„Bibel persönlich“ von Matthias Jendrek aus: Bibelreport 3/2017
Mose streckte seine Hand aus über das Meer.
Da trieb der HERR das Meer die ganze Nacht
durch einen Ostwind zurück.
Er machte das Meer zum trockenen Land,
und das Wasser teilte sich.
So konnten die Israeliten auf trockenem Boden
mitten durch das Meer ziehen.
Das Wasser stand rechts und links von ihnen
wie eine Mauer.
(2. Mose/Exodus 14,21-22, BasisBibel)
Ich sehe mich zurückversetzt in meine Zeit als Messdiener. Schon seit einer Weile arbeitete ich auch als Lektor in meiner Heimatgemeinde mit. Ich bekam zwar immer wieder die Rückmeldung, dass ich gut lesen würde – so recht glauben wollte ich das aber nicht. Ich war daher ziemlich überrascht, als der Pfarrer mir eine der Lesungen für die Osternacht auftragen wollte. Ich hielt und halte die Schriftlesungen für einen sehr wichtigen Teil des Gottesdienstes, und ich zögerte zuerst – und freute mich dann auf die Aufgabe. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, dass ich gerade diesen Text lesen sollte. Jedenfalls fand ich mich in jener Osternacht hinter dem Ambo wieder, vor mir aufgeschlagen das Buch mit der Geschichte vom „Auszug aus Ägypten“.
Ich las. Und ich verlor mich in dem Text. Ich hörte den Donner der Blitze aus der Wolkensäule. Ich konnte sie sehen, die Mauern aus Wasser, die rechts und links der Israeliten standen. Den Monumentalfilm »Die Zehn Gebote« mit Charlton Heston, Yul Brynner und Anne Baxter habe ich erst viel später gesehen, aber die Bilderwelt des Films unterscheidet sich nicht sehr von den Bildern damals in meinem Kopf.
In den folgenden Jahren hatte ich immer wieder diesen Text zu lesen, und ich las ihn gern. Aber irgendwann musste ich meinen Abschied vom Lektorendienst und meiner Heimatgemeinde nehmen. Die Organistin, die zufällig in der Sakristei stand, als ich mich mit dem Pfarrer darüber unterhielt, sagte einen Satz, den ich wohl nie vergessen werde: „Oh nein! Dann lesen Sie ja gar nicht in der Osternacht! Ich freue mich immer so darauf, wenn Sie den `Auszug` lesen.“ Das war der Moment, der mich endgültig mit diesem Text verband.
Dann kam das Theologiestudium, und die schöne Welt zerfiel. Ich musste erfahren, dass Mose wohl nicht, die Haare wie Charlton Heston zur Betonfrisur getürmt, mit wehendem Mantel, halb über eine steile Klippe gelehnt, das Meer spaltete. Ich musste lernen, dass man gar nicht einmal so genau weiß, wo dieses »rote Meer« eigentlich sein soll. Am Ende der Vorlesungen zur Auslegung dieses Textes blieb mir von den monumentalen Bildern nichts übrig. Hätte man mich nach diesem Semester nach dem Schwerpunkt meines Studiums gefragt, ich hätte bestimmt nicht das Alte Testament genannt.
Ich irrte mich. Es ließ mich nicht mehr los, dass »die Exegese« »meinen« schönen Bibeltext so zerpflückt hatte. Ich kannte den »Auszug aus Ägypten« nun aus dem Gottesdienst, und ich hatte ihn mit »historisch-kritischer Methode« auseinandergenommen. Jetzt wollte ich wissen, ob es nicht noch andere Möglichkeiten gibt, sich dem Text zu nähern. Und wie das Leben so spielt, erhielt unser Dozent für Altes Testament eine Professur an einer anderen Universität, und wir bekamen einen neuen Hochschullehrer in diesem Fach. Mit dem Text aus dem zweiten Buch Mose habe ich mich im Studium zwar nicht wieder befasst, aber ich lernte tatsächlich andere Methoden und neue Texte kennen. Die Bindung an und die Freundschaft zum Alten Testament wuchsen. Sie wurden so groß, dass ich mit einigen Umwegen meinen Beruf daraus gemacht habe. Derzeit übersetze ich für die BasisBibel das Buch Numeri.
Den »Auszug aus Ägypten« hatte ich also ein wenig aus den Augen verloren. Aber an meinem neuen Arbeitsplatz bei der Deutschen Bibelgesellschaft fand ich ein kleines Büchlein vor, die »BasisBibel Auslese«. Ich bin ein ziemlich neugieriger Mensch, darum habe ich sofort angefangen, darin zu blättern. Der »Auszug aus Ägypten« ist darin abgedruckt, und: Ich las. Ich sah sie wieder, die Bilder von Mose, Aaron, Mirjam und all den anderen. Vielleicht nicht mehr ganz so monumental wie in jener Osternacht, aber wieder bunt und lebendig. Ich habe ihn wieder, »meinen« Auszug. Und ich weiß wieder, warum ich diese Arbeit mache. Ich denke immer noch daran zurück, dass unsere Organistin damals die Begeisterung für diesen Text mit mir teilte.
Über den Autor
Matthias Jendrek, geboren 1983 in Ludwigshafen am Rhein, studierte katholische Theologie in Mainz und Glasgow. Nach Stationen als Redaktionsvolontär beim »Katholischen Sonntagsblatt« für die Diözese Rottenburg-Stuttgart und als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bochum und Paderborn wurde er 2016 wiederum in Mainz zum Doktor der Theologie promoviert. Sein Fachgebiet ist das Alte Testament. Seit Mai 2017 arbeitet er bei der Deutschen Bibelgesellschaft als Übersetzer und Redakteur im Projekt BasisBibel mit. Derzeit übersetzt er das 4. Buch Mose/Numeri.