Jesaja 50,4-9 | Palmsonntag | 13.04.2025
Einführung in das Buch Jesaja
1. Endgestalt des Buches
Das Jesajabuch
Das gesamte Buch wird laut Jes 1,1 dem Propheten Jesaja, Sohn des Amoz (wohl nicht zu verwechseln mit dem Propheten Amos), zugeschrieben. Selbst die Texte ab Jes 40 und Jes 56, die man gemeinhin Deutero- bzw. Tritojesaja zuweist, stehen den Redaktoren der Bibel zufolge in der Autorität oder in der „Nachfolge“ des Propheten Jesaja.
2. Literarische Entstehungsgeschichte
Der Kern des Jesajabuches geht auf den gleichnamigen Propheten zurück, der im 8. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem wirkte. Spätestens die Kapitel ab Jes 40 werden aber einem zweiten Propheten zugerechnet, den man Deuterojesaja
Im Zuge der redaktionsgeschichtlichen Forschung des 20. Jahrhunderts ist der Kernbestand bei allen drei Teilen teilweise auf wenige Kapitel geschrumpft. Der Großteil wird späteren Ergänzern, Fortschreibern oder Redaktoren zugewiesen. Das hat zwei Folgen: Zum einen kann man nur einen kleinen Teil der Schrift „mit Sicherheit“ dem Propheten Jesaja oder Deuterojesaja zuweisen, während der überwiegende Teil des Buches Jesaja von unbekannten Redaktoren etc. verfasst wurde. Zum anderen gibt es eine stärkere Orientierung am „Sitz im Buch“, d.h. man kann die Texte meist nicht einem ganz bestimmten Zeitpunkt zuweisen, dafür aber die Stelle, in der der Text vorkommt, aus dem Buch heraus begründen. Die Texte des Jesajabuches sind keine zufällige Sammlung von Einzelworten, sondern eine – wie auch immer geartete – Komposition oder bewusste Gestaltung. Auf diese Weise kann man die theologischen Debatten, die Aktualisierungen und Anpassung der alten Prophetenworte an die jeweils neue Zeit nachvollziehen.
Allerdings gibt es bis heute die Ansicht, ein Großteil der Texte von Jes 1–29 ginge auf den historischen Propheten Jesaja zurück und man könne die unterschiedlichen, teils auch widersprüchlichen Texte auf Verkündigungsphasen des Propheten zurückführen. Bei Deuterojesaja hat man Ähnliches versucht. Aber auch hierbei gilt, dass diese Forschungsrichtung in den Teilabschnitten und im Jesajabuch als Ganzes eine bewusste und absichtliche Gestaltung des Buches erkennt.
3. Historische Kontexte
Deuterojesaja ist unabhängig von Protojesaja entstanden und später damit verbunden worden. Über die Einzelheiten und den Zeitpunkt ist man sich uneins. Deuterojesaja galt klassisch als exilischer Prophet, da er von der Erweckung des Perserkönigs Kyros spricht. Es gibt aber auch die Auffassung, dass der Kern frühnachexilisch ist und größere Abschnitte auch nach dem Wiederaufbau des Zweiten Tempels (515 v. Chr.) verfasst worden sind. Mit dem Ende des Exils und dem Wiederaufbau des Tempels lassen sich die Freudentexte, von denen Jes 40–55.60–62 voll sind, gut erklären. Andere Textstellen wiederum sehen die anfänglichen Hoffnungen nicht bestätigt und tragen ihre Zurückhaltung und Enttäuschung ein.
Ein Teil der Texte aus Tritojesaja (wie auch einzelne Zusätze im übrigen Jesajabuch) stammt sogar aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Das Jesajabuch hat einen vorexilischen Kern. Der Großteil der Texte entstammt jedoch der exilischen, vor allen Dingen aber der nachexilischen Zeit. Das Jesajabuch diskutiert die Frage, wie es mit dem Zion und der (Gottes-)Herrschaft weitergeht.
4. Wichtige Themen
Zion
5. Die Gottesknechtslieder
Die vier Gottesknechtslieder sind eine Entdeckung Bernhard Duhms und haben bis heute Bestand. Duhm rechnet dazu Jes 42,1–4; Jes 49,1–6; Jes 50,4–11 und Jes 52,13–53,12
Jedenfalls lassen sich die verschiedenen Vorstellungen kaum auf einen Nenner bringen, so dass man sie nicht ein und demselben Verfasser zurechnet. Auch in sich scheinen sie gewachsen und fortgeschrieben worden zu sein.
Das vierte Gottesknechtslied ist im Neuen Testament vielfach auf Jesus gedeutet worden und erfährt damit besondere Aufmerksamkeit.
Literatur:
- Hermisson, H.-J., 2017, Deuterojesaja. Jesaja 49,14–55,13, BK XI/3, Göttingen.
- Höffken, P., 1998, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66, NSK.AT 18/2, Stuttgart.
A) Exegese kompakt: Jesaja 50,4-9
Sich zum Schüler Gottes machen lassen heißt: verletzlich werden und doch stark
Übersetzung
4 Der Herr Jhwh gab mir die Stimme eines Schülers,
damit ich verstehe, dem Erschöpften ein Wort zuzusprechen, das weckt.
Am Morgen, am Morgen öffnet er mir das Ohr,
um zu hören wie Schüler.
5 Der Herr Jhwh öffnet mir das Ohr
und ich war nicht widerspenstig,
nicht weiche ich zurück.
6 Meinen Rücken habe ich denen dargeboten, die schlagen,
und meine Backen denen, die raufen.
Mein Angesicht habe ich nicht verborgen
vor Beschimpfungen und Speichel.
7 Aber der Herr Jhwh hat mir geholfen,
deswegen werde ich nicht zuschanden,
deswegen habe ich mein Angesicht gemacht wie einen Kiesel,
und ich erkenne, dass ich nicht zuschanden werde.
8 Nah ist der, der mir Recht schafft.
Wer will einen Rechtsstreit gegen mich führen?
Wir wollen miteinander hintreten!
Wer ist Herr über mein Recht?
Er soll sich mir nähern!
9 Siehe, mein Herr Jhwh, hilf mir!
Wer ist es, der mich für schuldig befindet?
Siehe, sie alle nutzen sich ab wie ein Gewand, die Motte verzehrt sie.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V.4: לָעוּת (zu helfen); zu diesem Wort gibt es zahlreiche Konjekturen (vgl. Hermisson z.St.); am ehesten legt sich לַעֲנוֺת (um zuzusprechen) nahe
2. Literarische Gestaltung und Kontexte
Jes 50,4–9 findet sich in einem längeren Abschnitt, der durch Zion-Texte bestimmt wird (Jes 49,14–26; 51,17–52,2; 52,7–10; 54,1–17; 60,1–22). Das dritte Gottesknechtslied steht nach dem ersten Zion-Text in Jes 49,14ff. und markiert einen schroffen Neueinsatz. Den folgenden Abschnitt (Jes 50,10–51,8) kann man als Rede des Gottesknechtes auffassen, da hier wie dort ein Ich spricht. Im ersten Teil des Textes berichtet der Sprecher davon, dass Jhwh ihm eine Stimme gegeben und das Ohr geöffnet habe, um eine Botschaft zu verkünden (Jes 50,4f.). Dass der Sprecher nicht zurückwich, führte dazu, dass ihm Gewalt widerfuhr (Schläge, Beschimpfungen, Spucke). Doch trotz dieser Erfahrung hofft der Sprecher weiter auf Jhwh, ist Jhwh der Einzige, der ihm hilft, hat der Sprecher keine Angst vor seinen Feinden (V.7–9). Als schwacher Trost bleibt dann nur, dass auch sie irgendwann sterben werden (V.9).
3. Textgenese
Wie so oft herrscht auch über die Entstehung und das Wachstum der deuterojesajanischen Texte keine Einigung. Das dritte Gottesknechtslied ist zeitlich nach Jes 51,9-52,10* in den Zusammenhang eingefügt worden, da ab Jes 51,9 kein Ich mehr auftritt, sich umgekehrt Jes 51,9ff. als Rede des Gottesknechtes lesen lässt. Wäre Jes 50,4–9 älter, hätte man auch Jes 51,9ff. als Rede des Gottesknechtes, d.h. aus der Ich-Perspektive gestalten können. Da auch vor Jes 50,4–9 ein Zion-Text steht (Jes 49,14–26*) und das dritte Gottesknechtslied gerade nicht von Zion handelt – sofern man dort nicht Zion als Sprecher annehmen will –, dürfte Jes 50,4–9 zwischen die Texte eingeschoben worden sein.
Jes 50,4–9 wird oft als einheitlicher Text angesehen, dürfte aber auch eine Wachstumsgeschichte hinter sich haben. So handeln die ersten beiden Verse davon, wie Jhwh das Ich des Textes mit einer Stimme beschenkt und ihm das Ohr öffnet (V.4f.): Ein Ohr, um Jhwhs Wort zu hören; eine Stimme, um das Wort zu verkünden. Beides nimmt das Ich an und weicht nicht zurück. In V.6 wird dagegen ausgeführt, was es bedeutet, wenn man nicht zurückweicht, was man ertragen und erleiden muss. Die einzige Hoffnung, die man dann noch hat, ist Jhwh. Wenn das Jes 50,4–9 dazu dient, dem Abschnitt Jes 51,9–52,10 einen Sprecher zu geben, lassen sich Jes 50,4f. als Einführung dieses Sprechers verstehen, der nicht zurückweicht, wenn er seine Botschaft verkünden muss. Im Zusammenhang des Buches bestünde diese Botschaft in der Rückkehr Jhwhs zum Zion, also in der Zuwendung Jhwhs zu seinem Volk. Jes 50,6–9 deutet demgegenüber, was es heißt, wenn man seinen Auftrag der Verkündigung annimmt und mit welchen Folgen man rechnen muss. Dieser Abschnitt wäre dann eine spätere Auslegung von V.5.
4. Historische Einordnung der Schichten
Eine genaue historische Einordnung kann kaum gegeben werden. Wenn Jes 52,7–10 als ältester Text in Jes (47)48–55 in die Zeit der Wiedererrichtung des Zeiten Tempels fällt, befinden wir uns in der nachexilischen persischen Zeit. Wenn in Jes 50,6 davon die Rede ist, dass der Sprecher mit Schlägen und Beschimpfungen rechnen musste, scheint dieser Vers nach den Zion-Texten entstanden zu sein.
5. Schwerpunkte der Interpretation
Während der Kernbestand des dritten Gottesknechtsliedes die Bereitschaft des Gottesknechtes verkündet, so dass er dem Erschöpften ein Trostwort zusprechen kann, das sich dann in Jes 51,1.3f. oder Jes 51,9 findet, greift die Erweiterung auf, was es bedeutet, wenn man dafür „Schläge einstecken“ muss. Der Gottesknecht ist am Ende nicht der strahlende Prophet, auf dessen heilbringenden Worte hin alle sich freuen und fröhlich sind. Er ist vielmehr einer, der mit Gegengewehr, ja sogar mit Gewalt rechnet, aber trotzdem nicht an Gott verzweifelt, sondern auf ihn hofft.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Gott, die Mächte der Geschichte und eine Schülerhaltung
So schwer zugänglich die dramatischen Linien sind, die sich durch den zweiten Teil des Buches der Jesaja-Schüler ziehen, nachvollziehbar ist, was für eine Ermattung und Kompasslosigkeit in jenen Zeiten vorherrschend gewesen sein muss, in die hinein die Schüler sprechen. Die Vertrauensworte des dritten Gottesknechtsliedes lassen es mit der Haltung beginnen und enden, nicht zurück zu weichen (V.5). Allerdings wird die eigene Verletzlichkeit des Menschen in Schülerhaltung nicht ausgeblendet.
Die Schüler Jesajas halten daran fest, dass Gott historischen Gestalten wie den Perserkönig einsetzt. Dieser bleibt eine schillernde Projektionsfigur, so etwas wie ein „Werkzeug“ göttlichen Handelns, wirksam, aber begrenzt in seiner Rolle. Er wird wieder in den Nebel der Geschichte eintauchen, auch wenn er für einen kurzen historischen Rettungsmoment wichtig war. Ein geschichtsmächtiger Gott kann auch direkt wirken oder er lässt wirken. Das lyrische/ singende Ich des Liedes vom Gottesknecht in Jesaja 50,4ff. als Schülerstimme, wird das verinnerlicht haben. Statt mit weitgreifendem Auftrag und Versprechen aufzutreten, bleibt sie mehr in der aufnehmenden Haltung. Damit offeriert die Jesaja-Perikope einen Raum, in dem jede lesende Person sich selbst als lernend einfindet. Sie kann Anteil erhalten an der Leidenschaft des Schülers oder der Schüler. Was für eine Leidenschaft und Leidensbereitschaft, wo kaum noch Kraft und Perspektiven gewesen sein müssen, wo eine traumatisierende Geschichte der Zerstörung in der kollektiven Erinnerung allen Raum zu besetzen scheint, wo nach menschlich-irdischen Maßstäben kaum noch etwas übrig ist von dem Israel der königlichen Zeiten! Da wird ein Zuspruch laut, der Richtung gibt. So machtvoll er ist, wird er vor Rückschlägen und Schmerzen nicht schützen, vor keinem Schlag, keiner Beschämung. Die Erfahrungswelt des singenden Schüler-Ich oder Schüler-Wir, das sind doppelte Ohnmachtserfahrungen. Was bleibt dem Getroffenen da, als das eigene Gesicht „hart wie Kieselstein“ werden zu lassen: „Strategie“ des Selbstschutzes, ohne sich in eine willenlose Opferrolle zu fügen. Kein willenloses Hinnehmen in Furcht und Zittern. Das verletzliche Selbst muss sich bergen vor dem Zugriff derer, denen es nur darum geht, andere zu erniedrigen. Die Peiniger werden vergehen. In ihrer Sterblichkeit und Endlichkeit sind sie nichts als Mücken und Motten. Sprechend das Bild von den Motten, die auch vernichten, zerfressen und plagen können! Aber sie bekommen eine Grenze gesetzt. Wie kann ich mich mit einem solchen singenden Ich gedanklich verbinden? Vergeht einem nicht Hören und Sehen angesichts solcher fast übermenschlichen Ungebrochenheit? Welche theologische Sinngebung liegt in solcher Haltung?
2. Thematische Fokussierung
Krise, Kraft und Kompass
Tiefer hätte die Krise der Erschöpfung vor dem Wiederaufbau am Zion nicht sein können. Warum dort ausgerechnet wieder anfangen? Worin liegt der Sinn? Können nicht andere Orte zu behüteten Orten mit Perspektive für die nächsten Generationen werden? Ermattung als Zeitzeichen, auf die sich die Schüler Jesajas beziehen. In die kollektive Niedergeschlagenheit wird in so etwas wie eine politische Morgenzeit hineingesprochen. Es gibt nicht nur die eine schwere Zeit, sondern es ist immer wieder Zeit, an die Kraft anzuknüpfen, die in neuen Anfängen liegt.
Die heißen, millionenfach traumatisierenden Konflikte der Gegenwart sind anders als die Schmerzpunkte der Zeit der Jesaja-Schüler. Aber es verbindet sich von der Jesaja-Welt her etwas mit den wunden Punkten der Gegenwart: Das Gefühl, Sicherheiten verloren zu haben. Trägt da, was als Verbesserung, als Veränderung, als Zukunft benannt und beschworen wird? Warum ist das Bild dieser Zukunft scheinbar ohne jedes Funkeln? Warum sollte man dann die alten Muster und Routinen verlassen, wenn das Neue so gänzlich unbekannt und fern zu sein scheint? Wann wird es je wieder eine Gemeinschaft geben, deren tiefe Verwundungen vernarbt und deren Trauma verarbeitet ist? Die einen reden von großen Veränderungen, die nötig und bereits da sind, die anderen reden von kleinen Schritten. Vor diesem Hintergrund muss schon damals der Aufruf des Gottesknechtes etwas auch Überforderndes gehabt haben. Die Zeitzeichen des 21. Jahrhunderts, Dauernachrichten von Vertreibung, Flucht und Schutzlosigkeit, Gewalt und Terror, halten sich nicht auf Abstand. Angefochten ist die Grundüberzeugung, dass sich der Schutzanspruch jedes einzelnen Menschen, dass sich die fundamentalsten Menschenrechte, dass sich Gerechtigkeit und Rechtsräume durchsetzen werden.
Zurück zum Neuen - zu welchem Preis?
Lohnt es sich, wieder neu anzufangen? Lohnt es sich etwa, in ein Land zurück zu kehren, das in Trümmern liegt? Millionenfach fragen sich das Menschen, die Schutz suchend in Nachbarstaaten vor Krieg und Terror geflohen waren. Weit über 100 Millionen Fliehende sind Mahnzeichen unserer Zeit. Im andauernden Krieg eines russischen Machthabers gegen die Ukraine treibt neben vielen anderen auch dies um: Wie weit wird die Kraft reichen müssen, eines Tages auf den Schutt- und Aschebergen neu zu beginnen und zu wissen, es wird Generationen des Aufbaus brauchen, um zu versöhnen und zu heilen, was zerbrochen ist. Wer die Rückkehr für sich ausgeschlossen hat, trägt bleibend die Entwurzelung in sich. Wer in der Fremde bleibt und in ihr heimisch zu werden versucht, ringt unter Umständen auch mit Ablehnung. Zu den Zeitzeichen der Gegenwart gehören auch Ressentiment und Extremismus. Menschen wollen Kapital aus Furcht und Verunsicherung schlagen. Gemeinsinn und Pluralität sind gefährdet, denn gewalthaltige Stimmen erschrecken in ihrem Drohpotenzial. Die Antwort kann mit der Härte von Kieselsteinen nur sein, dass es immer noch mehr gemeinschaftliche Verständigung darüber braucht, wofür es sich lohnt, einzutreten und gemeinsam die Zumutungen zu tragen. Der Leipziger Soziologe Jonathan Beh spricht von einer „Krise der Imagination“. Die Kraft zu einer gemeinsamen Vision auf eine Zeit der Heilung und Versöhnung quillt nicht aus kieselharter Abgrenzung gegen die gewaltanmaßenden Kräfte der Gegenwart. Sie quillt aus dem Vertrauen, dass Gott nicht aufhört zu reden, wenn Menschen hinhören.
Gott braucht Menschen mit Morgen-Sinn
Wer hinhört erkennt, dass ein Vertrauen in eine zusprechende Gottesstimme nicht kleinzureden ist. Die Grenzen unserer Machbarkeit sind nicht die Grenzen der Kraft Gottes. Keine Menschenmacht ist grenzenlos. Sie unterscheidet sie sich in vielem nicht von der Kraft einer Motte. Es mögen sich immer wieder Menschen auf die Bühnen der Geschichte stellen und als Sieger inszenieren. Sie sind nach dem Maß der Schöpferkraft am Ende nicht wirkungsreicher als ein Insekt. Wer auf Gottes Wort vom Kommen einer Zeit der Heilung und des Hellwerdens für alle hört, der steht auf wie eine Schülerin am Morgen eines neuen Tages. Gott braucht Menschen mit Morgen-Sinn, um seine Zeitrechnung wirksam werden zu lassen. Die Stimmen, die diese Morgenkraft Gottes zugunsten seines erst- und bleibend geliebten Volkes Israel immer wieder in Abrede stellen, sind zwar da. Aber sie versuchen vergeblich, die Hoffnung auf eine neue Zeit in Frieden mit allen Völkern anzufressen wie Motten die besten Kleider.
Mit solcher Vertrauenskraft der Worte des Jesaja-Schülers in Kontakt zu kommen, kann auch heißen, sie einzuüben im Beten und Singen. Eine Hoffnungsübung, stärker und belastbarer als das Vertrauen in Prognosen. Es ist möglich, selbst in unscheinbaren und faden Momenten der Zeitgeschichte Gottes andere Zeitrechnung zu sehen, eine Zeit nämlich, in der nicht abgerechnet wird, sondern jenseits karger Eigenbilanzen Gott für die Zusage steht: Kein Schüler geht im erlittenen Unrecht unter.
3. Bezug zum Kirchenjahr
Gottes Kraft wird selbst zur Geschichte
Am Palmsonntag wird erinnert, dass die Sieger, die über Schutthaufen gehen, nicht Sieger bleiben. Der Blick richtet sich auf alle, die in die Fänge der Mächtigen geraten sind, dem Rad in die Speichen fallen, indem sie die Wahrheit gegen die Maschinerie von Menschenverachtung offenlegen. Der Raum für diese Erinnerung ist mit der Erinnerung an Jesu Einzug in Jerusalem gegeben. Ein Mann nach den Maßstäben dieser Welt mit fast nichts ausgestattet. Aber er hat Worte, Haltung und Sendung in Gemeinschaft mitwandernder Schüler, ein bewusst wehrloser Mensch, eingebunden in das jüdische Gemeinschaftsgedächtnis mit einer Sehnsucht nach Gottes Frieden, begibt sich ins Zentrum der imperial entfesselten Mächte. Das an sich ist schon erschöpfend für alle, die widerstehen. Aber es sollte keine Zeit der Resignation bleiben. Die Evangelien provozieren in prophetischer Tradition, indem sie Jesu Machtverzicht inszenieren. Es ist die paradoxe Provokation eines Menschen, der eine Königsherrschaft ansagt, ohne den Machtmaßstäben seiner Zeit zu entsprechen, ohne sich an die Spielregeln der Gewalthaber zu halten. Jesu inszenierte Ansage wird zum Politikum. Es werden Folter und tödliche Tortur folgen. Zugleich stehen wir damit am Eingangstor in die Woche, die Jesu Hingabe, Widerspruch und Leidensweg nachvollzieht. So leuchtet mit Jesaja der Erinnerungsraum auf, aus dem die Kraft zur Provokation gegen die Mächte dieser Welt herreicht. Der Palmsonntag öffnet die Tür von der Erschöpfung zur Vertrauenskraft. Müde werden wach und stehen auf, sogar noch im qualvollen Sterben unter Gewalt. Wie wir die Botschaft am Anfang einer Woche der Hingabe und des Gedächtnisses hören, das ist eine Frage des Vertrauens. Hörtraining ist Vertrauenseinübung. Eins bleibt aufs andere bezogen. Berührt von der Morgenkraft eines neuen Tages lässt sich mit Jochen Klepper daran erinnern: Gott „spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf. Da schweigen Angst und Klage; nichts gilt mehr als sein Ruf! Das Wort der ewigen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs neue so wie ein Jünger hört.“ (EG 452,2)
Autoren
- Dr. Alexander Weidner (Einführung und Exegese)
- Dr. Christina-Maria Bammel (Praktisch-theologische Resonanzen)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500106
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