oskar Ziegner an der Aus­arbeitung der Lehrpläne für eine „Christenlehre“. Am 11. April 1957 erhielt sie das große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesre­publik Deutschland. Magdalene von Tiling starb am 28. Februar 1974 im Alter von 96 Jahren in München.

Literaturverzeichnis

1. Quellen

  • Tiling, Magdalene von, Zur Mädchenschulreform. Die deutsche Oberschule, Berlin 1921.
  • Tiling, Magdalene von, Erziehung zu kirchlichem Bewusstsein und kirchlicher Gemeinschaft, Langensalza 1923.
  • Tiling, Magdalene von, Einheitsfront Evangelischer Frauen, in: Nachrichtenblatt der Vereinigung evangelischer Frauenverbände Deutschlands 4 (1924) 2, 1.
  • Tiling, Magdalene von, Die neue Stellung der Frau zur Volksgemeinschaft, Leipzig 1925.
  • Tiling, Magdalene von, Grundlagen pädagogischen Denkens, Stuttgart 1932.
  • Tiling, Magdalene von, Die Altersstufen im menschlichen Leben, Stuttgart 1936, 1955.

2. Weitere Literatur

  • Herkenrath, Liesel-Lotte, Politik, Theologie und Erziehung. Untersuchungen zu Magdalene von Tilings Pädagogik, Heidelberg 1972.
  • Kaufmann, Doris, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München 1988.
  • Roggenkamp-Kaufmann, Antje, Magdalene von Tiling, in: Hauschild, Wolf-Dieter (Hg.), Profile des Luthertums: Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, 721-741.
  • Schneider-Ludorff, Gury, Magdalene von Tiling (1877-1974), Pädagogik und Geschlechterbeziehungen, in: Pithan, Annebelle (Hg.), Religionspädagoginnen des 20. Jahrhunderts, 20-39.
  • Schneider-Ludorff, Gury, Magdalene von Tiling, Ordnungstheologie und Geschlechterbeziehungen, Göttingen 2001.

PDF-Archiv

Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:

  • folgt!

VG Wort Zählmarke
Deutsche Bibelgesellschaftv.4.26.9
Folgen Sie uns auf: