Lukas 13,(1-5)6-9 | Buß- und Bettag | 20.11.2024
Einführung in das Lukasevangelium
1. Verfasser
Das dritte Evangelium ist das einzige, dessen Verfasser in der ersten Person Singular auf sich als Autor verweist (Lk 1,3), allerdings nennt er nicht seinen Namen, sondern nur den seines Adressaten Theophilus. Er ist kein Augenzeuge, sondern in seinem Zeugnis von solchen abhängig (Lk 1,2). Der erstmals in der inscriptio von P75 ca. ein Jahrhundert nach der Abfassung des Evangeliums genannte Name Lukas, der etwa zur gleichen Zeit auch bei Irenäus bezeugt wird (Adv Haer III,1,1), könnte fiktiv sein, wenngleich er sich im Unterschied zu ‚Matthäus‘ oder ‚Johannes‘ weniger für eine Fiktion nahelegt, da sich mit ihm keine unmittelbare apostolische Autorität reklamieren lässt. Der ebenfalls in das späte zweite Jahrhundert zu datierende Kanon Muratori identifiziert den Verfasser aufgrund der „Wir-Passagen“ in der Apostelgeschichte mit dem in Phlm 24
2. Adressaten
Die Anrede an Theophilus
3. Datierung
Die Datierung schwankt – von einer Frühdatierung um 60 n.Chr. bis weit ins 2. Jahrhundert hinein. Die deutliche Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger nimmt als frühesten Zeitpunkt die Zerstörung Jerusalems
4. Entstehungsort
Ungenaue Kenntnis der geographischen Verhältnisse Palästinas und abnehmendes Interesse an jüdischen Bräuchen machen eine Herkunft aus dem im jüdischen Stammland unwahrscheinlich; aufgrund diverser Angaben in der Apostelgeschichte werden vor allem Antiochia, Cäsarea, Rom
5. Theologisches Zentrum: Gott
In der längsten Zusammenfassung der Jesusvita außerhalb der Evangelien Apg 10,37-43 wird Jesus einmal genannt, Gott fünfmal. Diese Theozentrik ist Programm und bestimmt das ganze Doppelwerk, wie schon die Statistik zeigt: Das Appellativum θεός (das sich jeweils bis auf wenige Ausnahmen auf den biblischen Gott bezieht) findet sich bei Markus 48mal, bei Matthäus 51mal und bei Johannes 83mal, im lukanischen Doppelwerk aber 290mal (Evangelium 122, Apostelgeschichte 168); hinzu kommt der namensäquivalente Gebrauch von Gottesepitheta wie „Herr“, „Höchster“, „Mächtiger“, „Retter“ oder „Gebieter“. Zudem wird der göttliche Machtbereich entschiedener als in den anderen Evangelien als „heilig“ abgesetzt – das Adjektiv ἅγιος findet sich 7mal bei Markus, 10mal bei Matthäus und 5mal bei Johannes, im Doppelwerk aber 73mal. Zentrales Thema des Lukasevangeliums ist also Gott – der Gott, den Jesus von seinem ersten Wort als Jugendlicher (Lk 2,49) bis zu seinem letzten Wort als Sterbender (Lk 23,46 vgl. 23,34) als Vater anruft. Die göttliche Vaterschaft ist nicht nur Zentrum seines Betens (Lk 11,2-4.11-13; 22,42), sondern auch seines Selbstverständnisses (Lk 10,21f), seiner Ethik (Lk 6,35f) und seiner Verkündigung (Lk 15,11-32). Dessen Barmherzigkeit, programmatisch in den Lobgesängen des Anfangs gepriesen (Lk 1,50.54.72.78), bestimmt Jesu Worte, Werke und sein Verhalten. Weil dieser Gott als „Akteur im Hintergrund“ (Schmidt) alles durch „den festgesetzten Willen und das Vorauswissen“ lenkt (Apg 2,23), ist auch in Jesu scheinbarem Scheitern nur das geschehen, „was seine Hand und Wille zuvor festgesetzt hat“ (Apg 4,28). Indem so Gottes „mitleidende Barmherzigkeit“ denen, die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen, den Morgenglanz seiner Ewigkeit aufstrahlen ließ (Lk 1,78f) wurde inmitten allen Unheils jenseits von Eden Heilsgeschichte möglich, wurde „die Tür zum schönen Paradeis“ wieder aufgeschlossen (EG 27,6 vgl. Lk 23,43).
6. Besonderheit: Die Hermeneutik der Doppelkodierung
Lukas entstammte der gebildeten Schicht der hellenistischen Welt. Entsprechend sein Bemühen, die christliche Botschaft als ein Angebot für Gebildete darzubieten, das sich in konzentrierter Form in der bereits erwähnten Areopagrede
Literatur:
- Eve-Marie Becker: Wie Lukas über den ‚Gott der Lebenden‘ spricht und für den sachkundigen Leser Geschichte schreibt. Lk 20,27-40 par. Mk 12,18-27 im Vergleich; in: J.Dochhorn, R.Hirsch Luipold, I.Tanaseanu Döbler: Über Gott. FS Reinhard Feldmeier, Tübingen 2022, 207-222.
- Matthias Becker: Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse, SCCB 3, Paderborn 2020.
- F. Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/1-3, Neukirchen-Vluyn/Zürich 20193
- Joseph Fitzmyer: The Gospel According to Luke I-IX: Introduction, Translation, and Notes (The Anchor Bible, Vol. 28).
- Adolf von Harnack: Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 19244.
- Wolfgang Kraus: Lukas: Urchristlicher Schriftsteller zwischen Judentum und Hellenismus, in: Christoph Barnbrock / Werner Klän (Hgg.): Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V.Stolle, ThFW 12, Münster 2005.
- Daniel Marguerat: Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 2022.
- Joshua Paul Smith: Luke Was Not A Christian: Reading the Third Gospel and Acts within Judaism; BIS 218, Leiden 2023.
- Karl Matthias Schmidt: Akteur im Hintergrund. Anmerkungen zur Anwesenheit der Erzählfigur „Gott“ in der lukanischen Kindheitserzählung, in: Eisen, U. E. / Müller, I. (Hg.), Gott als Figur. Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016, 295-320.
- Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Leipzig 1988.
- M. Wolter: Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008.
A) Exegese kompakt: Lukas 13,1-9
Übersetzung
1 Es waren aber zu diesem Zeitpunkt welche anwesend, die ihm von den Galiläern berichteten, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte.
2 Und er antwortete, indem er ihnen sagte: „Meint ihr, dass diese Galiläer größere Sünder waren als alle [anderen] Galiläer, weil sie das erlitten haben?
3 Nein, sage ich euch, sondern: Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso umkommen.
4 Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete – meint ihr, dass sie schuldiger waren als alle [anderen] Menschen, die Jerusalem bewohnen?
5 Nein, ich sage euch: sondern wenn ihr euch nicht umorientiert, werdet ihr alle ebenso umkommen.“
6 Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: „Es hatte einer einen Feigenbaum, gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam, um Frucht darauf zu suchen und fand keine.
7 Da sprach er zu dem Weingärtner: ‚Siehe, drei Jahre [sind es nun schon], seit ich komme, um Frucht zu suchen an diesem Feigenbaum und finde keine. Hau ihn nun ab!
Was nimmt er dem Boden die Kraft?‘
8 Der aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, während ich um ihn grabe und ihn dünge;
9 vielleicht bringt er in Zukunft Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.‘“
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
Das Schlüsselwort in diesem Text ist μετανοεῖν in V.5. Die traditionelle Übersetzung mit ‚umkehren‘, ‚Buße tun‘ bringt nur unzureichend zum Ausdruck, dass es sich um ein Derivat von νοῦς handelt, das Verstand, Vernunft bedeutet. Es geht also um ein Umdenken, um die Neuorientierung der Daseins- und Handlungsorientierung.
2. Literarische Gestalt und Kontext
Der Text ist ein Lehrgespräch, bei dem Jesus von anderen um eine Stellungnahme gebeten wird, die er dann in Form einer autoritativen Antwort gibt. Die Besonderheit besteht hier darin, dass Jesus nach der Zurückweisung der bei seinen Gesprächspartnern vorausgesetzten Deutung seine eigene Position in Form eines Gleichnisses
3. Historische Einordnung
Die beiden von den Gesprächspartnern und von Jesus erwähnten Katastrophen sind anderweitig nicht bezeugt, was allerdings angesichts der vielen verlorene gegangenen antiken Quellen nicht notwendig gegen die Historizität der Ereignisse spricht.
4. Schwerpunkte der Interpretation
Bei Krankheiten und anderem Unglück zeigt sich immer wieder das fatale Bedürfnis, sich von fremdem Unglück dadurch zu dispensieren, dass man die Betroffenen selbst dafür verantwortlich macht, gerne auch mit religiöser Begründung. Diesen Mechanismus setzt Jesus offensichtlich bei seinen Hörern voraus und widerspricht ihm. Dabei lehnt er nicht jeden Zusammenhang zwischen Leid und Schuld ab. Im Unterschied zu der in den heutigen westlichen Gesellschaften verbreiteten grundsätzlichen Bestreitung einer Interdependenz zwischen Schuld und Schicksal bezieht er beides durchaus aufeinander, lehnt aber mit einem schroff vorangestellten „Nein“ jeden Versuch ab, den vom Unglück Betroffenen ein besonderes Verschulden zuzusprechen (und sich damit selbst von Schuld zu entlasten). Stattdessen unterstreicht er, dass alle an einem universalen Schuldzusammenhang teilhaben und deshalb auch von allen ein Sinneswandel samt entsprechender Lebensänderung verlangt wird, wenn sie nicht ein vergleichbares Schicksal erleiden wollen. Diese Argumentation wird von Jesus zunächst durch ein weiteres Beispiel verstärkt, um dann seine Forderung einer generellen Umkehr durch das anschließende Gleichnis noch zu unterstreichen. Dessen Pointe besteht im Widereinander von Weinbergbesitzer und Gärtner, welche die beiden möglichen Konsequenzen vertreten: Die sofortige Vernichtung aufgrund des doppelten Versagens (der Baum laugt den Boden aus und bringt keine Frucht) oder der noch einmal gewährte Aufschub als Chance zur Bewährung.
5. Theologische Perspektivierung
Die Argumentation Jesu ist bestimmt von der Spannung zwischen der unerwartet eingeräumten Gnadenfrist, die noch Rettung möglich macht, und der weiter bestehenden Forderung nach der Frucht, für die es, wie dann Lk 13,22-30 näher ausführt, auch ein „zu spät“ gibt. Die aktuellen Krisen (Klimaerwärmung, Kriege, Terror, Flüchtlingsströme, politische Radikalisierungen) lassen solche Mahnungen des Neuen Testament auch in unseren in mancherlei Hinsicht gemäßigten Breiten wieder aktueller erscheinen als in den letzten 80 Jahren. Immer mehr wird deutlich, dass sich ein bloßes ‚Weiter so‘ verbietet. Umdenken ist zur Überlebensfrage geworden. Die eingeräumte Gnadenfrist ist wie im Gleichnis Jesu auch eine Galgenfrist. So wird man gerade am ‚Buß- und Bettag‘ die Spannung offenhalten, die in dieser Erzählung auf deren zwei Protagonisten verteilt wird: Es gibt einen, der nach den ‚Früchten‘ abrechnet, aber es gibt auch einen Fürsprecher.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Für die Predigt kann zunächst die Vorstellung relevant sein (V. 5), dass Jesus eine Art Drohung oder zumindest eine bedrohliche Prognose ausspricht. Dazu passt dann die Perspektive auf das Abhauen des Feigenbaums im Gleichnis, das ja ebenfalls in einen zeitlichen Horizont gestellt wird. Zu fragen wäre: Inwiefern kommt mir das bekannt vor oder inwiefern kann ich solche Perspektiven irgendwie aus eigener Erfahrung nachvollziehen? Wer etwas Falsches tut, wird bestraft – das ist aus dem Straßenverkehr bekannt. Denkt man konkret an Umorientierung und Umkommen (V. 5 formuliert im Plural), dann drängt sich vielleicht das Thema Klimakrise auf. Im Gleichnis begegnet zudem auch noch das für alle möglichen Lebenslagen grundsätzlich anschlussfähige Thema der Veränderung: Heute noch keine Frucht, womöglich aber in Zukunft – das kann persönlich so unterschiedliche Aspekte betreffen wie den Umgang mit dem eigenen Körper und der Gesundheit (Abnehmen, Sport machen usw.) oder mit dem Zusammenleben in Beziehungen (aus einer Krise der Partnerschaft herauskommen). Wie aber sieht das mit dem Umkommen und dem Abgehauenwerden aus? Soll der ,echte‘ Tod gemeint sein oder reicht eine Deutung aus, die darauf abhebt, dass irgendwann Chancen vertan und Möglichkeiten verspielt sind?
2. Thematische Fokussierung
Der Text spricht mit dem Verhältnis von Tun und Ergehen ein lebensweltlich wichtiges Thema an. Allerdings ist auffällig, dass im ersten Teil (V. 1–5) zwei Vorkommnisse genannt sind, die eine gewissermaßen höchst äußerliche Bedrohung darstellen. Dabei ist die argumentative Tendenz nicht ohne weiteres zu verstehen: Wenn Pilatus irgendwelche Menschen unrechtmäßig getötet hat, inwiefern könnte das überhaupt sinnvollerweise für die Formulierung einer Drohung herangezogen (schärfer: instrumentalisiert) werden? Sollte das als gerechte Strafe gedeutet sein? Damit würde man doch wohl an unseren heutigen Standards scheitern. Und auch der todbringende Unfall: Was hat das mit Schuld zu tun? Die Äußerlichkeit beider Vorfälle ist jedenfalls nicht günstig, um das Verhältnis von Umorientierung und Folge zu reflektieren. Dabei ist vor allem zu bedenken: Wovon und wohin und weshalb umorientieren? Was wurde oder wird denn noch falsch gemacht und worin soll die Veränderung bestehen? Hier wird nichts (!) dazu gesagt. Hoffentlich übernimmt die Predigt nicht einfach diese Vokabel als selbstverständlich, denn sie ist es mitnichten – und dabei ist sie in (in weitestem Sinne) politischer Hinsicht sensibel (Umorientierung kann auch ,Gehirnwäsche‘ usw. bedeuten).
Auch das Bild vom Feigenbaum bringt Probleme mit sich: Ist der Lebensweg der Menschen mit natürlichem Wachstum und entsprechender ,Störung‘ vergleichbar, so dass man mit allem sachlichen Recht Frucht erwarten kann und der Baum ohne Frucht seinem sozusagen natürlichen Zweck nicht entspricht? Aber auch hier wirft nicht nur die Abstraktheit Fragen auf: Welche Frucht soll ich denn bringen? Und wie sieht denn mein Abgehauenwerden – heute! – aus? Wird hier der Mund nicht zu voll genommen? Was ist mit nicht nur konfessionsloser (Hans-Martin Barth), sondern auch fruchtloser Glücklichkeit? Oder wäre Frucht auch Glück?
3. Theologische Aktualisierung
Der Jesus dieser Perikope ist auffällig und wohl für die meisten heutigen Ohren auf befremdliche Weise streng oder hart. Dabei stellt die Möglichkeit einer im weitesten Sinne ethischen Deutung noch die wenigsten Probleme dar, wie insbesondere im Blick auf den ersten Teil und das Beispiel der Klimakrise ersichtlich werden kann. Hier ließe sich die Härte ja auch ermäßigen, wenn es nicht unbedingt um ein Umkommen im gewöhnlichen Sinne gehen würde, sondern um die inneren Tode oder das innere Sterben – also im Sinne einer Verarmung unserer Seele oder eines Kaltwerdens unseres Herzens oder einer Erkrankung unseres Zusammenlebens. Das ist alles recht eingängig. Nur: Wo bleibt der – im Text explizit ja auch überhaupt nicht begegnende – Glaube? Denkt jemand hier an eine Umorientierung des Gottesverhältnisses und eine entsprechende ,Schuld‘? Wie wären hier und heute (!) die Vergehen zu beschreiben, und wie wäre eine entsprechende Bedrohung zu benennen? Was fehlt dem Menschen an Gott, der sich nicht zu Gott hinwendet?
Spätestens dann fällt endlich auch auf: Können wir dieser Forderung so einfach nachkommen (wenn man so will: Verhältnis zwischen meinem Fehlen und dem, was mir fehlt)? Wird hier zu Recht gefordert? Die große Frage nach Indikativ und Imperativ (oder Zuspruch und Anspruch) stellt sich: Kann ich können, nur weil ich soll (Kant)? Oder muss erst gegeben werden und bestünde die Pointe einer entsprechenden Gesetzespredigt dann in einer Art usus elenchticus? In dieser Perspektive stellt sich auch die Frage nach der Konsequenz gegenüber dem Feigenbaum. Vielleicht wurde der Baum nicht genug gegossen, war es zu sonnig oder er war von einem Pilz befallen? Oder wäre solches Nachfragen nur der Versuche, sich aus der Verantwortung zu stehlen – einer oft ja so betonten Ver-Antwortung, gerade auch gegenüber unserem uns anredenden und stets schon angesprochen habenden Gott?
Wichtig bleibt aus dem ersten Teil: Gegenüber dem Blick auf irgendwelche anderen Menschen wendet Jesu Blick sich auf diejenigen, die auf den Tod solcher anderen Menschen zunächst nur von außen und nachträglich blicken – und führt damit sie und ihr Leben und ihre Zukunft in das Zentrum. Hier gilt: Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Menschen! Und das schon gar nicht von der Kanzel. Wer von Schuld spricht, spricht von Schuld als Schuld als von einer jeweils eigenen. Und wo Menschen so sterben, dass wir in der Zeitung von einem Unglücksfall lesen würden, gibt es kein sinnvolles Recht, von externer Warte aus auf das Gottesverhältnis der Betroffenen zu spekulieren. Aber wenn Sünde zu Recht als eine aversio a deo gelten kann, dann lassen sich die Folgen aus ihr selbst und an ihr selbst aufweisen.
4. Bezug zum Kirchenjahr
Der Text ist Predigttext für einen heute als kirchenjahreszeitliche Kasualie begangenen Buß- und Bettag und er passt zu dem von diesem Termin her vorgegebenen Thema: Bußkultur meint Selbstprüfungskultur – zunächst reicht auch (,niederschwellig‘): Selbstreflexivität, Nachdenklichkeit, Selbstbesinnung. Wenn man so will: Ein Feiertag zur Arbeit nicht direkt an einer eigenen Schuld, aber an der eigenen Schuldfähigkeit. Erinnert sei an Ps 19,13.
5. Anregungen
Zunächst seien zwei persönliche Assoziationen zum Feigenbaum genannt: Zum einen denke ich an die heute verstärkt wahrgenommene Bedeutung des sogenannten Totholzes in der Forstwirtschaft, und zwar insbesondere auch des noch stehenden Totholzes, also nicht erst des geschlagenen, aber liegengelassenen Baumes. Dieses Totholz ist sogenanntes Totholz, weil man es als außerordentlich wichtigen Lebensraum schätzt. Die Perspektive des Textes, die im Kontext eines anders gelagerten, nämlich im weitesten Sinne wirtschaftlichen Interesse an der Frucht des Baumes besonders einleuchtet, leuchtet auch weiterhin durchaus ein – dieser Baum soll eben Früchte bringen und enttäuscht, wenn er sie nicht bringt. Aber man kann ins Erwägen kommen über die Herausforderung einer entsprechenden Diagnose. Zitieren wir, wenn es um den Glauben geht, nicht für gewöhnlich „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an“ (1Sam 16,7) – wie verhält sich das zu den Früchten eines Baumes (eingedenk auch von Mt 7,16)?
Ob der Seitenblick in den Wald dazu dienlich ist – der zumindest gedankliche Seitenblick auf das botanische und das menschliche Leben kann wichtig werden. In diesem Kontext erinnere ich mich zum anderen an eine us-amerikanische Redensart, die ebenfalls das Verhältnis von menschlicher und pflanzlicher Natur betrifft – ich kenne sie aus der Diskussion der Todesstrafe (!) und im Kontext der Frage einer dann gleichsam (euphemistisch zuspitzend gesprochen) präventiven Pädagogik (man denke an: ,Baumschule‘) vorgebracht: „If you can’t straighten them, chop them!“ (in etwa: „Wenn du sie nicht aufrichten kannst, dann hacke sie ab!“) Das angesprochene Problem im Verhältnis von Anspruch und Zuspruch ließe sich für den Schluss der Predigt so fruchtbar machen, dass sie im Gebet mündet.
Autoren
- Prof. Dr. Reinhard Feldmeier (Einführung und Exegese)
- Dr. Johannes Greifenstein (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500073
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