Deutsche Bibelgesellschaft

Prophetische Kult- und Sozialkritik

Beginn

Mit dem Propheten Amos tritt erstmals historisch sicher greifbar um 750 v. Chr. ein Prophet auf, dessen Botschaft ganz überwiegend von Kritik an den bestehenden sozialen und kultischen Zuständen gekennzeichnet ist. Diese Kritik wird zur Begründung des kommenden Gerichts Gottes verwendet, das oft als „Tag JHWHs“ bezeichnet wird. Mit diesem Tag JHWHs hatten die Israeliten offenkundig eine Wende zum Heil erwartet. Seit Amos wird diese Vorstellung aber umgeprägt und als Gerichtstag verstanden, vgl. Am 5,18: „Wehe euch, die ihr den Tag JHWHs herbeisehnt. Was soll euch denn der Tag JHWHs? Er ist Finsternis und nicht Licht!“ (Hier in einem Weheruf, der das „Wehe“ [הוֹי, hôj] der Totenklage aufnimmt. Die Angesprochenen werden so als bereits der Todessphäre zugehörig bezeichnet.)

Die Unheilsprophezeiungen der Propheten gehen alle davon aus, dass Israel/Juda in einer besonderen Stellung vor Gott steht. Aus dieser Beziehung hat ein bestimmtes Verhalten Israels zu resultieren, vgl. Am 3,2: „Euch allein habe ich erwählt von allen Geschlechtern der Erde, darum suche ich an euch heim all eure Schuld“. Implizit ist damit der Erwählungs- und Bundesgedanke angesprochen, auch wenn er im 8. Jahrhundert noch nicht voll ausformuliert gewesen sein mag (vgl. das Thema-Kapitel „Bund“).

Gründe

Die Frage, weshalb eine so massive Kritik (besonders bei Amos, Hosea, Micha und Jesaja) gerade zu dieser Zeit aufbricht, ist nicht geklärt. Jesaja und Amos waren offensichtlich vermögende und hochgebildete Menschen, die nicht als direkt von Armut Betroffene für die Armen Partei ergriffen haben. Unter dem Eindruck der kanonischen Ordnung der biblischen Bücher hatte man früher angenommen, dass die Propheten die israelitische Gesellschaft am Maßstab der am Sinai offenbarten Gesetze messen und daher verdammen. Mit der Erkenntnis, dass die Gesetzeskorpora erst relativ späte Bildungen sind, schwenkte die Forschung seit Julius Wellhausen um und sah die Propheten als die wahren Träger der reinen israelitischen Religion an. Dieser sei dann durch das später, im Exil, gebildete Gesetz die „Physiognomie verdorben“ worden (so Wellhausen). Mit der Kanonisierung des Gesetzes sei die prophetische Religion gestorben, das Judentum habe begonnen. [Erst das Christentum habe an das Wesen der wahren israelitischen Religion angeknüpft.]

Rechtsnormen

Richtig ist an dieser Sichtweise, dass die vorexilischen Propheten keinen ausdrücklichen Bezug auf Gesetzesvorschriften erkennen lassen. Die oft angeführten Belege Hos 4,2 und Jer 7,9 sind ganz vereinzelte Stimmen. Doch den Propheten schwebte sicher ein bestimmtes Gesellschaftsideal vor, an dem sie ihre Gegenwart maßen, auch wenn dieses Ideal nicht in Rechtssätzen kodifiziert war. Hintergrund sind möglicherweise die sogenannten Tempeleinlassliturgien, wie sie etwa in Ps 15; 24 erhalten sind. Ps 15,1: „Wer darf Gast sein in deinem Zelte, wer darf weilen auf deinem heiligen Berge? (Antwort:) Der unsträflich wandelt und Gerechtigkeit (צֶדֶק, sâdâq) übt.“

Die Teilnahme am Kult ist demnach nur möglich, wenn der Einzelne auch sittlich richtig (gemeinschaftstreu) gehandelt hat, denn nur dann ist er auch kultisch rein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das Tun von „Recht und Gerechtigkeit“, hebräisch מִשְׁפָט und צְדָקָה (mišpat und sedaqa). Offenkundig haben nun die Propheten diesen „Zusammenhang von Tun und Ergehen“ in der Weise auf ihre Gesellschaft gedeutet, dass das Volk durch das soziale Unrecht und das Luxusleben als Ganzes unrein geworden ist.

Gottesverhältnis

Ein wichtiger Hinweis für die Richtigkeit dieser Überlegung ist das gehäufte Auftauchen der Begriffe מִשְׁפָט und צְדָקָה (mišpat und sedaqa) in den prophetischen Büchern dieser Epoche; normalerweise werden sie im Deutschen mit „Recht und Gerechtigkeit“ wiedergegeben. Schlüsseltext für die entsprechende Verwendung ist das Weinberglied aus Jes 5, wo es am Ende in V.7 heißt: „Er hoffte auf Gut-Regiment (צְדָקָה)/doch siehe da: Blutregiment. Auf Gemeinschaftstreu (מִשְׁפָט)/doch siehe da: Hilfeschrei (K. Koch, Die Profeten I, 207). Letztlich geht es demnach darum, dass wegen der Frevel der Menschen kein wahrer Kult mehr möglich ist, Gott sich zurückzieht und das Volk dem Gericht überlässt (Vgl. dazu auch das Thema-Kapitel „Menschenbild“).

Sozialkritik und Kultkritik sind daher zwei Seiten einer Sache. Der rechte Verkehr mit der Gottheit ist gestört, sei es durch das soziale Unrecht oder durch sinnentleerten Kult, mit dem kein entsprechendes Handeln verbunden ist. Bei Hosea kommt noch hinzu, dass im Nordreich ein Kult begangen wird, der JHWH mit Riten feiert, die offenkundig aus dem kanaanäischen Umfeld übernommen worden sind. JHWH scheint so zu einem Ba'al zu werden, austauschbar mit den Göttern der Umwelt. Dagegen muss Hosea JHWH als den zu Gehör bringen, der Israel in der Wüste erwählt und der es in sein Land geführt hat.

Einzelne Propheten

Die einzelnen Propheten haben ihre Kritik in charakteristischer Weise pointiert. Während sich bei Hosea vor allem Kultkritik findet, bei Amos und Micha überwiegend Sozialkritik, hat Jesaja beides miteinander verbunden. Wahrscheinlich haben die einzelnen Propheten das angeprangert, was ihnen persönlich als besonders schändlich erschienen ist; sie hatten insofern einen individuellen Zugang zur Angelegenheit. Deutlich ist in jedem Fall, dass es in dieser Zeit zu einer Erschütterung der Staatswesen kam, bedingt auch durch die Kriege mit den Aramäern und die Bruderkriege zwischen Israel und Juda. Zugleich entwickelte sich auch eine Latifundienwirtschaft (Großgrundbesitz) derer, die an den Kriegen verdient hatten. So drohte die Solidarität der Gesellschaft zu zerbrechen, worauf die Propheten reagiert haben.

Umkehr?

Den frühen Propheten der assyrischen Zeit ist gemeinsam, dass sie das Kommen des Unheils als unabänderlich ansehen. Zwar kann man danach auf so etwas wie einen neuen Bund oder eine messianische Heilszeit mit einem gerechten Herrscher hoffen, doch primäres Ziel ist die Ansage des Gerichts. In der Forschung ist umstritten, inwieweit die einzelnen Propheten bei diesen Weissagungen das Volk noch zur Umkehr aufrufen wollten, oder ob sie keine Hoffnung mehr hatten. Die Aufforderung zur Umkehr findet sich sicher bei den etwas späteren Propheten, vgl. etwa Ezechiels Wächteramt (Ez 3) oder Ez 18.

Sowohl der Untergang des Nordreiches 722 wie auch der Fall Jerusalems 587/6 haben die prophetischen Gerichtsansagen nachträglich bestätigt und damit die entsprechende Geschichtsinterpretation als richtig und angemessen erkennen lassen. Damit wurde die Unheilsprophetie zum Schlüssel für die theologische Bewältigung der Katastrophe des Exils. Gleichzeitig versuchte man dann, für das Zusammenleben nach dem Ende der Verbannung einen Regelkanon für ein gottgefälliges Leben aufzubauen. Dass auch diese Bemühungen nicht immer erfolgreich waren, zeigt das Wiederaufflammen der Sozialkritik bei Tritojesaja, der seine Umwelt erneut zu gemeinschaftstreuem Verhalten aufrufen musste, wieder gegen sinnentleerten Gottesdienst, vgl. Jes 58.

Literatur

K. Koch, Die Profeten I. Assyrische Zeit, 3. Aufl. 1995; II. Babylonisch-persische Zeit, 2. Aufl. 1988.

R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. ATD Erg. 8/1+2, 2. Aufl. 1996/1997.

R.G. Kratz, Die Propheten Israels, 2003.

Deutsche Bibelgesellschaftv.4.23.1
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