2. Daniels zweites Gesicht: vom Widder und Ziegenbock, vom großen und kleinen Horn sowie von dem Religionsfrevel des letzten Griechenkönigs
a) Schauplatz des Traumgesichts; Kampf des ungleich gehörnten (persischen) Widders und des einhörnigen (griechischen) Ziegenbocks; Sieg und Erstarken des letzteren; plötzliches Abbrechen seines Horns, an dessen Stelle vier Hörner treten
1Im dritten Regierungsjahre des Königs Belsazar erschien mir, Daniel, ein Gesicht nach jenem, das mir als erstes (= schon früher) erschienen war. 2Als ich das Gesicht hatte, war es mir beim Anschauen, als ob ich mich in der Burg (= Residenz) Susa, die in der Landschaft Elam liegt, befände; und ich sah mich in diesem Gesicht am Fluß Ulai. 3Als ich nun meine Augen aufschlug und Umschau hielt, sah ich da einen Widder, der vor dem Fluß (= am Ufer des Flusses) stand und zwei Hörner hatte; beide Hörner waren hoch, aber das eine war höher als das andere, und das höhere war zuletzt emporgewachsen. 4Ich sah nun, wie der Widder nach Westen und nach Norden und nach Süden stieß, und kein einziges Tier konnte ihm widerstehen und niemand vermochte aus seiner Gewalt zu erretten, und er tat, was ihm beliebte, und wurde immer stärker.
5Während ich ihn noch aufmerksam betrachtete, sah ich einen Ziegenbock von Westen her über die ganze Erde weg kommen, ohne daß er den Boden (mit den Füßen) berührte, und der Bock hatte ein ansehnliches Horn zwischen seinen Augen (= auf der Stirn). 6Als er nun bis zu dem Widder mit den zwei Hörnern, den ich vor dem Fluß hatte stehen sehen, gekommen war, rannte er wütend mit aller Kraft auf ihn los. 7Ich sah dann, wie er nahe an den Widder herankam und sich erbittert auf ihn stürzte und den Widder stieß und ihm seine beiden Hörner zerbrach; und da der Widder nicht stark genug war, ihm zu widerstehen, schleuderte er ihn zu Boden und zertrat ihn, und niemand war da, der den Widder aus seiner Gewalt gerettet hätte. 8Hierauf wurde der Ziegenbock überaus groß, als er aber am stärksten war, brach das große Horn ab, und vier andere ansehnliche Hörner wuchsen an seiner Stelle hervor nach den vier Himmelsgegenden hin.
b) Übermut und Religionsfrevel des an einem der vier Hörner des Bocks gewachsenen kleinen Horns
9Aus einem von ihnen aber kam ein anderes kleines Horn zum Vorschein, das dann über die Maßen groß wurde gegen Süden und gegen Osten und gegen das Prachtland der Erde. 10Ja, es wuchs bis zum Heer des Himmels empor und warf einige von dem Heere und von den Sternen auf die Erde hinab und zertrat sie. 11Sogar bis zu dem Fürsten des Heeres erhob es sich mit seiner Überhebung, so daß diesem das tägliche Opfer entzogen und die Stätte seines Heiligtums entehrt wurde; 12und auf das tägliche Opfer wurde das Frevelopfer gelegt, und (das Horn) warf die Wahrheit zu Boden, und was es unternahm, das gelang ihm.
c) Offenbarung des Engelboten, daß das religionsschänderische Treiben des kleinen Horns 1150 Tage dauern werde
13Da hörte ich einen Heiligen (= Engel) reden; es fragte nämlich ein Heiliger den betreffenden, der da redete: »Bis wann geht (oder: wie lange gilt) das Gesicht, daß das tägliche Opfer aufgehoben und der verwüstende Frevel aufgestellt und das Heiligtum zur Zertretung dahingegeben ist?« 14Da antwortete er ihm: »Bis zu zweitausenddreihundert Abend-Morgen, dann wird das Heiligtum gerechtfertigt werden (= wieder zu seinem Recht kommen).«
d) Gabriel, der Erzengel in Menschengestalt, deutet dem Daniel das Gesicht und kündigt das frevelhafte Treiben des letzten Griechenkönigs (Antiochus Epiphanes) an
15Als nun ich, Daniel, das Gesicht sah (oder: gesehen hatte) und es zu verstehen suchte, sah ich plötzlich Einen mir gegenüber stehen, der wie ein Mann aussah. 16Dann hörte ich eine Menschenstimme über dem Ulai laut rufen: »Gabriel, erkläre diesem da das Gesicht (oder: die Erscheinung)!« 17Da kam er auf den Ort zu, wo ich stand; und als ich bei seiner Annäherung erschrak und mich auf mein Angesicht niederwarf, sagte er zu mir: »Gib acht, Menschenkind! Denn das Gesicht bezieht sich auf die Endzeit.« 18Als er aber so zu mir redete, wurde ich ohnmächtig und sank auf mein Angesicht zur Erde nieder; doch er faßte mich an und brachte mich wieder zu aufrechtem Stehen auf meinem Platze. 19Dann sagte er: »Wisse wohl: ich will dir kundtun, was in der letzten Zeit des Zorns geschehen wird; denn das Gesicht bezieht sich auf die (von Gott) festgesetzte Endzeit. 20Der zweihörnige Widder, den du gesehen hast, bedeutet (oder: das sind) die Könige von Medien und Persien; 21der [zottige] Bock aber ist der König von Griechenland; und das große Horn, das sich auf seiner Stirn befindet, ist der erste König. 22Daß dann, als es abbrach, vier andere Hörner an seiner Stelle hervorkamen (bedeutet): vier Reiche werden aus seinem Volk hervorgehen, aber ohne die Macht, wie jener sie besaß. 23In der letzten Zeit ihrer Herrschaft aber, wenn die Frevler (= Götzendiener) das Maß ihrer Sünden voll machen, wird ein König auftreten frechen Angesichts und ein Meister in Ränken. 24Seine Macht wird gewaltig sein, aber nicht durch seine eigene Macht; er wird außerordentliches Unheil anrichten, und seine Unternehmungen werden Erfolg haben; er wird Mächtige und auch das Volk der Heiligen ins Verderben stürzen. 25Infolge seiner Klugheit wird ihm der Trug, mit dem er umgeht, gelingen, und er wird hochmütigen Sinnes werden und viele unversehens zugrunde richten; dann aber, wenn er sich gegen (oder: über?) den Fürsten der Fürsten (d. h. gegen Gott) erhoben hat, wird er zerschmettert werden ohne Zutun von Menschenhand. 26Und das Gesicht von den Abend-Morgen, das dir mitgeteilt worden ist (V. 14), das ist zuverlässig; du aber verwahre das Gesicht unter Siegel (= geheim), denn es bezieht sich auf eine ferne (= späte) Zeit.«
e) Daniels Bestürzung und Erkrankung infolge des Gesichts
27Hierauf war ich, Daniel, ganz erschöpft und lag einige Tage krank; dann stand ich zwar wieder auf und versah meinen Dienst beim König, befand mich aber wegen des Gesichts in entsetzlicher Aufregung; da ich es mir nicht erklären konnte.